9punkt - Die Debattenrundschau

Qua eigener Herkunft

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2019. Der Tagesspiegel erklärt, was es mit dem "satisfaction paradox" bei AfD-Wählern auf sich hat: Es geht ihnen gut, und sie hassen trotzdem. Oskar Negt bleibt aber in der FR dabei: Der Kapitalismus war's gewesen. In der SZ fröstelt es Armin Nassehi angesichts der "sozialen Kälte" der Klimadebatte. Die NZZ analysiert das Problem der Gerontokratie in vielen afrikanischen Ländern. Der Guardian schildert die Angst der Iren vorm No Deal.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.08.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

"Vielleicht wählen viele Ostdeutsche die AfD, weil es ihnen gut geht", widerspricht Malte Lehming im Tagesspiegel der Theorie der Abgehängten: "Der typische AfD-Wähler ist ein Mann jüngeren oder mittleren Alters, er verdient gut und gehört zum eher gehobenen Bildungsdurchschnitt. Ihn treiben vorrangig nicht wirtschaftliche oder soziale Sorgen um, sondern die sogenannten SOS-Themen - Sicherheit, Ordnung, Sauberkeit. Er lehnt Zuwanderung ab, neue Familienformen, ist skeptisch gegenüber der Genderforschung und dem Klimawandel. Wirtschaftliche Faktoren spielen für seine Wahlentscheidung kaum eine Rolle. Er orientiert sich eher an immateriellen Begriffen wie Identität, Heimat, Abendland, Gemeinschaft (…) Das Magazin Economist bezeichnete das Phänomen vor wenigen Wochen als 'satisfaction paradox'. Offenkundig fühle die weit verbreitete Zufriedenheit der Menschen nicht zum Wunsch nach stabilen Verhältnissen, wie bislang angenommen worden war, sondern im Gegenteil: zum Protest, zur Revolte."

In der SZ fröstelt es den Soziologen Armin Nassehi angesichts der "sozialen Kälte" der Klimadebatte. Klimaaktivisten, die nicht über ihr Milieu hinausdenken, bezeichnet er als "denkfaule Demokratieverächter" : "Hier bricht sich die ganze Verachtung gegenüber anderen Lebensentwürfen und Lebensformen, anderen Milieus und nicht zuletzt den ökonomischen Zugzwängen einer Gesellschaft Bahn, wie wir sie auch aus anderen Politikfeldern kennen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu nannte diese Hybris eine scholastische Vernunft, die nur die Verabsolutierung der eigenen moralnahen Praxis gelten lassen will."
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Politik

18,4 Jahre beträgt das Durchschnittsalter in Nigeria, 63 Prozent der Menschen sind jünger als 25 - und dennoch wird das westafrikanische Land überwiegend von alten Männern im Pensionsalter regiert, konstatiert Fabian Urech in der NZZ und verweist auf die lähmenden gerontokratischen Machtstrukturen in ganz Afrika. Die Wahlbeteiligung ist gering, die Zahl der Proteste gestiegen. Aber: "Alter wiegt in Afrika oft mehr als Verdienst, Widerspruch gegenüber Älteren ist schwierig, auch wenn die Fakten klar sind. 'Alte irren sich nie, selbst wenn sie sich irren, und Junge wissen nie mehr als die Älteren, selbst wenn sie es tun', schreibt David Adeleke, ein Journalist aus Lagos. Der nigerianische Politologe Joseph Adebayo spricht von einer 'Kultur, die die Jungen zum Schweigen bringt'. Gemeint ist ein tief verwurzeltes konservatives Wertesystem, in dem man Alten und Althergebrachtem oft in blinder Ehrfurcht begegnet. Die Jungen tragen dieses System oft unhinterfragt mit."
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Ideen

Anlässlich seines 85. Geburtstages haben sich die Politologen Waltraud Meints-Stender und Dirk Lange mit dem Sozialphilosophen Oscar Negt zum großen FR-Gespräch getroffen und mit ihm über politische Bildung, die Krise der Demokratie und Rechtspopulismus gesprochen. Negt spricht unter anderem einer "Entwertung von Bindungen" durch den Kapitalismus: "Das Zerbrechen von Bindungen bedeutet nicht, dass die Bindungsbedürfnisse der Menschen nachlassen, im Gegenteil sie werden intensiviert, und die kulturellen Suchbewegungen sind darauf gerichtet, sich neue orientierende Bindungen zu verschaffen. Die Angebote von Kameradschaften, nationalen Ortsbestimmungen und Heimaten, die menschliche Nähe versprechen, sind keineswegs mehr bloße Phantasien. Ungarn ist nicht am Rand des europäischen Kosmos situiert, Frankreich und die Niederlande sind Zentralstaaten des europäischen Zusammenhangs."
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Medien

"Dass es in letzter Zeit auch junge Frauen sind, die als Hochstaplerinnen reüssieren, kann man als Fortschritt deuten: Es weist darauf hin, dass sie sich in gesellschaftlichen Positionen befinden, in denen andere ihnen zuhören, sie ernst nehmen und bewundern", schreibt Anne Waak in der Welt unter anderem mit Blick auf Marie Sophie Hingst (Unsere Resümees) und fragt dann doch etwas fundierter, weshalb sich viele HochstaplerInnen heute einen Opferstatus andichten: "Macht sich jemand, der sich als Opferenkelin mit intergenerationaler Traumatisierung darstellt, doch erst einmal kleiner, nicht größer. Im Kontext der aktuellen Diskursverhältnisse jedoch sprechen Opfer aus sehr plausiblen Gründen mit mehr Legitimität, als es andere - oder gar Täter - tun. In Zeiten der Identitätspolitik äußern sich nur diejenigen mit Fug und Recht, die ihre Aussagen qua eigener Herkunft verbürgen können. Auch insofern agierte Hingst (genau wie Dolezal) absolut zeitgenössisch. Als eine Folge des essenzialistischen Denkens tauchen nun also auch Schwindlerinnen und Schwindler auf, die Solidarität etwa mit Juden und Schwarzen nur im Modus der Identifikation für möglich halten."

In der SZ lässt uns Carolin Emcke an ihren moralischen Erwägungen über die Frage, ob sie ebenfalls über Hingst geschrieben hätte, teilhaben: "Ich weiß, dass ich mich auch in der Verantwortung gegenüber den echten Toten und Überlebenden der Schoah begriffen hätte."

Außerdem: Jetzt online Mohamed Amjahids Zeit-Geschichte über den Deutsche-Welle-Starmoderator Yosri F. (einst BBC und Al Jazeera), der der sexuellen Belästigung in mehreren Fällen beschuldigt wird und freigestellt wurde. Er selbst bestreitet die Anschuldigungen.
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Europa

Erstmals seit Jahren protestieren wieder vor allem junge Russen gegen die Regierung. Diese Proteste zeugen von einem Generationsbruch, sagt der Moskauer Politologe Alexander Kynew im Gespräch mit Bernhard Clasen von der taz: "Viele sehen sich in einer ausweglosen Situation. Die Preise steigen, die Einnahmen sinken. Es gibt kaum Aufstiegsmöglichkeiten. Gleichzeitig ist die Machtelite wie eine geschlossene Gesellschaft. Alle interessanten Posten sind fest in ihren Händen. Inzwischen macht sich auch die erste Generation der Kinder der postsowjetischen Elite in den Behörden und in der Wirtschaft breit. Aber wer nicht zu dieser Elite gehört, hat heute weniger Perspektiven als noch vor zehn Jahren. In dieser Situation können schon kleinere Anlässe eine soziale Explosion hervorrufen."

Boris Johnson, der gerade erst bei Nachwahlen einen Sitz im House of Commons veloren hat und nur mehr über eine Stimme Mehrheit verfügt, hört nicht auf, mit dem No Deal-Brexit zu drohen. Die irische Journalistin Dearbhail McDonald schildert im Guardian die komplexe Gefühlslage in Nordirland, dessen protestantische Unionisten ja konstitutiv sind für Johnsons bisherige Mehrheit: "Obwohl die Unionisten vorerst von Johnson beruhigt werden, muss ihr Vertrauen, dass ein harter Brexit kein vereinigtes Irland hervorbringen wird, auch mit der Zeit ausfransen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass fast zwei Drittel der Torys in Umfragen angeben, dass sie lieber die Union opfern - und Nordirland und Schottland dabei zusehen, wie sie sie verlassen - als Brexit aufzugeben." Die Debatte über eine irische Vereinigung aber beginnt alle Parteien ernstlich umzutreiben, sagt McDonald weiter.

Dass es wohl nichts mit "easy-peasy-Brexit" wird, wird jetzt auch den Walisern klar, die 2016 mehrheitlich für den Brexit stimmten, schreibt Cathrin Kahlweit in der SZ: "Walisische Farmer, die 2016 'die Kontrolle zurück' haben wollten, wie der Slogan der Leave-Kampagne lautete, werden nervös. Zum ersten Mal realisieren die Schafzüchter, dass ihnen ein riesiger Markt wegbrechen, dafür aber hohe Zölle ins Haus stehen könnten. Zum ersten Mal wird den Bauern klar, dass die Subventionen vermutlich nicht, oder nur kurzfristig, von London übernommen werden. Sie lernen: Es geht um ihr Geld, um ihre Existenzen."
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Geschichte

Absolut sehenswert findet Markus M. Haefliger in der NZZ die Ausstellung "Culture under Attack" im Londoner Imperial War Museum, die ihm vor Augen führt, wie über Jahrhunderte hinweg gezielt Kulturschätze in Kriegen zerstört wurden: "Die Kuratorin Paris Agar führt die Zerstörungswut der Barbaren auf verschiedene Beweggründe zurück. 'Oft soll die Bevölkerung demoralisiert werden', sagt sie. Ein Beispiel sind die 'Baedeker-Angriffe' durch die deutsche Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Der gleichnamige Fremdenführer aus der Zwischenkriegszeit hatte deutschen Touristen empfohlen, die englischen Kulturstädte Bath, Canterbury, Exeter, Norwich und York zu besuchen. Im Krieg wurden sie zum Ziel ausgewählter Bomberangriffe."
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