9punkt - Die Debattenrundschau

Bewusste Wahl

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2019. Das Attentat von El Paso war das dritte "8chan"-Attentat in diesem Jahr. Bellingcat zeigt, wie diese rechtsextreme Plattform, auf der sich auch der Attentäter von Christchurch tummelte, den Täter von El Paso inspirierte. Die taz hat das Manifest des Täters gelesen, der sich auf die rassistische Idee des "Bevölkerungsaustauschs" bezieht, die auch in rechtspopulistischen Parteien populär ist. Die New York Times porträtiert Frederick Brennan, den Gründer von 8chan. Politico.eu erzählt, wie Jaroslaw Kaczynskis PiS-Partei Stimmung gegen Schwule macht und wie diese sich wehren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.08.2019 finden Sie hier

Politik

8chan-Gründer Frederick Brennan. Videostill aus einem kurzen Interview mit Al Jazeera 2015


In der New York Times porträtiert Kevin Roose Frederick Brennan, den Gründer des Message-Boards 8chan, das er 2015 an den Army-Veteranen  Jim Watkins verkaufte. Hier veröffentlichte der Attentäter von El Paso, Patrick Crusius, sein Manifest, bevor er in einem Supermarkt zwanzig Menschen abknallte. "In den letzten Monaten ist 8chan zu einer Anlaufstelle für gewalttätige Extremisten geworden. Mindestens drei Massenerschießungen in diesem Jahr - darunter die Moschee-Morde in Christchurch, Neuseeland, und die Synagogen-Schießerei in Poway, Kalifornien - wurden im Voraus auf der Website angekündigt, oft begleitet von rassistischen Schriften, die im Internet viral zu werden scheinen. Brennan startete das Online-Messageboard als Utopie der freien Meinungsäußerung. Aber jetzt ist 8chan als etwas anderes bekannt: ein Megaphon für Massenschützen und eine Rekrutierungsplattform für gewalttätige weiße Nationalisten. ... Brennan, der seit letztem Jahr nicht mehr mit dem jetzigen Eigentümer der Webseite zusammenarbeitet, forderte jetzt, dass sie abgeschaltet wird, bevor sie zu weiterer Gewalt führt. 'Schalten Sie die Website ab', sagt er im Interview. 'Sie nützt der Welt nichts. Sie ist ein komplettes Negativ für alle, außer für die Nutzer, die dort sind. Und weißt du was? Sie ist auch für sie ein Negativ. Sie merken es nur nicht.'"

Das Massaker des 21-jährigen Crusius war klar durch die rechtsextreme identitäre Idee des "Bevölkerungsaustauschs" motiviert, schreibt Bernd Pickert in der taz, der das vierseitige Manifest des Mörders gelesen hat: "Er habe, schreibt C., die Hispanic-Community gar nicht im Visier gehabt, bevor er 'Der große Austausch' gelesen habe, jenes 2011 erschienene Pamphlet des französischen Philosophen Renaud Camus, das für Europa und Nordamerika einen Bevölkerungsaustausch prognostiziert, der zum Untergang der Weißen führen werde. In Deutschland wurde der Band im Verlag des völkisch-neurechten Vordenkers Götz Kubitschek veröffentlicht - es kann sicher als einer der wichtigsten Texte aus dem Gründungsfundus der rechten Identitären Bewegung gelten."

Die Idee des "Bevölkerungsaustauschs" schafft zugleich die Verbindungslinie zwischen den Extremisten und Bewegungen wie der AfD, die Terror ablehnen, deren "Zustimmung zu den apokalyptisch-warnenden Diskursen" es aber erst möglich mache, dass sich Täter wie C. radikalisieren, so Pickert in seinem Kommentar zu dem Terrorakt.

Im Guardian sieht Jeff Sparrow das ähnlich: "Wir müssen echten Faschismus, eine Ideologie der Gewalt, die sich auf die Vernichtung von Gegnern konzentriert, vom rechtsgerichteten Populismus eines Trump, der Fox News und Pauline Hansons unterscheiden. Aber wir müssen auch erkennen, dass die Normalisierung des Rassismus - durch Populisten und andere - die Arbeit der Faschisten erleichtert. Wenn Andrew Bolt zum Beispiel sagt, dass 'die Einwanderung zur Kolonisation wird', dann sind seine Thesen über den Anteil der Muslime in Lakemba und die Zahl der Juden in North Caulfield kein Aufruf, Einwanderer zu töten. Bolt ist kein Faschist, aber seine Arbeit trägt dazu bei, die 'Great Replacement'-Theorie, die mit allen aktuellen faschistischen Terroristen verbunden ist, zu popularisieren und bietet einen Kontext, in dem Gewalt gegen vermeintliche 'Kolonisatoren' notwendig erscheinen kann."

Dies ist das dritte 8chan-Massaker innerhalb von Monaten, schreibt Robert Evans in einem sehr instruktiven Artikel für Bellingcat. 8chan ist ein Forum, auf dem sich amerikanische Rechtsextreme tummeln und eine gewisse Geheimsprache pflegen. Patrick Crusius bekennt sich in seinem Manifest zu dem Attentäter von Christchurch. Von dieser Tat hatte sich bereits ein Täter inspirieren lassen, der im April eine Synagoge in Kalifornien attackiert hatte. Die Forumsmitglieder auf 8chan fachsimpeln über "Bodycounts" der einzelnen Mörder: "Was wir hier sehen, bezeugt die einzige wirkliche Neuerung die 8chan für den globalen Terrorismus brachte: die Gamification der Gewalt. Dies bezeugen nicht nur die Bezüge zu den 'Body counts', sondern die ganze Art und Weise, in der das Christchurch-Massaker ausgeführt wurde. Brenton Tarrant hat seine Tat mit einem  Helm gefilmt, was sie genau wie ein First-Person-Shooter-Videospiel aussehen ließ. Das war eine bewusste Wahl."

Der Protest der jungen Hongkonger ist nichts anderes als das verzweifelte Aufbegehren gegen eine drohende Gleichschaltung, schreibt Felix Lee in der taz. Anders als ihre Elterngeneration profitierten sie nicht einmal mehr wirtschaftlich von Festlandchina, "sondern im Gegenteil: Sie leiden unter dem Ansturm reicher Festlandchinesen in ihre Stadt, den exorbitant gestiegenen Immobilienpreisen und den teuren Geschäften und Restaurants, die allesamt auf die kaufkräftigen Touristen aus der Volksrepublik ausgerichtet sind."
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Europa

Jaroslaw Kaczynskis PiS-Partei war noch nie ein Freund der Homosexuellen, aber jetzt wird die LGBT-Bewegung erstmals zum Ziel aggressiver Kampagnen gemacht. Eine Pride-Parade in Bialystok wurde sogar physisch angegriffen, schreibt Zselyke Csaky bei politico.eu: Aber andererseits gibt es auch angesichts neuer Parteien in Polen eine neue Solidarität: "In Polen wehrt sich die LGBT-Community. In den letzten Tagen hat der Hashtag #jestemLGBT ('ich bin LGBT') Twitter im Sturm erobert und ein massenhaftes Coming out ausgelöst. Die Kampagne zeigte gewöhnlichen Polen, dass LGBT-Menschen nicht Ideologen, sondern normale Bürger sind. Die Community hat auch immer mehr Verbündete. Zehntausende marschierten im größten Pride Event in Mitteleuropa in Warschau mit, und einige Demonstrationen antwroteten auf die Gewalt in Bialystok im Juli."
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Ideen

Traditionsverbundene, abgehängte Landbevölkerung? Gibt's gar nicht, meint Nils Markwardt auf Zeit online, die ist nur eine Erfindung der Konservativen. Und wo es sie doch gibt, sind die Konservativen schuld an der Misere, die immer versichert hätten, unregulierter Kapitalismus und Globalisierung würden am Ende schon alles richten: "Da die politische Thematisierung dieses Umstands aber die konservative Mitverantwortung offenlegen würde, passiert das, was man schon aus Kohls 'geistig-moralischer Wende' in der Wirtschaftskrise 1982 oder von den US-Republikanern kennt: Statt ökonomische Strukturprobleme anzusprechen, werden Konflikte kulturell überdeterminiert. Um zu überdecken, dass die eigene wirtschaftspolitische Agenda mitverantwortlich für die Abgehängtheit vieler Wähler ist, wird ein kultureller Ersatzkonflikt geschürt, der sich dann wahlweise auf Minderheiten oder vermeintliche Kultureliten in den Städten bezieht."

Der Spiegel-online-Kolumnist Christian Stöcker hält Verbote zur Bekämpfung der Klimakrise für richtig. Verbote seien nichts anderes als Gesetze. Die Kritik von Liberalen an dieser Idee zeige eher, dass Liberale über ihren nationalen Tellerrand nicht hinausblicken, so Stöcker: "In unserer globalisierten Welt wird das Konzept des Liberalismus ziemlich hohl, wenn man individuelle Freiheit immer nur innerhalb der aktuellen Staatsgrenzen einfordert - und nur mit Blick auf die eigene Generation. Genauso hohl übrigens wie ein linkes Denken, das sich nur für Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich im nationalen Rahmen interessiert."

Mimetisches Begehren, dass man also etwas begehrt, weil ein anderer das auch tut, gibt es nicht nur in der Liebe, erklärt der 2015 verstorbene französisch-amerikanische Denker René Girard in einem NZZ-Interview, das Robert Pogue Harrison 2005 mit ihm führte. "Die mimetischste Institution von allen ist eine kapitalistische: die Börse. Man will eine Aktie nicht, weil ihr etwas objektiv Begehrenswertes eignet. Man weiß überhaupt nichts über sie, aber man ist allein darum auf sie erpicht, weil andere Leute sie auch haben wollen. Und wenn alle sie haben wollen, steigt ihr Wert ins Unermessliche. So betrachtet, ist das mimetische Begehren eine Art absoluter Herrscher."

Ebenfalls in der NZZ schreibt Rainer Stadler zum 50. Todestag Theodor W. Adornos.
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Kulturpolitik

In der NZZ hofft Constanze Letsch auf eine neue, fortschrittliche Kulturpolitik des Wahlsiegers um das Bürgermeisteramt von Istanbul, Ekrem Imamoglus. Einfach wird das nicht: "Der Autor Uyurkulak hat Vertrauen in die Wahlversprechen des ambitionierten Politikers, aber er will die Realität dabei nicht aus dem Blick verlieren. 'Ich bin optimistisch und denke, dass etwas Positives passiert.'" Aber er "'bezweifle auch, dass er das Geld finden wird, um jedem Viertel der Stadt ein Theater zu garantieren.' In der Tat hinterlässt die scheidende AKP-Stadtverwaltung dem neuen Bürgermeister einen Schuldenberg von rund 22 Milliarden türkischen Lira und eine Stadt, die mit weitaus dringenderen Problemen zu kämpfen hat als einem fehlenden Festivalprogramm."
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Stichwörter: Türkei, Istanbul, Akp