9punkt - Die Debattenrundschau

Ohne reine Lehre halt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2019. In einem sind sich die erhabenen Führer der muslimischen Welt aus Iran, Saudi Arabien, Türkei und Pakistan einig wie ein Mann, konstatiert Foreign Policy: in ihrem Schweigen zur Lage der Uiguren. In emma.de attackiert der Charlie-hebdo-Karikaturist Laurent Sourisseau Jakob Augstein, der genau bestimmen will, wen man karikieren darf und wen nicht. Die Frau im Sozialismus war nicht gleichberechtigt: Sie durfte sogar mehr Lasten tragen, ganz wie ein Lastesel, erinnert sich Kateryna Botanova in der NZZ. Und die SZ geht dahin, wo die geraubte Kunst vermodert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.07.2019 finden Sie hier

Politik

Kaum ein Anwalt in China traut sich noch, Menschenrechtsfälle zu übernehmen, seit Xi Jinping das Ruder übernahm und Hunderte Menschenrechtsanwälte ins Gefängnis gesteckt wurden, sagt der ehemalige Anwalt Teng Biao im Gespräch mit William Yang  von der Deutschen Welle: "Zu Beginn der Verhaftungswelle haben sich viele Juristen solidarisch erklärt und juristischen Beistand geleistet. Aber der Umfang und die Geschwindigkeit der Einschüchterungsmaßnahmen waren schneller als erwartet. Die Anwälte der Anwälte sowie die Aktivisten der Zivilgesellschaft wurden entweder von der Polizei geladen oder in Verwaltungshaft genommen. Schließlich wurde fast jeder eingesperrt, der sich noch traute, sich zu artikulieren."

Die Türkei, der Iran, Saudi Arabien, Pakistan - alle fühlen sich als Sprecher verfolgter Muslime. Nur zur Lage der Uiguren, die von China einem nie gesehenen Zwangsregime unterworfen werden, sagen sie allesamt null komma nichts, schreibt Azeem Ibrahim in Foreign Policy. Um nur Pakistan zu nehmen: "Wie zersplittert das Land und die Gesellschaft auch sind, in einem Punkt sind sich alle einig, vom Geheimdienst über radikale Prediger bis hin zu den Politikern: Chinesische Investitionen sind entscheidend für die Entwicklung des Landes und nötig, um den Staat und die massive Armee zu finanzieren. Darum wird in Islamabad so viel geschwiegen - und darum gab Premierminister  Imran Khan sogar vor, noch nie von dem Thema gehört zu haben."
Archiv: Politik

Ideen

Arabischer Antisemitismus ist nur im Kontext zu verstehen, sagt der Islamwissenschaftler Stefan Weidner in einem Dlf-Essay. Denn "die Annahme, arabischer Antisemitismus sei ein von den Umständen unabhängiges Phänomen und lasse sich ohne Kontext thematisieren, kommt einer Mystifikation und Hypostase antisemitischer Einstellungen gleich: Antisemitismus erscheint dann wie eine angeborene, genetische Disposition, die in manchen Völkern, etwa Deutschen und Arabern, besonders häufig auftritt. Eine solche Ansicht vertritt etwa Daniel Goldhagen in verschiedenen Büchern." Und war der deutsche Antisemitismus ebenfalls von Umständen abhängig?

In der NZZ denkt Rene Scheu über den Elitenbegriff nach und fordert die Elite auf, sich endlich aufzuraffen und mit Populisten und Antielitären auseinanderzusetzen. Diesen hat er schon mal ein paar Takte zu sagen: "Die Populisten von heute machen sich wie schon die Revolutionäre am Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich diesen Umstand zunutze: Sie wettern gegen die Eliten als Institution, um davon abzulenken, dass sie als Vertreter einer neuen Elite zum Sprung auf die bestehenden Positionen der Macht ansetzen. Die Camouflage sticht in hyperegalitären Gesellschaften das offene Bekenntnis aus, die antielitäre Elite trägt zuweilen den Sieg über die etablierte davon. Donald Trump in den USA und Matteo Salvini in Italien haben vorgemacht, wie das geht."
Archiv: Ideen

Gesellschaft

Der Karikaturist Laurent Sourisseau, Künstlername Riss, einer der wenigen Überlebenden des Charlie-hebdo-Anschlags, antwortet bei emma.de auf die Kritikerinnen Franziska Beckers, die es gewagt hat, Karikaturen über Kopftuchträgerinnen zu machen. Besonders aufs Korn nimmt er die Moral Jakob Augsteins, der verlangt hatte, dass man nur "Große" (also Leute wie ihn), aber nicht "Kleine" karikieren soll: "Man teilt der Karikatur eine Mission zu: Auf die Großen hauen, niemals auf die Kleinen. Warum eigentlich? Um die Kleinen zu schützen? Ganz sicher nicht. Diesen selbsternannten politischen Kommissaren sind die Schwachen scheißegal. Was sie nicht ausstehen können, wenn man Große und Kleine karikiert, ist die Freiheit, die man sich nimmt, eben dies zu tun. Die Freiheit, das zu tun, was man möchte, ist schier unerträglich für diese Moral-Kapos."

In Sachen Gleichberechtigung der Frauen war der Sozialismus viel fortgeschrittener als der Westen, heißt es oft. Die ukrainische Kulturwissenschafterin Kateryna Botanova sieht das in der NZZ etwas weniger idyllisch: "Der Sozialismus hatte einen sehr zweckmäßigen Typ Frau geprägt - die Frau als Kämpferin, die Frau als Mutter, die Frau als Lastesel. Im Zwiespalt von deklarierter Gleichheit - und dem obligatorischen 'Glück' - und einem kräftezehrenden Alltag, der ihr keine Gelegenheit gab, über ihre Lage zu sprechen, musste sie irgendwie überleben. Zwar bekleideten Frauen im Sozialismus tatsächlich Leitungsposten oder verrichteten traditionell männliche, körperlich schwere Arbeiten, aber gleichzeitig waren sie für die Familie verantwortlich, mussten die gesamte Hausarbeit erledigen und sich um die Kinder kümmern. In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten der ausgehenden achtziger, beginnenden neunziger Jahre übernahmen sie zudem die Rolle der Ernährerin, indem sie im Handel fehlende Waren und Lebensmittel beschafften. Es waren androgyne Frauen, die natürlich selbst keine Rechte oder Bedürfnisse geltend machen durften."
Archiv: Gesellschaft

Kulturpolitik

Wer behauptet, afrikanische Staaten seien nicht in der Lage, ihre Kunst sachgemäß aufzubewahren, soll man in die Keller des ethnologischen Museums in Dahlem gehen, meint Jörg Häntzschel in der SZ. Dort stehe man bei starkem Regen knöcheltief im Wasser, Brandschutz gebe es nicht und inventarisiert sei auch vieles nicht. Dabei sei Dahlem kein Ausnahmefall: "Es gibt gute und weniger gute Ausstellungen, sicher, aber dass in vielen deutschen Museen Verschleiß, Schlendrian und Überforderung herrschen, dass sie im internationalen Vergleich weit abgeschlagen sind, ist wenigen bewusst."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Kenan Malik geht in seiner Observer-Kolumne auf die Frage ein, ob Lager für Migranten als "Konzentrationslager" bezeichnet werden können. Der Vergleich sei zwar statthaft, wenn man nicht nur die Nazi-Lager im Blick habe, so Malik, aber er trifft für ihn nicht wirklich zu: Lager für Migranten seien ein neuartiges Mittel zur Bevölkerungs- und Wanderungskontrolle. Und er wiederholt seine scharfen Vorwürfe gegen die EU (unser Resümee): "Um zu sehen, wohin ein solcher Mechanismus führen kann, muss man auf die Südgrenze Europas blicken, nach Nordafrika, das für die EU zumindest beim Thema Migration die Südgrenze verkörpert. Die EU hat riesige Geldmengen in Länder Afrikas und des Nahen Ostens gepumpt, damit Staaten, Milizen und kriminelle Banden Zehntausende tatsächliche  oder angebliche Migranten wegsperrt, bevor sie die Küsten des Mittelmeers erreichen. Die Lager an der amerikanischen Grenze mögen unwürdig sein. Die EU-subventionierten Gefängnisse sind Orte eines wirklichen Grauens, in denen sexueller Missbrauch und Folter an der Tagesordnung sind." Das mag alles richtig sein, aber wäre es nicht auch einmal an der Zeit, die afrikanischen Staaten dafür zu kritisieren, dass sie die EU-Milliarden auf diese Weise ausgeben, statt in ihren Ländern Bedingungen zu schaffen, die die eigene Bevölkerung nicht in die Flucht jagt?

Auch der New York Times-Kolumnist Bret Stephens hat neulich die europäische Flüchtlingspolitik als noch schlimmer als die Trumps angeprangert. Anders als Malik versucht er auch eine Alternative zur jetzigen beschämenden Praxis aufzuzeigen: Man müsse helfen, in den Ländern, aus denen die Menschen flüchten, "Nation building" zu betreiben.

Bernard-Henri Lévy stellen sich angesichts der Brexit-Wirren Fragen über Fragen: "Wie konnte dieses Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, diese raffinierte Konstruktion, die über Jahrhunderte bewies, dass man zugleich englisch und britisch, schottisch und Untertan ihrer Majestät sein konnte, mit seiner Erfahrung der verschränkten Identitäten und konzentrischen Patriotismen vor der Verlängerung dieses Modells ins Kontinentale zurückschrecken?"

Teile des EU-Parlaments sind sauer, weil die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nicht "Spitzenkandidatin" war. Aber gerade die Idee des Spitzenkandidaten ist nicht demokratisch legitimiert, schreibt Paul Taylor bei politico.eu: "Das Parlament schaffte es, dem Europäischen Rat das Spitzenkandidatensystem aufzudrängen, durch eine Konvention, dass der Spitzenkandidat der Gruppe, die die meisten Sitze gewinnt, automatisch erste Wahl für das Amt des Kommissionspräsidenten sein soll. Dieses System hat keine gesetzliche Basis in den EU-Verträgen. Der Showdown über von der Leyen ist nicht Ausdruck des Kampfes der reinen Demokratie gegen das Hinterzimmergeschacher, wie vor allem in Deutschland gern behauptet wird."

Im Interview mit der Augsburger Allgemeinen hofft der österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier auf möglichst komplizierte Verhältnisse nach den österreichischen Neuwahlen im September. Dann müsste man sich durchwursteln, "ohne reine Lehre halt, das wäre das Beste, was uns passieren könnte". Viel Grund zum Optimismus sieht er allerdings nicht: "Die Zivilgesellschaft ist stark. Und solange wir Mitglied der liberalen EU sind, fürchte ich nicht um die Demokratie. Aber es gibt viele, auch Herr Kurz, die im ungarischen Modell von Orbán ein Vorbild sehen. In Umfragen sagen 50 Prozent der Österreicher, sie könnten sich gut vorstellen, dass ein starker Mann das Land führt. Das macht mich hoffnungslos. Das autoritäre Verhalten ist im Österreicher noch tief verwurzelt. Wenn Kurz dem jungen Kaiser ähnlich sieht, hat er schon einen Bonus."
Archiv: Europa