9punkt - Die Debattenrundschau

Wer hat weder Gesicht noch Stimme?

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.07.2019. Der Tagesspiegel erzählt in einem Dossier, "wem Berlin gehört" und auch warum. Die taz zeigt, wie die katholische Kirche in Kroatien (und ein bisschen auch in Deutschland) die Holocaust-Relativierung fördert.  Die Diskussion um das Jüdische Museum Berlin geht weiter.  Project Syndicate prangert die Gewalt gegen Frauen in Nigeria an, die engstens mit dem patriarchalischen Regime und der Tradition verknüpft ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.07.2019 finden Sie hier

Europa

In Deutschland gibt es eine sehr aktive kroatisch-katholische Gemeinde, die intensiv von der Katholischen Kirche in Deutschland unterstützt wird. Dort zirkuliert ein Film, der den Anteil des Ustascha-Regimes am Holocaust nach Kräften relativiert, berichtet Krsto Lazarević in der taz. Der Film heißt "Jasenovac - die Wahrheit" und wurde 2016 vom Regisseur Jakov Sedlar gedreht. Nebenbei zeigt die Geschichte, dass es - nicht nur in Kroatien - auch so etwas wie einen Klerikalfaschismus gab. In Kroatien wirkt das bis heute fort, so Lazarević: "Die katholische Kirche in Kroatien versteht sich als Nationalkirche, der rund 86 Prozent der Bevölkerung angehören. Schon während des Zweiten Weltkriegs waren die Verbindungen zwischen den kroatischen Faschisten der Ustascha und der katholischen Kirche eng. Heute relativieren Angehörige der katholischen Kirche in Kroatien die Verbrechen der Ustascha. So schlug der Erzbischof von Zadar vor, den Faschistengruß der Ustascha 'Za dom spremni' (Für die Heimat bereit) zum Armeegruß zu machen."

In der Welt würde Mateja Meded der Kapitänin Carola Rackete ja gern die Füße küssen. Aber die Aufregung um die weiße Retterin hinterlässt doch einen Stachel : "Von einem auf den anderen Tag ist sie weltberühmt geworden. Spendenaktionen, versehen mit ihrem Konterfei, gehen in kürzester Zeit durch die Decke. Wen sieht man aber nicht, wer hat weder Gesicht noch Stimme? Die 42 Geflüchteten, die in Lampedusa von Bord gingen. Wo werden ihre Gesichter abgebildet, wo die von denen, die ertrunken sind, wo die von denen, die in libyschen Lagern gefoltert wurden? Offenbar reicht nicht mal Salvinis Menschenverachtung, damit er gegen sie wettert. Sie sind moralisch-politische Verfügungsmasse, unsichtbar."

Ähnlich sieht das Hannes Soltau im Tagesspiegel, der die Feier von Rackete heuchlerisch findet: "Warum musste erst eine deutsche Aktivistin festgenommen werden, damit Politiker hierzulande ihre Empörung über die Zustände an den europäischen Außengrenzen zum Ausdruck bringen und auf Twitter stolz ihre Spendenschecks präsentieren? Vielleicht, weil es in den Medien bisher kein Gesicht zu jenem Grauen gibt, das sich vor der europäischen Haustür abspielt. Vielleicht, weil die Namen der allermeisten im Mittelmeer Ertrunkenen nicht bekannt sind. Vielleicht - oder sogar wahrscheinlich -, weil die Empathiefähigkeit noch immer vom Pass der Betroffenen abhängt."
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Gesellschaft

Die Diskussionen um das Jüdische Museum Berlin, dessen Direktor Peter Schäfer zurücktrat, erscheinen Micha Brumlik in der taz als "Neugeburt einer spezifischen Form des McCarthyismus". Schon auf den Verdacht hin, dass jemand der Israelboykottbewegung nahesteht, erhöben sich Stimmen, die Auftritte solcher Personen im Jüdischen Museum ablehnen. Mit Vorliebe betrieben das die Springer-Zeitungen: "Dabei geht es weder um Informantenschutz noch darum, jemandem Schmierenjournalismus vorzuwerfen, sondern darum, auf ein weiteres Beispiel für den Verfall liberaler Öffentlichkeit hinzuweisen. Der Hinweis, der Vorwurf, jemand 'stehe' einer Politik, einer Haltung, einer Meinung 'nahe', ist schnell erhoben und kaum belegpflichtig."

Auf die Fragen, was ein Jüdisches Museum sein kann, sein muss, sein sollte, gibt es verschiedene Antworten. Der Tagesspiegel erzählt an zehn Beispielen, wie Jüdische Museen in der Welt sie beantworten. Zum Beispiel das Jüdische Museum München: "Von der Debatte um den Rücktritt Peter Schäfers als Direktor des Jüdischen Museums in Berlin fühlt sich Münchens Direktor [Bernhard] Purin '17 Jahre zurückgebeamt'. Während seiner Zeit am Jüdischen Museum Franken hatte er damals heftige Kritik aus Teilen der jüdischen Gemeinde in Fürth erfahren. Es ging um eine satirische Ausstellung der Berliner Künstlerin Anna Adam. Der damalige Fürther Rabbiner Netanel Wurmsel forderte Purins Rauswurf. Wurmsel fühlte sich 'beleidigt und verhöhnt'. Anders als Schäfer konnte Purin damals bleiben. Der Konflikt in Berlin ist für ihn eine logische Konsequenz: 'Die Spannung zwischen orthodox geführter Religionslehre und der säkularen Darstellung jüdischer Identitäten in Museen führt zu einem Grunddissens.'"

Der Tagesspiegel fasst die Ergebnisse seiner über Wochen andauernden Recherche zur Frage, wem Berlin gehört, in einem riesigen lesenswerten Internetdossier zusammen. Berlin war reif für die Immobilienkonzerne, nachdem wegen der Krise des gemeinnützigen Wohnens (ausgelöst auch durch den Neue-Heimat-Skandal, mehr hier) und die Schuldenlast der Gemeinden Hunderttausende Wohnungen an den Markt kamen. Berlin war aus mehreren Gründen das ideale Pflaster, so die Autoren: "Erstens: die demografische Entwicklung. Zuzug ist gut für den Wert von Immobilien. Zweitens: wenig Leerstand und wenig Neubau. Wohnungsknappheit spielt den Immobilienkonzernen in die Hände. Sie können nun kräftige Mieterhöhungen durchsetzen. Drittens: Viele Häuser sind noch nicht modernisiert. Sie haben also hohes Wertsteigerungspotenzial. Und das geht viertens derzeit besonders gut, weil Kredite eben gerade fast nichts kosten." Flankierend sollte man Reinhart Büngers Artikel aus dem Wirtschaftsteil des Tagesspiegels lesen: "Die Hauptstadt verzeichnet bundesweit den stärksten Rückgang an Sozialwohnungen. Nur knapp 13.000 wurden in den vergangenen zwölf Jahren gebaut."

Nigeria hat ein besonders großes Problem, was die Misshandlung von Frauen angeht, schreibt Ibitoye Segun Emmanuel in Project Syndicate. Verantwortlich macht er dafür die in der Gesellschaft verbreitete "toxische Männlichkeit", die sich auch in einem von strikt patriarchischen Regeln geprägten Rechtssystem widerspiegele. "Viele in Nigeria glauben, dass die familiäre und sogar gesellschaftliche Ehre von der Komplizenschaft, Reinheit und dem Schweigen der Frauen abhängt. Frauen, die sich zu Gewalt äußern, oder gar versuchen, Angreifer zu verfolgen, werden stigmatisiert. Einige Überlebende von Vergewaltigungen werden sogar aus ihren Gemeinschaften vertrieben, weil sie Ehebrecherinnen sind, und eheliche Vergewaltigungen werden nicht anerkannt, weil eine Frau ihrem Mann keinen Sex verweigern darf. Ebenso wird der Missbrauch in der Ehe abgelehnt, weil ein Mann seine Frau 'disziplinieren' muss. Ebenso wird angenommen, dass die Genitalverstümmelung die Reinheit einer Frau und die Würde ihrer Familie bewahrt. In einigen ethnischen Gruppen werden junge Mädchen als Kreditsicherheit verwendet. All dies trägt dazu bei, dass über Gewalt kaum berichtet wird."

In Europa wird es immer schwieriger über sexuelle Belästigung zu sprechen, weil immer unklarer wird, was das eigentlich ist, lernt man aus einem NZZ-Artikel von Claudia Mäder, die sich eine EU-Studie zum Thema vertieft hat, die sexuelle Belästigung an der persönlichen Einschätzung der Befragten festmacht. Fest steht: Je mehr darüber geredet wird, desto größer scheint das Problem zu sein, obwohl es laut Statistik zurückgeht. Und so landen wir langsam wieder im Mittelalter: "Ob der prinzipiell schuldbehaftete Beischlaf nach kirchlichen Geboten in gewissen Momenten vollzogen werden durfte, hing laut einer Richtlinie für Beichtväter aus dem Jahr 1317 davon ab, ob die schamhaft-schüchterne Frau 'mit deutlichen Worten oder aber auf eine andeutende Weise wie z. B. mit anschaulichen Zeichen' darum gebeten hatte. Der Mann, der sowieso dauernd Begierige, hatte daher theoretisch stets den weiblichen Körper zu entziffern und auf positive Signale zu lauern."

Vor zwei Wochen hat die prominente demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez Lager an der Grenze zu Mexiko mit KZs verglichen und schloss ein Tweet mit der Aufforderung "Never again". Daraufhin entbrannte eine erregte Debatte, ob solche Analogien zu rechtfertigen seien. Und das United States Holocaust Memorial Museum veröffentlichte ein Statement, das solche Analogien verurteilt. Eine ganze Reihe von Historikern, darunter Omar Bartov und Timothy Snyder fordern das Museum in einem im NYRBDaily veröffentlichten Offenen Brief nun auf, dieses Statement zurückzunehmen: "Kern der Holocaust-Erziehung ist es, das Publikum über gefährliche Entwicklungen zu alarmieren, die zu Verletzungen der Menschenrechte und zu Schmerz und Leid führen. Auf Ähnlichkeiten über Zeit und Raum hinweg zu verweisen, ist dabei wesentlich."
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Internet

Ganz interessant liest sich, was Adrian Lobe in der SZ über Bestrebungen schreibt, Gesetze, die Algorithmen betreffen - die etwa selbstfahrende Autos steuern - auch in Code zu formulieren, so dass sie direkt in die Systeme integriert werden können. Seine Folgerung klingt allerdings bizarr: "Dass solche Steuerungsformen anschlussfähig an rechte Strömungen sind, ist klar. Denn die Idee, den Rechtsstaat mit einem opaken Formelwerk umzubauen, entspringt ja nicht nur den libertären Machbarkeitsvisionen einer kleinen Programmierelite, sondern auch der Geisteshaltung der Demokratieverächter." Hm, aha. Dann war Stalin also ein Rechter?

Die bekannte Internetkritikerin Shoshana Zuboff wiederholt im Guardian ihre Forderungen nach Gesetzgebung, um den "Überwachungskapitalismus" von Google und Facebook zu beenden: "Die Forschung der letzten zehn Jahre deutet darauf hin, dass 'Nutzer' Schutz und Alternativen wollen, wenn sie über die geheimen Operationen des Überwachungskapitalismus informiert werden. Wir brauchen Gesetze und Vorschriften, die Unternehmen zugute kommen, die mit dem Überwachungskapitalismus brechen wollen."
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Geschichte

Angesichts von sechs Millionen von den Nazis ermordeten Juden gab es erstaunlich wenig Racheakte nach dem Ende des Dritten Reichs. Das erfährt Joachim Käppner (SZ) aus einem Vortrag des amerikanischen Historikers Mark Roseman auf einer Tagung des Münchner NS-Dokumentationszentrums über Gewalt in der Nachkriegszeit: "Die Gründe dafür sind vielschichtig, vor allem aber, so argumentiert Roseman überzeugend, lagen sie 'in der Natur des Holocaust selbst'. Die überwiegende Mehrzahl der Todesopfer und der Überlebenden waren Menschen, welche mit Gewalt nichts im Sinn gehabt hatten, von den orthodoxen Juden in Polen bis zu jüdischen deutschen Bürgern. ... Jene zutiefst traumatisierten Menschen, die das Grauen verarbeiten, nach ihren Angehörigen suchen und irgendwie weiterleben mussten, erwarteten Gerechtigkeit und Strafe, wenn überhaupt, von der internationalen Justiz. Zeugnis abzulegen, das war fortan und bleibt, solange es noch Augenzeugen gibt, ihr wichtigstes Anliegen."

Außerdem: In der NZZ lernt Andreas Breitenstein aus zwei Büchern über den Gulag und die "Generation des großen Oktobers" darüber nach, wie wenig der Opfer des Bolschewismus heute gedacht wird.
Archiv: Geschichte