9punkt - Die Debattenrundschau

Die Freiheit, frei zu sein

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.07.2019. Europas Ultras werden nicht nur von Russland finanziell unterstützt, sondern auch von Amerikas religiöser Rechten, berichtet die NYRB. Der Guardian fragt, ob die fünf Milliarden Dollar, die Facebook wegen des Cambridge-Analytica-Skandals zahlen muss, eine Strafe oder ein Gefallen sind. Die FAZ beobachtet, wie Frankreich investigative Journalisten kujoniert. Die SZ erinnert an die Französische Revolution, in der NZZ hält Pascal Bruckner allerdings den Hass auf die Reichen für ein Überbleibsel der Aristokratie.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.07.2019 finden Sie hier

Europa

Europas rechte Parteien dürfen sich nicht nur auf Zuwendungen aus Russland freuen, sie wird auch großzügig von der religiösen Rechten in Amerika unterstützt, wie Mary Fitzgerald und Claire Provost in der NYRB schreiben: "Für Europäer, die ihren Kontinent als den säkularsten und gesellschaftlich liberalsten der Welt ansehen, sind das irritierende Entwicklungen. Es mag vielleicht nicht überraschen, dass europäische Länder in der Lage sind, nationalistische Bewegungen der extremen Rechte hervorzubringen, sehr wohl aber, wie schnell diese Parteien es in den Mainstream geschafft haben und wie viele von ihnen offen eine religiöse und gesellschaftlich konservativen Rhetorik angenommen haben. Eine Recherche von OpenDemocracy fand kürzlich heraus, dass Amerikas christliche Rechte in den vergangenen zehn Jahren mindestens 50 Millionen Dollar Schwarzgeld an verschiedene Kampagnen und Gruppen gespendet hat. Nach Maßgabe amerikanischer Wahlkämpfe mag das nicht nach einer großen Summe aussehen, aber für europäische ist sie riesig. Für die Europawahl 2014 etwa gaben alle irischen Parteien zusammen drei Millionen aus."
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Medien

Wegen des Skandals um Cambridge Analytica sieht Facebook einer Strafe von fünf Milliarden Dollar entgegen, berichtet unter anderem das Wall Street Journal. Bei Julia Carrie Wong im Guardian kommt der Vergleich nicht an, auf den sich der Tech-Konzern mit der Federal Trade Commission geeinigt haben soll: "Als Teil der Vereinbarung wird Facebook auch seinen Umgang mit Nutzerdaten überprüfen, aber der Vergleich beschränkt nicht die Möglichkeiten der Firma, Daten an Dritte weiterzugeben, heißt es in den Berichten. Kritikern sind die von Facebook geforderten Änderungen nicht sehr substanziell, und die Strafe wird in dessen Bilanzen keine Delle schlagen. Das Unternehmen hatte in den ersten drei Monaten von 2019 Einnahmen in Höhe von 15 Milliarden. 'Das ist keine Strafe, sondern ein Gefallen, ein Falschparkerticket, das den Weg frei macht für das weitere Wuchern illegaler Überwachung', sagt Matt Stoller von dem auf Monopole spezialisierten Open Markets Institute."

Nur im Prinzip lobenswert findet Jürg Altwegg in der FAZ das Vorhaben Frankreichs, Fake News und Hass im Internet per Gesetz zu bekämpfen. In der Realität sieht er darin auch eine Gefährdung der Pressefreiheit: "Macron gebärdet sich wie sein Vorbild Napoleon, der Presse und Literatur mit einer Mischung aus Repression, Förderung und Auszeichnungen (wie der Ehrenlegion) gefügig machte. Brutal sind seine Polizisten bei den 'Gelbwesten'-Demos gegen Reporter vorgegangen, Dutzende von Klagen wurden eingereicht. Die Affäre um seinen prügelnden Ex-Sicherheitschef Benalla hat gezeigt, dass - und wie - auch aus dem innersten Kreis im Elysée Fake News gestreut werden. Macrons Kommunikationschefin hatte sich ausdrücklich zu ihrer Bereitschaft zum Lügen für den Präsidenten bekannt, inzwischen ist sie Regierungssprecherin. Mehrere renommierte Enthüllungsjournalisten sind jüngst vom Geheimdienst vorgeladen und einvernommen worden. Auf einer ganzen Seite hat Le Monde eine Anleitung für das Verhalten bei Verhören veröffentlicht."

In der SZ meldet Willi Winkler, dass die einflussreichste unter den schwarzen Zeitungen, der Chicago Defender, seine Printausgabe einstellt, aber online weiterhin zu lesen ist
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Ideen

Vor dem morgigen 14. Juli erinnert Jean-Marie Magro in der SZ daran, dass die Französische Revolution auch deshalb scheiterte, weil sie ihr eigenes Freiheitsversprechen nicht einlösen konnte: "Hannah Arendt erklärte es später so, dass Menschen erst von Zwang und Not befreit sein müssten, um wirklich frei sein zu können. Sie nannte dies 'die Freiheit, frei zu sein'. Das schafften die Revolutionäre nicht. Die Armen blieben arm und hungerten weiter." Und die Liberalen mahnt er: "Freiheit bedeutet danach eben nicht die Unantastbarkeit des Eigentums, sondern, sich politisch beteiligen zu können."

Pascal Bruckner sieht als Folge der Revolution vor allem einen grassierenden Hass auf die Reichen, Missgunst und die Verschleierung des eigenen Misserfolgs, wie er in der NZZ beklagt: "Wenn man hasserfüllt auf die Reichen blickt, übersieht man freilich nicht nur die Beiträge, die sie zum Funktionieren des Gemeinwesens leisten. Auch Arbeit, Aufwand und Anstrengung sind nie je ein Thema. Man nimmt immer nur die äußeren Zeichen des Geldes wahr: das schöne Haus, das große Auto, den glitzernden Schmuck, die maßgeschneiderten Kleider. Dass dahinter eine Leistung steht, dass die Besitzenden Opfer erbringen mussten, um den jetzt sichtbaren Zustand zu erlangen, wird nicht besprochen." Aber, meint Bruckner, eigentlich sei die Verachtung des Reichtums in Frankreich auch ein Erbe der Aristokratie: "Diese hatte für Handel und harte Arbeit immer nur Verachtung übrig gehabt und sich vorzugsweise auf Jagden und in Kriegen verausgabt - im Unterschied etwa zum englischen Adel, der stark unternehmerisch auftrat."
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Politik

Nicht unbedingt fürs Frühstück, aber dennoch sehr aufschlussreich ist das taz-Interview, das Sabine am Orde mit dem sehr nüchternen Ermittler Klaus Zorn führt, der für das Bundeskriminalamt zu Kriegsverbrechen in Syrien, Kongo und Ruanda ermittelt. Das BKA kann in Fällen von Völkermord, Folter und Vergewaltigung ermitteln, wenn Opfer hier leben und Hinweise geben: "Viele stammen, wie gesagt, aus Erstbefragungen von Flüchtlingen im BAMF. Wenn jemand angibt, 'ich habe gesehen, wie jemand umgebracht wurde', oder: '"Ich habe Massengräber gesehen, ich war im Foltergefängnis', wenn solche Aussagen fallen, die Substanz haben, und diese Menschen auch bereit sind, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, dann kommen diese Hinweise zu uns. Von 2015 bis heute sind das etwa 5.000 Hinweise, denen wir nachgehen und die wir bei unserer Arbeit verwenden. Oft sind diese Gespräche nicht einfach, weil die Menschen der Polizei nicht unbedingt vertrauen."

In der taz erklärt die Radio-Journalistin Charlotte Misselwitz, warum sie - mit einem Israeli verheiratet und zwischen Berlin, Tel Aviv und Haifa pendelnd - BDS im Prinzip ganz richtig findet, es aber nicht unterstützen will: "Nein, BDS geht nicht in Deutschland. Allen, die sich dafür engagieren, kann ich nur sagen: Ihr habt recht, aber: In Deutschland brauchen wir eine kompliziertere Kritik an Israels Palästinapolitik, die gleichzeitig die Deutschen in die Mitverantwortung nimmt."
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Gesellschaft

Klar fordert der Tourismus seinen Preis, schreibt FAZ-Reiseredakteur Jakob Strobel y Serra zu seiner Ehrenrettung, aber den norwegischen Fjorden schadet die Lachszucht vielleicht mehr als alle Kreuzfahrten, und dass die Ramblas von Barcelona so verkommen sind, liegt nicht nur an den Touristen, sondern auch an der Habgier katalanischer Geschäftsleute: "Man kann die Iberische Halbinsel kreuz und quer bereisen, um dann festzustellen, dass außer Barcelona, San Sebastián im Hochsommer und Palma de Mallorca in der allerdings inzwischen fast endlos währenden Hochsaison keine einzige Stadt in Spanien und Portugal ein existentielles Problem mit 'Overtourism' hat. Solche Beispiele für die segensreiche Janusköpfigkeit des Tourismus gibt es ohne Zahl. Berlin hat ganz bestimmt ein ernsthaftes Problem mit touristischer Überfüllung, aber trotz allen Partylärms an der Oberbaumbrücke kann sich kein Mensch von Sinn und Verstand ernsthaft das verranzte SO36 aus alten Mauerzeiten zurückwünschen."
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Religion

Rudolf Neumaier ahnt in der SZ schon, wie obskurante Kräfte das Buch des Münsteraner Theologen Hubert Wolf attackieren werden, der 16 Thesen gegen den Zölibat zusammengetragen hat und keinen theologisch haltbaren Grund sieht, warum die Kirche daran festhalten soll: "Zu den rührendsten Rechtfertigungen gehörte der Wunsch von Papst Pius X., dass Priester durch den Glanz ihrer heiligen Keuschheit 'den Engeln ähnlich' werden sollen. Dies beschere ihnen die Hochachtung der Gläubigen und verleihe ihnen 'übernatürliche Segenskraft'. Segenskraft durch Verzicht auf Sex? Zweifellos konnten sich schon im Jahr 1908, als Pius' Lehrschreiben erschien, nur noch die ergebensten unter den Kirchentreuen vorstellen, dass die Enthaltsamkeit flächendeckend praktiziert wurde."
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