9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2019. Der Mord an dem Kasseler Politiker Walter Lübcke wirft neues Licht auf den Rechtsterrorismus in Deutschland. Immer noch gibt es hier eine Asymmetrie der Wahrnehmung, konstatiert die taz. Die SZ thematisiert die Unterwanderung einiger Polizeibehörden durch Rechtsextreme. Dlf Kultur erzählt eine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. Und t-online.de fragt, warum der hessische Verfassungsschutz eine Akte für 120 Jahre sperrt. Außerdem: Alle Feuilletons gratulieren Jürgen Habermas zum Neunzigsten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.06.2019 finden Sie hier

Europa

Schwerpunkt rechtsextremer Terrorismus

Noch immer gibt es eine Asymmetrie der Wahrnehmung bei rechtsextremer Gewalt, schreibt Konrad Litschkos in der taz mit Bick auf den Fall Lübcke: "Immer wieder wird auch bei schwerster rechtsextremer Gewalt gezögert, das Wort Terrorismus in den Mund zu nehmen - wo es an anderer Stelle schnell herangezogen wird. Dabei haben Rechtsextreme nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie ihren Worten auch Taten folgen lassen. Auf Asylunterkünfte flogen Brandsätze, der NSU mordete zehnfach, und militante Neonazis, etwa von Combat 18, trafen sich zu Schießtrainings."

In der SZ findet es Annette Ramelsberger schwer verständlich, dass nach den NSU-Morden Ermittler immer noch glauben - wie auch im Mordfall Lübcke - es gebe keine rechtsextremen Mörder in Deutschland: "Jetzt hat die Polizei einen rechtsextremen Verdächtigen festgenommen - einen von 12.700 gewaltbereiten Rechtsextremisten im Land", nachdem man wochenlang abgewiegelt hat. Ramelsberger sieht eine braune RAF im Kommen, die sogar teilweise auf staatliche Unterstützung setzen kann: "In Hessen, wo Walter Lübcke erschossen wurde, laufen allein 38 Ermittlungsverfahren gegen Polizisten wegen rechtsextremistischer Umtriebe. Noch immer ist nicht geklärt, wer der Frankfurter Anwältin Seda Basay-Yildiz angedroht hat, ihre kleine Tochter zu ermorden - die Daten der Familie wurden aus dem Dienstcomputer einer Frankfurter Polizeiwache abgerufen, der Drohbrief war mit 'NSU 2.0' unterzeichnet. Die verdächtigen Beamten schweigen. Und in Sachsen machen Polizisten mit dem Namen der NSU-Terroristen Witze - als hätten die nicht die Polizistin Michèle Kiesewetter getötet. Es muss die vielen aufrechten Ermittler zutiefst beunruhigen, was sich da tut."

Im Tagesspiegel meint Alexander Fröhlich: "Das Entsetzen über die Möglichkeit, in Deutschland gebe es nach wie vor ein rechtsterroristisches Netzwerk, wirkt seltsam verhalten. Als habe ein Gewöhnen eingesetzt - nicht nur an einst Unsagbares. Dieses aber ist die größte Gefahr nach dem NSU: die Gewalt und den Terror von rechts zu unterschätzen. Wenn er sich gegen Repräsentanten des Staates richtet, will er den demokratischen Rechtsstaat selbst treffen."

Philipp Schnee erzählt in Dlf Kultur eine Geschichte des unterbelichteten Rechtsterrorismus in Deutschland und bezieht  sich auf den Experten Daniel Köhler, der eine Datenbank zum Thema aufgebaut hat. Seit 1971 zählt er als "vereitelte oder erfolgreiche Taten" auf: "12 Entführungen, 174 bewaffnete Überfälle, 123 Sprengstoffanschläge, 2.173 Brandanschläge, 229 Morde mit rechtsextremen Motiven. Seit 1963 hat Köhler 92 rechtsterroristische Gruppen und Einzelpersonen identifiziert."

Der hessische Verfassungsschutz versieht unterdessen eine Akte, in dem es um NSU-Ermittlungen geht, mit einer Sperrfrist von 120 Jahren, berichtet Lars Wienand bei t-online.de: Es gehe da um "Dinge, die Rückschlüsse über die Arbeitsweise zulassen, wie wo wann V-Leute angeworben wurden. Sie seien zu sperren für die gesamte Lebensdauer der handelnden Personen und der nachfolgenden Generation. Der Rechtsanwalt Alexander Kienzle, der die Familie Yozgat vertritt, sah darin nach Bekanntwerden etwas anderes - eine Botschaft des Verfassungsschutzes: 'Hier ist jetzt Ruhe, hier geht gar nichts mehr.' Die Familie erwägt, gegen Verantwortliche Strafanzeige zu erstatten, weil der Verfassungsschutz Straftaten nicht vereitelt habe, berichtet die Welt."

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Alexander Fanta porträtiert für Netzpolitik die dänische EU-Politikerin Margrethe Vestager, die Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker werden will und dabei die Unterstützung etwa von Emmanuel Macron hat. Einen Ruf erwarb sie sich als Wettbewerbskommissarin im Kampf gegen Monopolisierungstendenzen bei den großen Internetkonzernen. Sie brachte auch einen Bericht "Wettbewerbspolitik für die digitale Ära" heraus, der die Leitlinien ihres Handelsn deutlich macht: "Der Bericht macht Vorschläge, wie die Marktmacht der großen Digitalkonzerne eingeschränkt werden kann. Dominante Firmen könnten etwa gezwungen werden, ihre Daten zu teilen oder ihre Dienste interoperabel mit denen fremder Anbieter zu machen. Die Vorschläge stünden in Kontrast zu den weitreichenden Ideen der US-Präsidentschaftsbewerberin Elisabeth Warren, die sich für eine Zerschlagung der Tech-Konzerne ausspricht, urteilten Wettbewerbsjuristen der Anwaltskanzlei Skadden in einer Analyse. Vestager betont im Gegensatz zu Warren, die Entflechtung etwa von Facebook und WhatsApp sei nur der letzte Ausweg."
Archiv: Europa

Ideen

Im Interview mit Zeit online ist der britische Publizist und linke Theoretiker Paul Mason stolz darauf, ein einzigartiges, freies, vergängliches und vernetztes Schneeflöckchen zu sein - mit einer Vision für eine Gesellschaft nach dem Neoliberalismus: "Ich rede oft auf Investorenkonferenzen über meine Vision: eine Gesellschaft, in der Maschinen den Großteil der Arbeit erledigen und Innovationen schaffen. Wir müssen uns vom marktbezogenen Denken verabschieden und uns auf das Menschliche und die Umwelt konzentrieren." Mit Kommunismus habe das nichts zu tun, denn: "Das postkapitalistische System muss sich spontan selbst reproduzieren können. Diese Funktion erfüllt heute der Markt. Eine Planwirtschaft kann das nicht leisten. Ich glaube, eine freie, spontane und gemeinschaftliche Produktion, eine Art Open-Source-Ökonomie, kann das. Ich bin der festen Überzeugung, nachhaltiger Fortschritt ist nur auf Basis von Freiheit und Demokratie möglich."

In der NZZ ermuntert Hans Ulrich Gumbrecht dazu, die späten Schriften des Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler wiederzuentdecken, dessen These zur Entstehung unserer Schriftkultur in der Antike er höchst aktuell findet: "Die Parallelsetzung zwischen Antike und Gegenwart erhellt, wie wir uns im Gebrauch der elektronischen Technik bisher eigentlich allein auf den Pol von Mathematik und Logik konzentriert haben, das heißt auf die Optimierung unseres vernunftzentrierten Verhältnisses zur materiellen Umwelt. So haben Computer unsere Fähigkeit exponentiell verbessert, das Wetter vorherzusagen und uns gegen Wetterkatastrophen zu schützen. Doch so wie Zeus neben dem Blitzeschleuderer auch 'der ungeheure Himmelsglanz' war, haben elektronische Apparaturen das Potenzial, auch unser sinnliches Verhältnis zur materiellen Umwelt zu verändern, jenes Verhältnis, das angesichts der mittlerweile selbstverständlichen Dauerfusion von Software und Bewusstsein gleichsam ausgezehrt ist und zu verschwinden droht."

Der Soziologe Armin Pfahl-Traughber wendet sich bei hpd.de gegen die grassierende Verwendung des Begriffs "antimuslimischer Rassismus". Der Begriff des Rassismus werde verwässert, weil er hier auf ein kulturelles Phänomen angewendet werde. Und der Kultur werde dabei sowohl von Linken wie von Rechten ein überhöhter Stellenwert gegeben: "Beide sprechen von einem Eigenwert, den jede Kultur als Kultur habe. Dagegen soll hier kein Einwand erhoben werden, gegen den damit verbundenen Kulturrelativismus indessen schon. Denn durch diese Grundeinstellung nehmen Menschenrechte nur noch einen niedrigeren Rang ein. Gegenüber der Identität in der Kultur sollen sie hinten anstehen, was auf eine Immunisierung vor Kritik von einschlägigen Verletzungen hinausläuft."

Das SZ-Feuilleton feiert heute auf zwei Seiten den Geburtstag von Jürgen Habermas: Johan Schloemann (hier) und Jens Bisky gratulieren. In der FAZ sekundiert Kollege Jürgen Kaube. Im Kursbuch schreibt Armin Nassehi. In der NZZ macht Angelika Brauer fünf Versuche, mit Habermas zu kommunizieren. In der Welt verbeugt sich Andreas Rosenfelder: "Dass es Jürgen Habermas seit inzwischen 57 Jahren gelingt, als intellektueller Influencer eine Öffentlichkeit zu bespielen, die immer schon (fast) verfallen, verraten und verschwunden ist: Das ist ein Kunststück, das jedem Mut machen muss, der gegen alle Apokalyptik an die Zukunft des Lesens, Schreibens, Redens und vor allem des Denkens glaubt - und also auch daran, dass auch zum hundertsten Geburtstag des Denkers die Feuilletons nur so glühen werden."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

In der Welt überlegt Cigdem Toprak, warum es für Einwanderer oft so schwer ist, in Deutschland anzukommen. Einer der Gründe ist ihrer Meinung nach das fehlende Freiheitsgefühl der Einwanderer: Es "fehlt oft allen, die aus Ländern stammen, in denen das Kollektiv einen höheren Stellenwert hat als das Individuum. In denen die Interessen der Gruppe, sei es der Stamm, die Religionsgemeinschaft oder die Familie, über den Interessen des Einzelnen stehen. Wen man heiraten, welchen Beruf man ausüben, wo man leben möchte, darf nicht individuell beantwortet werden, sondern wird durch andere bestimmt - ob durch Tradition, Kultur oder Religion. Und diese Denkweise wird nach Deutschland importiert, hier weitergelebt, an die nächsten Generationen weitergegeben. Es ist die Freiheit, die uns allen fehlt."
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Stichwörter: Freiheit, Einwanderer

Kulturmarkt

Der Börsenverein reicht gegen die Deutsche Post wegen der Erhöhung der Preise für die Büchersendungen beim Bundeskartellamt Beschwerde ein, meldet der Buchreport: "Diese 'enorme Portoerhöhung und Quasi-Abschaffung der Büchersendung' sei nur für Konzerne zu stemmen, die gemischte Waren versenden oder über andere Möglichkeiten der Kostenumlagerung verfügen, kritisiert der Verband und fügt mit Verweis auf entsprechende Medienberichte an, dass die Post zudem Buchhandlungen und Verlage diskriminiere, indem sie Großkunden wie Amazon deutlich bessere Konditionen beim Versand von Büchern einräume."
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