9punkt - Die Debattenrundschau

Wie schon 1989

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2019. In der Welt schildert Szczepan Twardoch die Verachtung der polnischen Inteligencja für das Volk. In der FAZ zeigt Marco Ebert, wie sich Judith Butler im Namen des Antirassismus von der Aufklärung verabschiedet. Die taz schildert den höchst emotionalen Streit zwischen Südkoreanern und Japanern um die Geschichte. Mehrere Medien fürchte eine chinesische Intervention in Hongkong. Und die New York Times erinnert mit dem "1619 Project" an die Geschichte der Sklaverei.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.08.2019 finden Sie hier

Europa

In der Welt schildert der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch die zunehmend brutale Homophobie in seiner Heimat, die er beim dortigen CSD erlebte, aber auch die Verachtung, mit der die dem polnischen Adel entwachsenen Inteligencja dem einfachen Volk entgegentritt: "Die Inteligencja verachtet die Plebs aus Prinzip. Sie verachtet, wie sich einfache Menschen kleiden. Sie sind entweder zu ärmlich oder zu verschwenderisch, weil sie nicht in der Lage sind, die Codes der Inteligencja zu lesen. Sie verachtet die Essgewohnheiten des Volkes. Sie verachtet die Passivität der Arbeitslosen und das Unternehmertum der Aufstiegswilligen. Die Inteligencja verachtet sogar - und das ist etwas speziell Polnisches - die Windschutzvorrichtungen, mit denen sich die Angehörigen der Plebs an den Ostseestränden voneinander abgrenzen. In Bialystok waren es Leute wie die vom Ostseestrand, die gegen den LGBT-Marsch auf die Straße gingen. Dessen Teilnehmer aber sind nicht die 'Herrschaften', gegen die sich der Hass des einfachen Volkes eigentlich richtet - und das macht die Angelegenheit so schwierig. Über Jahrhunderte vererbte Verachtung erzeugt Ressentiment."

Während Matteo Salvini, Berlusconis "vulgärer Schatten", noch die Nähe zum Volk sucht, baut sich im Hintergrund schon der nächste Rechtspopulist auf, schreibt Georg Seeßlen in einem Essay auf Zeit Online, in dem er den italienischen Populismus unter die Lupe nimmt: "Gaio Giulio Cesare Mussolini von den faschistischen - oder 'postfaschistischen', wie er es selbst nennt - Fratelli d'Italia: ein weltläufiger, stilbewusster Mann, der aussieht, als würde er nicht einmal an heißesten Tagen das Jackett ablegen, der sich in gewählten, distanzierten Worten ausdrückt ... und der sich an Medien nie 'heranschmeißt', sondern ihre Vertreter empfängt und entlässt, ganz faschistischer, Verzeihung, postfaschistischer Fürst..."
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Ideen

Die FAZ stellt dankenswerter Weise den Artikel des Historikers Marco Ebert über Judith Butler von den gestrigen Geisteswissenschaftenseiten online. Er zeigt, wie sie sich im Namen des Postkolonialismus und Antirassismus komplett vom aufgeklärten Denken verabschiedet: "Das tut sie, indem sie eine Neudefinition von Freiheit fordert, die nicht mehr auf Subjektivität, sexueller und künstlerischer Ausdrucksfreiheit beruht, sondern vom Begriff der Handlungsfähigkeit (agency) ausgeht: Agency 'erlaubt diverse Praktiken als Ausdruck von Freiheit vorzustellen, die nicht unbedingt dem Individuum entspringen oder irgendeiner innerlichen Vorstellung von Selbstbestimmung'. Eine solche Praktik ist für Butler beispielsweise die 'Freiheit, eine Burka zu tragen'."
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Politik

Drei Frauen wurden im Iran zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie sich in einem Video ohne Kopftuch zeigten, berichtet Frank Nicolai bei hpd.de: "Die drei Frauen waren im April 2019 verhaftet worden, weil sie am internationalen Frauentag ein Video ins Internet gestellt haben, das die Aktivistinnen zeigt, wie sie in Teheran ohne Kopftuch durch einen U-Bahn-Waggon gehen und Blumen an Frauen verteilen. Die drei wurden wegen 'Versammlung zum Verstoß gegen die nationale Sicherheit', "Propaganda gegen den Staat" und 'Anstiftung und Begünstigung von Verdorbenheit und Prostitution' verurteilt."

Fabian Kretschmer schildert in der taz den komplexen und hochemotionalen Konflikt zwischen Südkorea und Japan um die Vergangenheit - genauer um all das, was die Japaner den Koreanern antaten. Es hatte ein mit Geld abgepolstertes Schweigeabkommen gegeben, aber die linke südkoreanische Regierung um Präsident Moon hat es kassiert, und koreanische Gerichte fordern von japanischen Unternehmen drastische Entschädigungszahlen. Japan sagt sein, und es entwickelt sich ein Handelkonflikt: "Die Stimmung wird sich hochschaukeln: Am Donnerstag feiert das Land den Tag der Unabhängigkeit von den japanischen Besatzern. In diesem Jahr werden die Feierlichkeiten vom Zorn gegen die Abe-Regierung überschattet. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Realmeter würden mittlerweile rund 65 Prozent aller Koreaner am Boykott gegen japanische Produkte teilnehmen. Die Umsätze der japanischen Kleidungskette Uniqlo sind seit Beginn des Konflikts um 40 Prozent eingebrochen." Mehr Hintergründe in Kretschmers Kommentar.

Die Drohungen der chinesischen Regierung den Demonstranten in Hongkong gegenüber werden schärfer, schreibt der Politologe Minxin Pei im Tagesspiegel und warnt vor einem erneuten Tian'anmen-Massaker: "Hongkongs Bürger würden chinesische Regierungstruppen mit ziemlicher Sicherheit als Besatzer behandeln und den denkbar größten Widerstand leisten. Den daraus folgenden Zusammenstößen würden wahrscheinlich sehr viele Zivilisten zum Opfer fallen. Dies wäre das offizielle Ende des Mottos 'ein Land, zwei Systeme', da die chinesische Regierung gezwungen wäre, die direkte und vollständige Kontrolle über Hongkongs Verwaltung auszuüben. Und würde die Legitimität ihrer Regierung auf diese Weise zerstört, würde die Stadt sofort unregierbar werden. Beamte würden scharenweise ihre Arbeitsplätze verlassen, und die Bevölkerung würde weiterhin Widerstand leisten."

"Ganz Hongkong ist inzwischen eine Kampfzone", berichtet derweil Xianfan Yang bei Zeit Online: "Wird die Zentralregierung die Proteste niederschießen lassen? Unter den Demonstranten findet man immer mehr, die willens sind, ins Gefängnis zu gehen. Einige sind bereit zu sterben. Aber wofür? Darüber herrscht mitunter Verwirrung. Die große Mehrheit der Regierungsgegner fordert zumindest die endgültige Rücknahme des Gesetzes, das Auslieferungen an Festlandchina ermöglicht, an dem sich die gegenwärtige Krise entzündet hat, und außerdem eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Immer mehr Regierungsgegnern reicht das aber nicht mehr. 'Befreit Hongkong, Revolution unserer Zeit' heißt der neue Slogan dieser Tage, zehntausendfach skandiert, an jeder Straßenecke als Graffiti gesprüht. Manche verstehen darunter die Wahrung der bisherigen Sonderrechte Hongkongs. Andere fordern freie Wahlen." Chinas Einmarsch in Hongkong wäre nicht nur ein Völkerrechtsbruch, sondern würde auch Xi Jinpings Pläne, China als "glorreiche Weltmacht" zu etablieren, gefährden, ergänzt Torsten Krauel in der Welt: "Ein Einmarsch dort, begleitet und gefolgt von Gewaltausbrüchen und Verhaftungen, würde die Parade am 1. Oktober zu einer Siegesparade über chinesische Jugendliche, Frauen und Kinder machen, wie schon 1989."
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Gesellschaft

In ihrem neuen Buch "Politischer Islam. Stresstest für Deutschland" - vorabgedruckt in der Zeit - kritisiert die Ethnologin Susanne Schröter die mangelnde Distanz der deutschen Politik Islamisten und Fundamentalisten gegenüber: "Obgleich sie nur eine Minderheit der in Deutschland lebenden Muslime vertreten, haben sie sich als alleinige Repräsentanten ihres Glaubens etabliert. Fatalerweise führte das dazu, dass in Bund, Ländern und Kommunen viele Kooperationen zwischen ihnen und staatlichen Einrichtungen geschlossen wurden." Aber: "Funktionäre des politischen Islams und ihre nichtmuslimischen Unterstützer lassen nichts unversucht, um eine solche Debatte zu verhindern. Zu diesem Zweck haben sie zwei Begriffe entwickelt, die all jene diskreditieren sollen, die es wagen, den politischen Islam zu kritisieren. 'Islamophobie' und 'antimuslimischer Rassismus' nennen sich die Wortungetüme. Hier kann keine wissenschaftliche Dekonstruktion dieser kruden Konzepte erfolgen. Doch so viel sei abschließend bemerkt: Eine freie Gesellschaft lebt von einer freien Debatte, gerade dann, wenn es um eine totalitäre Bewegung geht, die die Fundamente unserer Gesellschaft angreift."

Im anschließenden Zeit-Gespräch mit Evelyn Finger erklärt Schröter, weshalb sie die "Kopftuch-Konferenz" nicht bereut und warum sie das Kopftuch kritisiert: "Ich kritisiere es als Zeichen eines frauenfeindlichen Glaubenssystems, das fordert, weibliche Reize zu bedecken, um Männer nicht zum Sex anzustacheln. Die Konsequenz ist, dass Vergewaltigungen den weiblichen Opfern angelastet werden, auch vor Gericht, etwa in Afghanistan oder Saudi-Arabien. Wenn eine einzelne Frau sich für das Tragen des Kopftuchs entscheidet, akzeptiere ich das voll und ganz. Ich stelle auch Frauen mit Kopftuch am Forschungszentrum 'Globaler Islam' ein."

Ganz von der Hand weisen kann Can Dündar in seiner Zeit-Kolumne die Vorwürfe, die Ai Weiwei gegen die deutsche Debattenkultur erhoben hat (Unsere Resümees) nicht: "Ein Autor, der in der Türkei ziemlich beliebt ist, kehrte nach einiger Zeit nach Berlin zurück. Seine Begründung: 'Die Verlage, bei denen ich mein Manuskript einreichte, sagten: 'Wir hatten anderes von Ihnen erwartet.' Als ich nachhakte, wurde mir klar, dass die Erwartungen sich darauf beschränkten, von mir etwas über die Türkei zu bekommen. Man gab mir zu verstehen, nur deutsche Autoren hätten das Privileg, universale Themen zu bearbeiten.'" Welche deutsche Kultur kritisiert Ai Weiwei eigentlich?, spottet Benedict Neff in der NZZ indes mit Blick nach Berlin: "Die Stadt zeichnet sich gerade durch ihre Distanz zu Deutschland aus, ihre Leitkulturferne."

Zunehmend müssen sich auch schwule, weiße, alte Männer innerhalb der LGBTQI*-Community für ihre Privilegien verantworten, beobachtet Dirk Ludigs im Tagesspiegel und findet das durchaus "erfreulich": "Beim Stonewall-Aufstand in New York standen nämlich mitnichten weiße schwule Männer in der ersten Reihe, sondern trans Frauen of color - später nahezu völlig marginalisiert, in Armut verstorben und über Jahrzehnte fast vergessen. In Berlin waren lesbische Frauen sehr wohl von Anfang an bei der 'Homosexuellen Aktion Westberlin' dabei.  Es waren schwule Männer, die die Vereinsräume über und über mit Penis-Bildern dekorierten, und lesbischen Frauen damit zu verstehen gaben, welche Rolle sie im homosexuellen Aufbruch spielen würden - nämlich allenfalls eine am Rand. Erst danach begannen die Frauen mit dem Lesbischen Aktionszentrum ihr eigenes Ding zu machen."
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Geschichte

In der Zeit erinnert der Historiker Andrej Angrick an die kaum erforschte Geheimaktion 1005 - jene Aktion, mit der die Nationalsozialisten vor 75 Jahren alle Spuren des NS-Genozids in der Sowjetunion und Osteuropa auslöschen wollten: "Die NS-Führung ist besorgt, dass durch die propagandistische Verbreitung solcher 'Gräuelmeldungen' die Loyalität der NS-'Volksgemeinschaft' zum Regime erodieren könnte. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels fürchtet darüber hinaus, dass die Nachgeborenen womöglich nicht mehr die 'Tatkraft' und die 'Wachheit des Instinkts' besäßen, um die 'Judenfrage einer endgültigen Lösung zuzuführen', wie er am 7. März 1942 in seinem Tagebuch notiert. Intern beschönigt man die eigenen Verbrechen also nicht. Das Gewissen der gemeinen Volksgenossen aber soll nicht mit dem Wissen über das nationalsozialistische Vernichtungsprogramm belastet werden: Man will die 'innere Wehrhaftigkeit' der Bevölkerung nicht gefährden. Früh untersagt man deshalb private Foto- und Filmaufnahmen von Exekutionen."

Die New York Times präsentiert heute eine Sonderausgabe der New York Times Magazine mit dem "1619 Project", das auch online sehr prächtig geraten ist  - zum 400. Jahrestag der ersten Sklaven, die auf einem Boot in Amerika anlandeten. Es handelt sich um das größte Projekt dieser Art, das die Times je stemmte. Frauke Steffens berichtet in der FAZ über das Projekt: "Dass die New York Times diesen Aufwand betrieb, ist der Autorin Nikole Hannah-Jones zu verdanken. Sie hatte die Idee und überzeugte erst die Redakteure und dann renommierte afroamerikanische Historikerinnen, Dichter und Aktivisten von dem Projekt."
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Medien

Das goldene Zeitalter des Zeitungsjournalismus in den USA, das in heutigen Niedergangsszenarien als Kontrastfolie dient, war eine historische Parenthese, die von 1940 bis 1980 währte, schreibt Heidi Tworek bei niemanlab.org. "Amerikanische Mainstream-Newsmedien gediehen in der Nachkriegszeit auf Grundlage eines komplexen Systems von Subventionen. Anzeigenkunden subventionierten amerikanische Zeitungen, um an den Massenmarkt der Konsumenten heranzukommen. Mitte des 20. Jahrhunderts brachten Anzeigen etwa 80 Prozent des Umsatzes. Leser zahlten die übrigen 20 Prozent, die in etwa den Lieferkosten entsprachen. Aber auch die Leser subventionierten sich gegenseitig. Die Zeitung bot jedem etwas. Wer an harten News nicht interessiert war, las die Zeitung, um etwas über Sportergebnisse, das TV-Programm oder Jobanzeigen herauszufinden. Teure News und investigativer Journalismus wurden oft von Leuten bezahlt, die sie nicht lasen."
Archiv: Medien