9punkt - Die Debattenrundschau

Enkelinnen und Schwiegersöhne

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2019. Agnes Heller ist gestorben. Wir verlinken auf erste Nachrufe. Der 20. Juli ist heute das große Thema. Und er bleibt kontrovers, wenn auch anders als in den frühen Jahren der Bundesrepublik. Der grundsätzlichen Würdigung, etwa durch Manfred Schneider in der NZZ, stehen scharfe Gegenakzente gegenüber: Stauffenberg-Biograf Thomas Karlauf bleibt in der FAZ bei seiner Kritik an den Motiven der Attentäter.  Arno Widmann ist in der FR froh, "dass der Putsch vom 20. Juli 1944 gescheitert ist".
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.07.2019 finden Sie hier

Ideen

Agnes Heller, eine der letzten großen antitotalitären Denkerinnen, ist im Alter von 90 Jahren gestorben. Die Meldung kam spät gestern. Vorerst kursieren die pauschalen Ticker, etwa hier bei Zeit online. Stefan Dornuf schreibt in einem ersten Nachruf für die NZZ: "Heller vertrat eine - später von ihr als illusionär widerrufene - Dichotomie, wonach das Sowjetmodell schon seit Lenin durchgängig eine Pervertierung der ursprünglich durchaus emanzipatorischen Absichten von Marx darstellte. Verworfen wurde nun, als elitär, das 'zugerechnete Bewusstsein' und zumindest hinterfragt auch die Kategorie der 'Totalität'." Hier ein Zeit-Porträt, das Elisabeth von Thadden zu ihrem Neunzigsten am 12. Mai geschrieben hat. Auch Blanka Weber hat sie zu ihrem Neunzigsten für die Jüdische Allgemeine porträtiert.

In Deutschland - wo sie anders als Jaron Lanier oder Carolin Emcke nicht mal den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hat - hat sie sich zuletzt in der Zeit zu Jürgen Habermas' Neunzigstem geäußert, mit dem sie befreundet war. Im Mai war sie noch unter Intellektuellen, die Emmanuel Macron in den Elysée-Palast eingeladen hat. Sehr präsent war sie bis zuletzt in ungarischen Medien, wie unsere Resümees aus der Magazinrundschau zeigen.


Sehr dezidiert hat sie sich zu Viktor Orban geäußert, etwa hier im August letzten Jahres in politicalcritique.org: "Seit seiner Ernennung zum Premierminister Ungarns war Orban stets daran interessiert, die gesamte Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Ich würde ihn als Tyrannen bezeichnen. Er ist ein Tyrann, weil in Ungarn nichts passieren kann, was er nicht will, und alles, was er will, wird in Ungarn verwirklicht. es ist eine sehr tyrannische Herrschaft."

Dlf Kultur hat aus seinem Archiv ein großes Gespräch mit Agnes Heller aus dem Jahr 2017 wieder online gestellt.
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Religion

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt und steigt. Die Zeitungen bringen nur Ticker, hier etwa die Welt:  "216.000 Menschen haben 2018 die katholische Kirche verlassen. Bei den Protestanten traten 220.000 Menschen aus der Kirche aus, 23.000 mehr als 2017." Insgesamt gibt es noch 23 Millionen Katholiken und 21 Millionen Protestanten. Aber ein Trost bleibt für die Kirchen: "Durch die positive Entwicklung der Löhne und Einkommen sei das Kirchensteueraufkommen 2018 trotz des Rückgangs leicht auf 5,79 Milliarden Euro gestiegen", meldet die Evangelische Kirche. Und bei den Katholiken dürfte die Summe noch etwas höher liegen.
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Medien

Die venezolanische Reporterin Marjuli Matheus Hidalgo erzählt Jule Damaske in der taz, warum sie inzwischen im Exil in Chile lebt - es hat keinen Sinn mehr in Venezuela zu arbeiten: "Über zehn Jahre wurden die Medien durch Sanktionen und Gesetze immer weiter eingeschränkt. Über bestimmte Themen durfte nicht mehr gesprochen werden und es gab auch sprachliche Einschränkungen. Heute etwa müssen alle Medien Nicolás Maduro den rechtmäßigen Präsidenten nennen. Wer Juan Guaidó als Präsident Venezuelas bezeichnet, verliert den Job."
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Stichwörter: Venezuela, Chile, Maduro, Nicolas

Europa

Der irische Publizist Fintan O'Toole hat einen scharfen Blick auf die Marotten der britischen Oberklasse, die im Brexit so fatal durchschlagen. Für die New York Review of Books vergleicht er Boris Johnson und Donald Trump: "Sowohl er als auch Trump sind Rassisten, obwohl Johnsons Spielart viel elaborierter ist. Als er 2002 über Königin Elisabeth schrieb, sie sei bei ihren Besuchen in Commonwealth-Ländern von "fahnenschwenkenden 'Piccaninnies' mit 'Wassermelonenlächeln' begrüßt worden, wiederholte er (sicherlich bewusst) Enoch Powells berüchtigte, 35 Jahre zuvor vorgetragene 'Rivers of Blood'-Diatribe, die den gleichen seltsam verklemmten rassistischen Ausdruck verwendete. Powell hatte über die Nöte einer anderen älteren englischen Dame gesprochen: 'Wenn sie in die Geschäfte geht, folgen ihr Kinder, charmante, breit lachende Piccaninnies.'"

Der Journalist und Politologe Gunnar Hinck behauptet in der taz trotz wahldemografischer Karten, in der sich die Ex-DDR immer so geisterhaft abzeichnet, es gebe gar keine "Ostidentität". Die AfD-Ergebnisse erklärt er mit älteren historischen Gegebenheiten und wischt den Rest der Problematik vom Tisch: "Obwohl der Osten sich immer weiter ausdifferenziert, spielen Teile von Politik und Publizistik beharrlich die pauschale Ostkarte. Inzwischen hat sich ein richtiggehendes Ostbusiness etabliert, von dem zu viele Instutitionen und Menschen leben, um es einfach als aus der Zeit gefallen anzuerkennen und abzuschaffen. Stiftungen halten sich ihre eigenen Ostabteilungen, Parteien haben ihre Ostbeauftragten, Ostinstitutionen verteilen spezielle Stipendien, und die Bundesregierung hat einen eigenen Beauftragten für die neuen Länder."

Die Welt veröffentlicht einen offenen Brief des Grünen Werner Schulz, der partout nicht verstehen kann, warum seine Partei Ursula von der Leyen als neue EU-Kommissionschefin abgelehnt hat. "Von welcher Hybris muss man getragen sein, um zu erwarten, dass eine Kandidatin aus einer konservativen Partei das komplette Programm der viertstärksten Fraktion im Europaparlament übernimmt?" Dabei sei sie auf viele Forderungen der Grünen eingegangen. "Bei all dem, und ich will die noch offenen und diskussionswürdigen Punkte von neuer Landwirtschaft, Bankenunion, Besteuerung von Großkonzernen bis Seenotrettung und Migration gar nicht alle ausführen, bei denen sie richtige Ansätze erkennen lässt, frage ich mich, wie denn eine grüne Topkandidatin aussehen müsste? Ich befürchte, selbst bei einer Mischung aus Mutter Teresa, Petra Kelly und Wangari Maathai würdet ihr vermutlich noch ein ausgerissenes Haar finden, das man spalten kann."
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Gesellschaft

Osteuropäerinnen würden in Deutschland oft nur als Reinigungskräfte und Altenpflegerinnen wahrgenommen, behauptete kürzlich auf Zeit online die kroatische Schriftstellerin und Dramatikerin Ivana Sajko: "Die einstigen sogenannten Gastarbeiter waren ein frühes Symptom unserer Modernität, schreibt der kroatische Philosoph Boris Buden. Sie waren die Boten des globalen Kapitalismus, Menschen ohne Heimat, die in dem Land, das sie verlassen hatten, genauso der Kritik ausgesetzt waren wie in jenem, in dem sie arbeiteten. Sie waren Verdammte dieser Erde, in der sie buchstäblich mit eigenen Händen wühlten, wenn sie in der Landwirtschaft aushalfen. In einer solchen Welt waren und sind Varianten des Putzens und anderer Hausarbeiten häufig die einzigen Formen der sicheren Beschäftigung für Frauen, da sie komplementär zu ihren Rollen als Pflegerinnen, Köchinnen und Hausfrauen in ihrem familiären Umfeld sind."

Verdammte dieser Erde? Geht's noch, fragt Miranda Jakiša, Professorin für Süd- und Ostslawische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Uni, die Sajkos Beschreibung maßlos übertrieben findet. "Nur in der Erinnerung Kroatiens, Bosniens, Serbiens, in der Erinnerung der jugoslawischen Nachfolgestaaten gelten die Gastarbeiterinnen bis heute als bemitleidete Putzfrauen. Aus der Ferne konnten und können sich die Daheimgebliebenen weder die Arbeitsbereitschaft, den eisernen Aufstiegswillen und das zukunftsgerichtete Durchhaltevermögen dieser Jugoslawinnen erklären noch ihre allmähliche Sozialisation in den Aufnahmegesellschaften nachvollziehen. Dabei trugen die jugoslawischen Gastarbeiter, wie der Südosteuropahistoriker Ulf Brunnbauer zeigen kann, signifikant zum jugoslawischen Staatshaushalt bei, der schon bald fest mit den Devisen rechnete, die seine Diaspora regelmäßig nach Hause schickte. Das und die unzähligen mit Gastarbeitergeld gebauten Häuser und Betriebe in Bosnien, Kroatien, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien sind eine Leistung der südosteuropäischen Arbeitsmigrantinnen, die bis heute nicht gewürdigt wird."
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Internet

Im Interview mit dem Tagesspiegel plädiert der australische Forscher Toby Walsh, Professor für Künstliche Intelligenz an der University New South Wales, für eine Regulierung des Internets und vor allem der sozialen Medien: Sie zersetzten die Demokratie. "Ebenso wenig wie autonome Waffen über Leben und Tod entscheiden sollten, wollen wir auch nicht, dass diejenigen die Wahlen gewinnen, die über die beste Technologie und die meisten Daten verfügen. Sondern die, die besten Ideen haben. Schon jetzt ist es technisch mittels Deep Fake und Stimmenimitation möglich, dass ein vermeintlicher Donald Trump bei jedem US-Bürger 'anruft' und ein persönliches Gespräch mit ihm führt. In vielen Ländern gibt es strenge Gesetze über das Geld und die Werbung, die bei Wahlen eingesetzt werden dürfen. Um zu verhindern, dass sich die Reichen politische Macht kaufen. Die sozialen Medien sind so wirkungsvoll wie herkömmliche Kampagnen, auch hier müsste es mehr Kontrolle geben."
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Geschichte

Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider stellt das Attentat gegen Hitler vor 75 Jahren in der NZZ in einen historischen Zusammenhang: "Zumeist bleiben Attentate politische Symbole, Symbole legitimer oder grundloser Gewalt. Der versuchte Anschlag auf den Diktator Adolf Hitler ist indessen das bleibende Zeichen einer von der abendländischen Tradition getragenen Überzeugung, dass eine politische Ordnung nicht auf willkürliche Macht gegründet sein darf, sondern allein auf Recht."

Im Tagesspiegel schreibt Sophie von Bechtolsheim, die Enkelin Claus Graf Stauffenbergs, die gerade ein Gegenbuch zu Thomas Karlaufs umstrittener Stauffenberg-Biografie geschrieben hat, über Widerstand im allgemeinen (etwas allzu allgemeinen, muss man sagen): "Wir Bürger werden unserer Verantwortung nur gerecht, wenn wir bereit sind, uns persönlich im Rahmen unserer Möglichkeiten für ein friedliches, gerechtes, würdevolles Zusammenleben einzusetzen." Auch Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin, würdigt den Widerstand gegen Hitler im Tagesspiegel. Im FAZ-Leitartikel zum Jahrestag schreibt Reinhard Müller gegen all jene, die an Stauffenbergs Motiven mäkeln: "Entscheidend bleibt der versuchte Tyrannenmord."

FR-Autor Arno Widmann gibt bei aller Würdigung der Widerständler, die bei Gelingen ihres Vorhabens die Soldaten zum Weiterkämpfen aufgefordert hätten, den damaligen Kriegsalliierten recht: "Schon auf der Konferenz von Casablanca zu Beginn des Jahres 1943 hatten die Alliierten sich auf das Kriegsziel einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands geeinigt. Sie würden davon nicht abrücken. Den Fehler von 1918 wollten sie nicht wiederholen. Deutschland musste besetzt und radikal reformiert werden. Wir können froh sein, dass der Putsch vom 20. Juli 1944 gescheitert ist."

Und Thomas Karlauf bleibt in der FAZ bei seiner grundsätzlichen Kritik an den Attentätern vom 20. Juli: "Natürlich waren die Verschwörer schockiert über das, was sie über die Verbrechen im Osten erfuhren - und die meisten waren früh und umfassend im Bilde. Ihre Empörung setzte jedoch 'keine unmittelbare Gegenwehr oder Auflehnung in Gang', befand schon Hans Rothfels, der erste Historiker, der sich mit dem Thema befasste. 1964 urteilte Hannah Arendt - unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses womöglich überhart -, den Verschwörern sei aus ihrer Kenntnis der Massenmorde offenbar nicht einmal ein Gewissensproblem entstanden." Karlauf nutzt seinen Artikel nebenbei zur Polemik gegen Bechtolsheim und "eine Hamburger Wochenzeitung", die "den Wimpel der Ehre dadurch hochzuhalten meint, dass sie in der aktuellen Debatte ausschließlich Enkel, Enkelinnen und Schwiegersöhne zu Wort kommen lässt".
Archiv: Geschichte