9punkt - Die Debattenrundschau

Sie waren jung und sahen eben nicht so aus

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.06.2019. Auf ZeitOnline denkt Georg Seeßlen über den politischen Mord nach, der stets auf die Selbstzerstörung einer Gesellschaft ziele. In der FAZ meint der Historiker Hanno Loewy, jüdische Geschichte sei eine Geschichte der Beziehungen, nicht der Denkverbote. Die NZZ erklärt Diversity-Management als betriebswirtschaftliche Strategie der Profitsicherung. Nicht nur im Sudan, auch in Myanmar wurde den Menschen das Internet gekappt, berichten SZ und taz. Libération blickt auf die seit einem Monat anhaltenden Proteste in Honduras.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.06.2019 finden Sie hier

Ideen

Nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke denkt Georg Seeßlen in einem Essay auf ZeitOnline über den politischen Mord nach, der stets ins Herz einer poltischen Kultur treffe: Beim politischen Mord, auch bei der neuen Form des faschistischen Terrorismus, gehe es es immer darum, die Selbstzerstörungsmechanismen einer Gesellschaft in Gang zu setzen, glaubt Seeßlen. Und: Eine Frage allerdings bleibt unbeantwortbar: "Ist es ein Mörder, der sich eine politische Ideologie sucht - oder ist es eine politische Ideologie, die einen Mörder findet? Mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls wird niemand als ein politischer Mörder geboren. Zum politischen Mörder wird man gemacht. Der politische Mord trägt seine Begründung wie seine eigene Absolution in sich. Daher kann die Allgemeinheit, mit welchen Affekten sie auch reagieren mag auf die Tat, weder mit Einsicht noch Reue beim Täter oder den Tätern rechnen, wohl aber mit einer dramatischen Aussicht: Die Verhandlung des politischen Mordes später vor Gericht wird in aller Regel noch einmal zur Bühne für die Mörder und ihre Unterstützer."

In der NZZ hat Florian Coulmas die Nase voll vom Diversity-Kult an Universitäten, der vor allem zur Diskriminierung von Studierenden beitrage. Der Begriff entstamme der Betriebswirtschaftslehre, erklärt er: "Diversity Management bedeutet, dass Vielfalt gesteuert werden muss. Marktwirtschaftlich arbeitenden Unternehmen muss daran gelegen sein, dass die Vielfalt ihrer Belegschaft bezüglich Geschlecht, Rasse, Ethnizität, Sprache, Religion, körperlicher Konstitution usw. dem Profitstreben nicht in die Quere kommt. Wenn sich Gruppen bilden, die sich ungerecht behandelt fühlen, nicht miteinander auskommen oder sonst ihre Energie vergeuden, dann muss das Management etwas dagegen tun."

Ebenfalls in der NZZ hält Judith Sevinc Basad ein leidenschaftliches und ganz ironiefreies Plädoyer für den seicht-reaktionären Psychologen Jordan Peterson, der sich nie "frauenverachtend, nationalistisch oder gar rassistisch" geäußert habe, sondern nur von einer aufgebrachten Linken diffamiert werde: "Viele Aktivisten glauben, im Westen herrsche eine patriarchale Dominanzkultur, die seit Jahrhunderten den Rest der Welt und Minderheiten in den eigenen Gesellschaften unterdrücke. Vor allem Schwarze, Homo-, Transsexuelle und Frauen würden aus der Norm ausgegrenzt. Die Lösung erblicken die Aktivisten in der Political Correctness, also in Sprach- und Verhaltensregeln, die darauf zielen, die ausgegrenzten Gruppen vor Diskriminierungen zu schützen oder ihnen durch positive Diskriminierung Wiedergutmachung angedeihen zu lassen. Wer sich diesen Regeln widersetzt, ist in der Welt der PC-Befürworter wahlweise ein Reaktionär, ein Chauvinist oder ein Rassist. Glaubt man Peterson, steckt hinter diesen Regeln nicht der Wunsch nach Gleichstellung, sondern der Wille zur Macht."
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Kulturpolitik

Der Historiker Hanno Loewy, der auch Direktor des Jüdischen Museums Hohenems ist, schaltet sich in der FAZ in die Diskussion um das Jüdische Museum ein. Es sei seiner Aufgabe nachgekommen, als es in einem Tweet darüber informierte, dass 240 jüdische Wissenschaftler aus Israel und dem Rest der Welt eine andere Auffassung von 'Antisemitismus' haben als der Deutsche Bundestag". Überhaupt sei jüdische Geschichte zweitausend Jahre lang Diasporageschichte gewesen und deswegen immer auch Geschichte der Beziehungen - zur Mehrheitsgesellschaft und zu anderen Minderheiten: "Die gegenwärtige Tabuisierung jeder offenen Diskussion über Israel oder über den Antisemitismus der Gegenwart, die in der Kampagne gegen das Berliner Museum seinen fatalen Ausdruck gefunden hat, sie trifft vor allem: Juden. Wenn jüdische Stimmen, die sich solchen Denkverboten nicht beugen wollen, mit versteckten und offenen Drohungen zum Schweigen gebracht werden, dann sind jüdische Museen, die dieser Vielfalt eine Bühne bieten, offenbar nötiger denn je."

Weiteres: In der Berliner Zeitung meldet Harry Nutt, dass Christoph Stölzl Vertrauensperson für das Jüdische Museum werden, das einen neuen Leiter sucht, nachdem Peter Schäfer wegen eben jenes BDS-Tweets ingeworfen hat. Im Tagesspiegel erinnert Bernhard Schulz an die erbitterte Diskussion um das Holocaust-Mahnmal, das dann aber doch vor zwanzig Jahren beschlossen wurde.
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Europa

Und wenn Viktor Orban gar kein Ideologe wäre, sondern nur ein Gauner? Im Standard attackieren der frühere Bildungsminister Bálint Magyar und der Finanzexperte Bálint Madlovics den ungarischen Regierungschef heftig: "Aus Ungarn ist ein postkommunistischer Mafia-Staat geworden. Das Land wird nicht von einer Partei, sondern von dem politisch-ökonomischen Clan von Premierminister Viktor Orbán regiert, der die Gesellschaft als seinen Privatbesitz betrachtet und gleichzeitig formal eine demokratische Fassade aufrechterhält. Die Handlungen des Staates sind nicht sachlich, sondern willkürlich. Ihr Ziel ist es, die Gegner des Clans zu Fall zu bringen, Vermögen und Vermögenswerte an Loyalisten umzuverteilen. Orbán nutzt die leidenschaftslosen Mittel des bürokratischen Zwangs, handelt aber dennoch illegal: Korruption und politisch selektive Strafverfolgung stehen im Zentrum seines Systems." Deswegen, meinen die beiden Autoren, sperre sich Orban auch dagegen, der EU Rechte abzutreten: " Seine nationalistische Haltung ist nichts anderes als ein Feigenblatt für die nackte Forderung einer kriminellen Organisation nach Straffreiheit: allein gelassen zu werden, um die westlichen Steuerzahler zu bestehlen, ohne EU-Aufsicht."
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Politik

Die Menschen flüchten nicht nur aus Honduras in die USA, sie gehen auch seit einem Monat auf die Straße, um gegen die Regierung von Juan Orlando Hernandez zu protestieren. In Libération analysiert der Politikwissenschaftler Kevin Parthenay die an Verzweiflung grenzenden Proteste im Land, die sich gegen das zunehmend autoritäre Regime richtet: "In diesen Ländernist es politische Tradition, dass die Macht von einer kleinen politischen und wirtschaftlichen Elite gehalten wird. Man kann es Autoritarismus nennen, wenn es dem Parlament eines Landes immer schwerer fällt, sich den Entscheidungen des Präsidenten entgegenzustellen oder die Opposition immer weniger Gehör findet. Das ist in Honduras der Fall. Aber der Präsident selbst steht auch unter dem Druck der USA (die ihre Grenzen für Migranten aus Mittelamerika schließen wollen) und des IWF (für eine stärkere Liberalisierung der Wirtschaft). Honduras droht in eine tiefe Krise zu stürzen, wie es im benachbarten Nicaragua der Fall ist, das besonders seit einem Jahr starken Repressionen durch den Diktatur von Daniel Ortega ausgesetzt ist.
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Medien

In Myanmar sind jetzt eine Million Menschen offline, meldet Jana Lapper in der taz: "Seit Freitag haben alle Internetanbieter des Landes auf Anweisung der Regierung in den Bundesstaaten Rakhine und Chin das Internet abgestellt." Im SZ-Interview mit Johannes Kuhn registriert Alp Toker von der Initiative Netblocks, dass sich auch in anderen Ländern die Machthaber immer weniger scheuen, das Internet zu kappen. Venezuela sperrt die sozialen Medien, auch im Sudan und in Äthiopien sind die Bürger immer wieder für Monate ohne Internet. "Als es im Sudan Anfang des Jahres Proteste gab, hat der damalige Machthaber Omar al-Baschir wochenlang Social Media blockieren lassen. Die aktuelle Militärregierung geht noch drastischer vor. Das Internet ist seit Kurzem quasi komplett lahmgelegt. Seitdem wurden Tötungen von Demonstrierenden in Khartum und aus der Region Darfur gemeldet. Das ganze Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen bleibt ohne Internet erst einmal verborgen. Aber die Motive sind unterschiedlich, die konkreten Umsetzungen ebenfalls."
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Überwachung

Im Grunde funktionieren alle Innovationen aus dem Silicon Valley wie die Survival Tech, die man aus Brasilien kennt und bei der eine App warnt, dass man ein gefährliches Gebiet betritt, meint Evgeny Morozov in der SZ: An Armut und Kriminalität ändert sich nichts: "Die Pathologie bleibt bestehen: Wir passen uns einfach nur besser an, mit Sensoren, Karten, KI und Quantencomputern. Das wahre Prinzip heutiger Big Tech, von Regierungen sanktioniert und gefeiert, ist Innovation um der Erhaltung willen. Solche Programme mögen unter dem Banner der 'digitalen Transformation' gestartet und gefeiert werden, aber in Wirklichkeit implizieren sie sehr wenig bewusste und gesteuerte soziale Transformation. Vielmehr ist das, was unter diesem Label verkauft wird, genau das Gegenteil. Es ist die Vorstellung, dass Einzelpersonen und Institutionen sich an die technologische Welt um sie herum anpassen, sie jedoch nicht mehr verändern müssen."

Die Nachbarschafts-App Nextdoor, eine Art Facebook, das Nachbarn untereinander verbinden will, ist in den USA schnell zu einer Überwachungsapp geworden, die den schwelenden Rassismus ihrer User offenlegt, erkennt Adrian Daub dagegen in der NZZ: "Menschen, die nicht aussehen, als gehörten sie in die Nachbarschaft, werden schnell abfotografiert, und das Bild wird bei Nextdoor gepostet, im Sinne einer Personenkontrolle via Crowdsourcing. Oder als Warnung an die Gemeinde, wiederum repräsentiert durch die User der App. (…) Jene Nutzer, die die Zeit und Energie aufbrachten, auf Nextdoor die Nachbarschaft zu überwachen, waren tendenziell wohlhabend und etabliert. Und jene, um die sie sich Gedanken machten, waren zumeist Afroamerikaner oder Latinos, sie waren jung und sahen eben nicht so aus wie die User-Basis der App."
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