9punkt - Die Debattenrundschau

Aus der Position der Vogelfreiheit

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2019. Die amerikanischen Medien verarbeiten noch den Schock von El Paso und Dayton. Im Atlantic erklärt John Temple, der einst über das Massaker von Columbine berichtete, warum er keine Berichte über solche Mordanschläge mehr liest. In der New York Times zeigt der Terrorismusexperte Ali H. Soufan Verbindungslinien zwischen Dschihadisten und "White Supremacy"-Terroristen auf. Im Tagesspiegel fragt Julius H. Schoeps, wofür Identitätsfälschungen wie bei der Bloggerin Marie Sophie Hingst ein Symptom sind.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.08.2019 finden Sie hier

Politik

Die amerikanischen Medien verarbeiten noch den Schock von El Paso und Dayton.

Sehr viel retweetet wird ein Atlantic-Artikel John Temples, der im Jahr 1999 für die Rocky Mountain News über das Massaker von Columbine berichtete und damals noch hoffte, es könne etwas in Amerika verändern: "Heute bin ich nicht mehr Journalist. Wann immer ein solches Massaker stattfindet, habe ich keine Lust mehr, die Geschichten zu lesen oder die Bilder zu sehen. Es gibt ein Ritual in der Berichterstattung, und ich habe das Gefühl, dass sie immer den selben Bogen schlägt und am selben Ende angelangt. Journalisten erzählen, wie es war, das Massaker zu überleben. Dann erzählen sie rührende Geschichten über die Leben der Opfer, erklären, wo und wie die Waffen gekauft wurden, bringen Porträts des Killers oder der Killer und schreiben über die Kämpfe der Verletzten. Und dann ist wieder Alltag - bis zum nächsten Massaker."

Es gibt viel mehr Ähnlichkeiten zwischen Dschihadisten und White-Supremacy-Terroristen als man denkt, schreibt in der New York Times Ali H. Soufan, der sich als früherer FBI-Agent jahrelang mit dem radikalen Islamismus befasste: "Die verstörendste von allen liegt darin, dass beide Gruppen über Kriegszonen in der realen Welt verfügen, wo sie kämpfen lernen. Dschihadis hatten Afghanistan in den Achtzigern, den Balkan in den Neunzigern und Syrien heute. White supremacists haben den Krieg in der Ostukraine, in dem sie auf beiden Seiten kämpfen. Dr. Kacper Rekawek, Spezialist für das Thema, schätzt, dass 17.000 Menschen aus fünfzig Ländern, inklusive der Vereingten Staaten und ihrer Verbündeten in die Ukraine gereist sind, um dort zu kämpfen... Der Attentäter von Christchurch brüstete sich in seinem Manifest, dass er in die Ukraine gereist sei."

Auf den neuen rechtsextremistischen Terror der "White Supremacy" sind die amerikanischen Behörden gar nicht vorbereitet, berichtet Markus Reuter bei Netzpolitik nach dem Attentat von El Paso: "Auch die US-Bundespolizei FBI steht in der Kritik, keine Kategorie für die 'White Supremacy'-Extremisten zu haben. Bislang teilt das FBI die Bedrohungen des inländischen Terrorismus in vier Hauptkategorien ein: rassistisch motivierter gewalttätiger Extremismus, Anti-Regierungs-/Anti-Autoritäts-Extremismus, Tierrechts- und Umweltextremismus sowie Abtreibungsextremismus. Im Frühling dieses Jahres warnte die Behörde laut Yahoo News in einem Bulletin erstmals vor einem durch Verschwörungstheorien getriebenen Extremismus. Der Bericht erwähnt aber nicht ausdrücklich, dass die meisten Täter aus diesem Feld Rassisten und Anhänger einer weißen Vorherrschaft sind."

Bei dem Attentäter von Dayton stellt sich unterdessen heraus, dass es noch ganz andere Niederungen des menschlichen Geistes gibt: "Vor seinem Mord an neun Menschen  am frühen Sonntag in Dayton, Ohio, war Connor Betts tief in die frauenfeindliche, von Männern dominierte extreme 'goregrind'- oder 'pornogrind'-Metal-Musikszene verwickelt", berichtet Daniel Newhauser bei Vice News. Sie hat eine regionale Anhängerschaft im Mittleren Westen und ist bekannt für sexuell gewalttätige, todbesessene Texte und entmenschlichende Bilder von Frauen."

Im Interview mit Zeit online macht der amerikanische Ökonom Dennis Snower für den wachsenden Rassismus in den USA neben Identitätsdenken und Donald Trump auch die wachsende Ungleichheit im Land verantwortlich: "Die Globalisierung und der technologische Fortschritt bevorzugen prinzipiell Menschen mit hoher Qualifizierung. Die Folge ist ein verstärkter Kampf um den sozialen Status in der Gesellschaft. Menschen mit einer guten Bildung und Ausbildung können diesen Kampf erfolgreich auch über Ländergrenzen hinweg führen. Weniger Qualifizierte erkennen dagegen, dass sie in dieser Auseinandersetzung kaum Chancen haben. Deshalb suchen sie sich andere Ziele. Eines ist, eine nationale, eine ethnische oder auch soziale Zugehörigkeit zu definieren. ... Es geht um eine Verbesserung ihrer Lage, aber nicht unbedingt im materiellen Sinne. In dieser Hinsicht sehen sie, dass sie chancenlos sind. Wenn man sich aber auf die soziale Zugehörigkeit konzentriert, kann man wieder an Selbstbewusstsein gewinnen."

Außerdem: Im Feuilleton der NZZ erklärt Niall Ferguson, wie Donald Trump "die einst mächtigen Notenbanker ausgetrickst hat".
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Medien

Der KKR-Deal hat geklappt. Der Springer Verlag wird wohl von der Börse genommen, wenn der Investor den Konzern übernimmt, berichtet unter anderem Peter Weissenburger in der taz. Springer will sich noch mehr aufs Digitalgeschäft konzentrieren. "Publikumsjournalismus ist längst nicht mehr das Hauptgeschäft von Springer... Der Springer-Betriebsrat befürchtet derweil Einschnitte beim Personal, wenn der US-Konzern die Anteile übernimmt. Zwei Tage vor Fristablauf gab die Angestelltenvertretung eine entsprechende Stellungnahme heraus."
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Stichwörter: Springer Verlag, Kkr

Geschichte

In der SZ findet der Historiker Stephan Malinowski es einfach absurd, dass die Hohenzollern jetzt versuchen, sich als Widerstandskämpfer gegen Hitler zu stilisieren, um Entschädigung für Enteignungen zu erhalten: "Die politische Bedeutung der Hohenzollern nach dem Ersten Weltkrieg ist auch in dem zu suchen, was 1933 und 1944 nicht geleistet wurde: die Darstellung einer konservativen Alternative zum Nationalsozialismus." Und überhaupt wird die Rolle des Adels im Widerstand übertrieben, findet Malinowski: "Wer über viele Jahre Europas Geschichte unterrichtet, stellt fest: Studenten aller Länder der Welt kennen Stauffenberg, einige haben von den Scholls gehört, niemand von der Berliner Widerstandskämpferin Elise Hampel, obwohl letztere Vorbild für die Heldin in Hans Falladas Roman 'Jeder stirbt für sich allein' war. Wenn aber, wie etwa die Verteidiger eines monumentalen Stauffenberg-Bildes fordern, 'Gewissen' die Leitkategorie zur Beurteilung von Widerstand sein soll, wäre schwer zu sehen, womit der Oberst der Wehrmacht die 21-jährige Studentin Sophie Scholl überstrahlen sollte."
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Gesellschaft

Im Tagesspiegel überlegt der Historiker Julius H. Schoeps anlässlich des Selbstmordes der Bloggerin Marie Sophie Hingst, warum manche Menschen - er nennt eine ganze Reihe an Beispielen - unbedingt in die jüdische Opferrolle schlüpfen möchten: "Die Liste mehr oder weniger prominenter Fälle mit Sehnsucht nach Opferrolle und jüdischer Schein-Identität ließe sich beliebig fortsetzen. Hat das chronische 'Opfer-sein-zu-Wollen' vielleicht doch noch eine ganz andere, eine tiefere Bedeutung? Man kann die geschilderten Fälle nicht alle über einen Leisten schlagen, sollte sie aber als das ansehen, was sie tatsächlich sind: Syndrome einer Gesellschaft, die geradezu traumatisch an ihrer Vergangenheit leidet."

In der Welt denkt Hannah Lühmann über die Dialektik der neuen "Cancel Culture" nach, also über das relativ neue Phänomen, Künstlern oder Institutionen nach einem moralischen Fehlverhalten abzusagen. Kevin Spacey und Louis C.K. zeigen gerade, wie das zurückfeuern kann: "Interessant ist nun aber, dass es natürlich nicht beim 'Canceln' als einmaligem kulturellen Bannungsakt bleibt. Kultur ist kein steriles Arrangement nebeneinander existierender Einzelteile, aus denen man nach Belieben etwas entfernen kann. Wenn Menschen, die eben noch (etwa weil sie alt, weiß, männlich sind) als 'mächtig' empfunden wurden, auf einmal 'abgeschafft' werden, dann werden sie paradoxerweise genau in die Rolle des Outsiders versetzt, die zuvor jene für sich in Anspruch nahmen, die glauben, sich mithilfe von 'Cancel Culture' empowern zu müssen. Die Rolle des Outcast verschiebt sich ... Und aus der Position der Vogelfreiheit heraus lässt es sich bekanntlich ganz wunderbar kulturell produzieren."

In der Welt fragt Düzen Tekkal erstaunt, warum sich plötzlich Deutsche türkischer Herkunft als PoC bezeichnen, als "person of color" oder Farbige, wie man auf Deutsch sagt. Wäre es nicht fruchtbarer, am German Dream mitzuarbeiten, statt sich von der Gesellschaft abzuspalten? "Gibt es strukturellen Rassismus, gläserne Decken und Benachteiligung bei sichtbarer Migrationsgeschichte? Aber ja! Die Frage ist nur, was hilft dagegen? Und da halte ich Identitätspolitik für einen Teil des Problems, denn sie spaltet in Herkunft, Religion, Geschlecht, führt sich damit ad absurdum und macht genau das, was sie eigentlich verhindern will: Sie unterscheidet und spaltet nach Herkunft. ... Ja, wir müssen die Dinge klar aussprechen können, dazu gehört aber auch, dass wir überzeugt sind von den Grundprinzipien, die wir außerordentlich gut beherrschen. Dass 'Deutschsein' viele bunte Gesichter hat. Dass Pluralismus bei uns nicht nur Floskel, sondern ein Way of Life ist. Dass wir eine starke Zivilgesellschaft haben."

Außerdem: In der NZZ erzählt die russische Schriftstellerin Elena Chizhova, wie sich das Reiseverhalten der Russen seit dem Fall der Mauer verändert hat.
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Ideen

Welt-Autor Thomas Schmid stimmt in seinem Blog nicht ganz in die allgemeinen Hymnen auf Theodor W. Adornos neu edierte Schrift zum Rechtsextremismus von 1967 an - vor allem weil er in die grobschlächtige Theorie vom Faschismus als letztem Stadium des Kapitalismus zurückfällt und dabei den Blick auf die neue Bundesrepublik verliere: "Er verliert in der Rede kein einziges Wort über die Institutionen und ihre Erfolge bei der Etablierung einer neuen Ordnung. Das Grundgesetz würdigt er so wenig wie die Tatsache, dass es nun ein keineswegs machtloses Bundesverfassungsgericht gab. Die Parteien kommen so wenig vor wie die Zivilgesellschaft, die schon damals - unter entschiedener Mithilfe Adornos - die Republik zu festigen begann."
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