9punkt - Die Debattenrundschau

Nirgends ist ein Talent in Sicht

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2019. Wer wundert sich, dass Wladimir Putin den Liberalismus für obsolet erklärt? Putin ist ein Warlord, der Hunderttausende Tote auf dem Gewissen hat, bringt Natalie Nougayrède im Guardian in Erinnerung. Aus zwei Städten kommt Hoffnung: Ma Jian schreibt ebenfalls im Guardian eine Hymne auf die Hunderttausende Hongkonger, die für ihre Freiheiten kämpfen. Und Zafer Senocak feiert in der Welt die Wiederauferstehung Istanbuls.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.06.2019 finden Sie hier

Politik

Ma Jian, oppositioneller Schriftsteller, der 1987 nach Hongkong ging und heute in Großbritannien lebt, singt im Guardian eine Hymne auf die Hongkonger, die trotz ihrer arg bedrängten Situation und mangelnder Solidarität im Westen genau am Jahrestag der Tienanmen-Massaker friedlich und in Massen protestieren: "Obwohl die chinesische Regierung die Tiananmen-Bewegung ausgelöscht und alle Erwähnungen auf dem Festland gestrichen hat, überlebt ihr Geist in Hongkong. Sie wird jedes Jahr an Gedenkstätten im Victoria Park des Territoriums geehrt, und jetzt lebt sie wieder in den Straßen von Admiralty und Causeway Bay. Hongkong ist zum Hüter der verbotenen Erinnerungen Chinas, des moralischen Gewissens und des Strebens nach Freiheit geworden."

Immer wieder geschehen in abgelegenen südafrikanischen Farmen sogenannte "Farmmorde" an weißen Farmern, oft grausame und sadistische Taten. Sie sind allerdings in der beeindruckenden südafrikanischen Kriminalstatistik nur ein verschwindend kleiner Faktor. Aber sie wurden für den Mythos des "Bevölkerungsaustauschs" genutzt, der die gesamte rechtsextreme Szene von "gemäßigten" Parteien wie der AfD bis zu den rechtsextremen Terroristen verbindet, schreibt Marlene Halser in der taz: "Eine der Stimmen, die diese Erzählung von Südafrika aus über die ganze Welt verbreiten, ist die von Simon Roche. Anfang März hatte er einen Auftritt bei der US-Website Infowars, die rechtsextreme Verschwörungstheorien in den USA zirkulieren lässt. Man kann den Auftritt auf YouTube ansehen... Südafrika sei der Kanarienvogel in der Kohlemine, sagt Roche."
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Internet

Facebook ist längst nicht mehr so cool, wie es mal gewesen ist. Die Zahl der Interaktionen sinkt. Das liegt an den Skandalen, die Facebook ausgelöst hat, an den Änderungen an den Algorithmen, die diese Skandale eindämmen sollen, Facebook aber noch uninteressanter machen, und an der Intransparenz, schreibt Alexander Fanta bei Netzpolitik: "Facebooks ständiges Frickeln am eigenen Produkt macht deutlich, dass der Konzern keine Ahnung hat, was das soziale Netzwerk eigentlich sein soll. Facebook will für Freundinnen und Freunde da sein, für die berufliche Vernetzung, für Gewerbetreibende und Nachrichten - und natürlich für die Werbeindustrie. Wer alles für alle sein will, bietet am Schluss für niemanden Wert." Fanta sieht in der Ratlosigkeit des Giganten auch eine Chance für neue Alternativen.
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Ideen

Wir leben in einer "radikal säkularisierten apokalyptischen Situation", beteuert der Philosoph Giorgio Agamben, im (nicht onllne stehenden) Gespräch mit Arno Widmann in der FR. Denn heute seien es nicht mehr Theologen, die die Apokalypse verkünden. Er ist belesen genug, um die Rede von der Apokalypse aber auch zu relativieren: "Es gibt den Brief des Baumeisters der florentinischen Frührenaissance, Filippo Brunelleschi, er lebte von 1377 bis 1446. Der Zeitgenosse von Donatello, Ghiberti und Masaccio schreibt darin: 'Wir leben in einer Zeit, in der alles zusammenbricht. Nirgends ist ein Talent in Sicht.' Die Vorstellung, in einer Endzeit zu leben, scheint eine Konstante zu sein."
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Gesellschaft

Julia Lorenz, geboren 1991, ist ein Ossi. Sie befürwortet zwar sogar Ansätze wie den von Naika Foroutan, die Ostdeutsche mit Migranten vergleicht und beide als Opfer von Ausgrenzung ansieht, aber in einem taz-Essay begründet sie, warum sie keine Identitätspolitik will: "Weil es, mit Verlaub, absolut immer eine Scheißidee ist, sich identitätsstiftend auf seine Herkunft zu berufen. Man muss nicht trotzig stolz darauf sein muss, ostdeutsch zu sein, weil der Rest der Welt einen (angeblich) mit Verachtung straft. Das ist zwar, aus einem Reflex der Kränkung heraus, durchaus nachvollziehbar, aber nicht produktiv."

Yossi Bartal erklärt in der taz, warum er nach dem Rücktritt des Musemschefs Peter Schäfer nicht mehr als Tourguide im Jüdischen Museum Berlin arbeiten will. Die Debatte zeigt für ihn auch eine grundsätzliche Problematik des Museums: "Tatsächlich werden seit Eröffnung des Museums 2001 immer wieder Fragen über Repräsentation gestellt. Darf ein Museum der Bundesregierung sich jüdisch nennen, ohne unter der Kontrolle der offiziellen jüdischen Gemeinde zu stehen (die selbst nur einen Teil der Juden in Deutschland vertritt)? Liegt es in der Verantwortung des Jüdischen Museums, in Ermangelung einer ähnlichen Einrichtung für die hiesige muslimische Gemeinschaft, Raum für die Perspektiven von Einwanderern und ihrer Nachkommen zu bieten, von denen viele neben dem Museum wohnen, und einen jüdisch-muslimischen Dialog zu führen?"

Außerdem: Die Sozialdemokratie hat ihre historische Mission erfüllt, nun kann sie gehen, schreibt Michael Wolffsohn in der NZZ.
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Europa

Dass Erdogan zum ersten Mal seit langem eine Wahl nicht so gewonnen hat, wie er es plante und ihm die Macht zu entgleiten scheint, ist nicht mal das wichtigste an den jüngsten Ereignissen in der Türkei, schreibt Zafer Senocak in der Welt: "Die eigentliche Sensation ist, dass sich Istanbul zurückgemeldet hat. Die weltoffene Stadt, die Stadt, in der freies Denken zur Atemluft zählen muss, die Stadt mit ihren zahllosen Universitäten, kulturellen Einrichtungen. Diese Stadt will Frieden schließen mit sich selbst. Sie will modern, europäisch, zukunftsgewandt und traditionell zugleich sein, eine Metropole der antiidentitären Bewegung."

Wladimir Putin hat den Liberalismus für obsolet erklärt (unser Resümee). Für die Guardian-Autorin Natalie Nougayrède ist das keine aufsehenerregende Meldung. Sie porträtiert Putin als einen Warlord, der den Tod von Hunderttausenden zu verantwroten hat und eine Spur der Verwüstung durch die letzten Jahrzehnte zieht: Der extrem grausame Tschetschenienkrieg besiegelte seinen Weg zur Macht - und Syrien ist wohl  nicht die Endstation: "Es gibt ein Kontinuum zwischen dem absichtlichen Beschießen von Krankenhäusern, Schulen und bevölkerungsreichen Gebieten durch die russische Luftwaffe in Syrien und dem, was in Tschetschenien passierte. Man kann Putins Regime, den Mann selbst, seine Weltsicht, seinen Einfluss auf die russische Gesellschaft nicht verstehen, ohne diese Verbindungslinien im Kopf zu haben."
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