9punkt - Die Debattenrundschau

Finales Stadium

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.07.2019. In der taz verordnet der Volkswirt Niko Paech einen radikalen Verzicht auf individuelle Freiheit, um des Klimas willen. In der SZ stellt Heribert Prantl fest: Auf dem Weg zur rechtsextremen Partei ist die AfD angekommen. In Britannien sorgt Jacob Rees-Mogg für eine Renaissance der imperialen Maße. Im New York Magazine konstatiert Andrew Sullivan: Es ist nicht die Frage, ob der amerikanische Rechtsstaat eine zweite Amtszeit Trumps überstehen wird. Er ist schon zusammengebrochen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.07.2019 finden Sie hier

Europa

Der neue Tory-Fraktionsvorsitzende Jacob Rees-Mogg, bekannt für seine Bestatteranzüge, hat einen Styleguide an seine Mitarbeiter herausgegeben, der in einem viel retweeteten Artikel bei itv.com erläutert wird. Es läuft darauf hinaus, sprachliche Gepflogenheiten des britischen 19. Jahrhunderts wiederherzustellen: "In einer langen Liste von Dos and Don'ts bittet er auch darum, dass alle Abgeordneten mit dem Titel Esq (Esquire) nach ihrem Namen angesprochen werden und sagt den Mitarbeitern 'Überprüfen Sie Ihre Arbeit'. Die EU hat im Laufe der Jahrzehnte mehrere Richtlinien herausgegeben, die die Mitgliedstaaten auffordern, metrische Maßangaben zu verwenden. Das Vereinigte Königreich hat das System erst spät übernommen und verwendet zum Beispiel weiterhin Meilen statt Kilometer auf Verkehrszeichen. Rees-Mogg macht klar, dass er es vorzieht, die Mitarbeiter immer 'imperiale' Maßangaben verwenden, von denen die meisten seit Mitte der sechziger Jahre außer Gebrauch gekommen sind."

Weiteres zum Brexit: Boris Johnson hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Telefongespräch wissen lassen, dass er im Grunde erst wieder zu Gesprächen mit der EU bereit sei, wenn der "Backstop" fallen gelassen werde. Der irische Premierminister Leo Varadkar vermutet, dass es stärkere Bestrebungen zu einer Vereinigung Irlands geben wird, berichtet der Guardian in seinem heutigen Aufmacher. Boris Johnson will und wird "das Land in den Abgrund" führen, schreibt Cathrin Kahlweit in der SZ: "Boris Johnson hat sich entschieden: Diese Nation heilt man nicht, indem man jene 48 Prozent der Briten mitnimmt (mittlerweile dürften es viel mehr sein), die für den Verbleib in der EU gestimmt haben. Dieses Land überwältigt man mit einem No-Deal-Brexit, mit einem Fait accompli, mit einem Kraftakt. So weit reicht seine Vision: 96 Tage plus einen, den Tag danach."

Die AfD rückt unter dem Höcke-Flügel ihrem "finalen Stadium" entgegen und unterscheidet sich immer weniger von der NPD, schreibt Heribert Prantl in der SZ: "Die AfD als nationalbürgerliche Kümmererpartei, in der auch Aufwallung, Zorn und kleinbürgerlicher Aufstand Platz fanden, diese AfD der Phase zwei, verkümmert. In ihrer Phase drei wird die AfD nun zu einer völkischen Partei, die deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund aus Deutschland vertreiben will. Höcke und Co. geben der Partei eine gewandelte, gefährliche Identität. Es ist die Identität der sogenannten Identitären; das ist eine Bewegung, die in der Nachfolge der NSDAP steht, die eine Ausgrenzung von angeblich fremden Kulturen predigt und eine geschlossene, ethnisch homogene europäische Kultur propagiert."

Jan C. Behrends hat nach dem Mauerfall eine Doktorabeit über die verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft geschrieben. Dreißig Jahre nach dem Mauerfall muss er bei den Salonkolumnisten feststellen, dass die Freundschaft bei vielen viel stärker verinnerlicht ist, als er damals ahnte, nicht nur bei der AfD, die dem Paten des Rechtsextremismus in Moskau natürlicherweise zugetan ist, sondern auch bei der Linkspartei, in der SPD, ja sogar bei den Ministerpräsidenten der neuen Länder, die sämtlich eine special relationship zu Putin wollen: "Warum verbindet Deutschlands Osten eigentlich so wenig mit der Ukraine oder Georgien? Mit Armenien oder Lettland? Die Sowjetunion zerfiel bekanntlich im Dezember 1991 in ihre Bestandteile und mit einem Blick auf die Landkarte könnte man lernen, dass das heutige Russland nicht die UdSSR ist. Doch nur Russland kann uns als Projektionsfläche dienen, um Deutschlands Abkehr vom Westen zu begründen. Die Westbindung Deutschlands zu erschüttern war schon im Kalten Krieg das Ziel des Kremls und es sieht so aus, als hätte Moskau eine Menge Verbündete gefunden."

Am 24. Juli wurde in der Türkei des 111. Jahrestages der Abschaffung der Zensur gedacht. In seiner Zeit Online Kolumne kann Can Dündar nur müde lächeln: Ausgerechnet Ex-Premier Ahmet Davutoglu, der noch 2016 behauptete, kein einziger Journalist sei in türkischen Gefängnissen inhaftiert, habe es nun getroffen: Als "die AKP-Regierung ins Taumeln geriet, hisste er die Flagge gegen Erdoğan und setzte sich für die Gründung einer neuen Partei ein. Erdoğan warf ihm Verrat vor und 'Spaltung der Gemeinschaft der Gläubigen'. Das war für ihn eine Drohung und für die Medien die Botschaft: Lasst ihn nicht zu Wort kommen! Die Trollarmee der Regierung blies zur Attacke. Davutoğlu aber gab letzte Woche drei Journalisten für Sputnik Türkei ein umfangreiches Interview. 'Leider erleben wir derzeit eine Phase massiver Selbstzensur', bedauerte er. 'Ich etwa hatte mich vor dem Verfassungsreferendum an Fernsehsender gewendet, um meine Besorgnis zum Ausdruck zu bringen. Kein einziger wollte sich darauf einlassen.'"
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Religion

Die Katholische Kirche in Deutschland verlor im letzten Jahr 300.000 Mitglieder, die evangelische 400.000. hpd.de resümiert mit Daten der "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland" (fowid) den Stand der Religionszugehörigkeiten: "Laut fowid waren Ende 2018 (gerundet) 38 Prozent der Bevölkerung konfessionsfrei, 28 Prozent Katholiken und 25 Prozent Protestanten. Rund 5 Prozent der Bevölkerung zählten zur Gruppe der konfessionsgebundenen Muslime, zwei Prozent gehörten christlich-orthodoxen Kirchen an, ein Prozent sonstigen christlichen Gruppierungen, etwa christlichen Freikirchen. Die sonstigen Religionsgemeinschaften (unter anderem Judentum, Hinduismus, Buddhismus) kamen zusammengenommen ebenfalls auf einen Bevölkerungsanteil von einem Prozent."
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Ideen

Jetzt klopft der Volkswirt Niko Paech in der taz der Wohlstandsgesellschaft, die sich mit der angeblichen Energiewende nur beruhigen will, kräftigst auf die Finger. Der ökologische Gulag muss her! "Was die Energiewende politisch attraktiv werden ließ, war das Versprechen, mittels technischer Innovationen lediglich die Umrandung, aber nicht das Innere des Wohlstandskorpus umzubauen. Liebgewonnener Konsum- und Mobilitätskomfort sollte weiter bestehen und wachsen dürfen, nur eben ersetzt durch grünere Substitute mit serienmäßig eingebauter Gewissensberuhigung. Kein Wunder, dass damit Wahlen zu gewinnen waren. Nun ist diese grüne Seifenblase geplatzt. Das bedeutet, die einzig wirksame politische Steuerung kann nur noch darin bestehen, den von der Bevölkerungsmehrheit zunehmend praktizierten ökologischen Vandalismus, sein Kosename lautet 'individuelle Freiheit', radikal einzuschränken." (In der Literarischen Welt lehnt Jonathan Franzen diesen Ansatz genauso radikal ab, siehe auch efeu)

Insekten sind als Nahrungsmittel nicht das Patentrezept für eine wachsende Menschheit, schreibt in der taz Andrew Müller, Autor einer Studie über "Entomophagy and Power". Dass das Sammeln wilder Insekten ökologische Gleichgewichte zerstört, habe sich in Ländern wie Thailand schon gezeigt. "Thailand ist auch Pionier bei der Zucht von Insekten. Es gibt nach Schätzungen der Universität Khon Kaen und des Landwirtschaftsministeriums etwa 20.000 Grillenfarmen, allesamt in den letzten gut zwei Jahrzehnten entstanden. Die dort produzierten Tiere sind zwar deutlich günstiger als wild gesammelten Insekten, aber immer noch teurer als Fleisch. Höchster Kostenfaktor ist das Futter. Es wird industriell gefertigt und muss proteinreich sein, wenn die Grillen schnell wachsen sollen. Daher enthält es neben importiertem Soja auch Fischmehl - ein ökologisch hochproblematischer Zusatz." Der Entomologe Victor Benno Meyer-Rochow unterstützt aber im Gespräch mit Müller die Idee des Insektenessens.
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Geschichte

In der NZZ kritisiert der Zeithistoriker Andreas Wirsching die zunehmende Neubewertung der Weimarer Reichsverfassung: Dahinter stecke der Wunsch, "Deutschland mit einer positiven demokratischen Tradition auszustatten", meint er und verweist darauf, dass die Weimarer Republik nicht zuletzt am Nebeneinander unterschiedlicher Demokatiemodelle scheiterte: "Tatsächlich waren es weniger die direktdemokratischen Elemente, die der Weimarer Republik zusetzten, auch wenn das Volksbegehren gegen den Young-Plan 1929 Adolf Hitler erstmals eine große nationale Bühne verschaffte. Weitaus gefährlicher war aber die Machtfülle des Reichspräsidenten, der drei Verfassungskompetenzen kombinieren konnte. Artikel 53 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) erlaubte ihm, den Reichskanzler zu ernennen und zu entlassen, und machte ihn damit zum Herrn über die Exekutive. Mit Artikel 25 konnte der Reichspräsident jederzeit den Reichstag auflösen und damit die Legislative zumindest temporär ausschalten."
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Politik

Die Frage ist für den New York Magazine-Kolumnisten Andrew Sullivan nicht, ob die amerikanische Demokratie eine zweite Amtszeit Donald Trumps überstehen wird, die Frage ist, ob sie die erste übersteht. Trumps Stärke ist die Schwäche der Institutionen und der Opposition, die ihm nicht Stand halten. "Die furchtbare Wahrheit ist, dass das amerikanischer Verfassungssystem bereits jetzt auf allen Ebenen versagt." Und Sullivan zeigt es an einem Einzelfall: "Heute kann die Zoll- und Grenzpolizei sich ermächtigt fühlen, einen amerikanischen Bürger als Immigranten ohne Papiere festzuhalten und Francisco Erwin Galicia zu 23 Tagen miserabler Gefangenschaft veruteilen, ohne Erlaubnis zu duschen, obwohl er seine Geburtsurkunde vorweisen kann. Während seiner illegalen Gefangenschaft hat er 26 Pfund verloren, weil er von seiner eigenen Regierung buchstäblich ausgehungert wurde. In welcher anderen Demokratie kann ein Regierungschef einem Bürger so etwas antun?"
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Kulturpolitik

Der Historiker Christoph Stölzl soll im Streit um das Jüdische Museum Berlin als "Vertrauensperson" vermitteln. Im Tagesspiegel-Interview mit Udo Badelt erklärt er äußerst diplomatisch, wie er auf Kritiker zugehen wird und antwortet Michael Wolffsohn, der ebenfalls im Tagesspiegel die Idee eines eigenen Jüdischen Museums problematisch nannte, weil es Juden einmal mehr "ghettoisiere": "Ich schätze Michael Wolffsohn für seine pointierten und leidenschaftlichen Stellungnahmen, aber das halte ich doch für falsch. Dafür ein paar Beispiele: Verstehen wir Heinrich Heine mehr als literarisches Genie oder als bewegendes Schicksal in der Emanzipationsgeneration? Kann man James Simon eher als preußischen Pionier der Ägyptologie sehen oder als jüdischen Philantropen? Walther Rathenau mehr als deutschen Politiker oder als jüdischen Märtyrer in der Epoche des Antisemitismus? Else Lasker-Schüler mehr als Figur der Avantgarde oder als jüdische Poetin? Bei all diesen Biografien mischt sich das eine mit dem anderen."
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