9punkt - Die Debattenrundschau

Zählend, statistisch, in Mittelwerten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.08.2019. Die Digitalisierung wäre nicht entstanden, wenn die Gesellschaft sie nicht gewollt hätte, schreibt der Soziologe Armin Nassehi in der Welt. Die FAZ beschreibt, wie sich die Stimmung gegenüber religiösen Minderheiten in Indonesien immer mehr verfinstert. Die FAZ analysiert auch die Widersprüche des Sytems "Ein Land - zwei Systeme", das zu den tragischen Protesten in Hongkong führt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 26.08.2019 finden Sie hier

Ideen

Phänomene wie die Digitalisierung kommen nicht als etwas Fremdes über die Gesellschaft, sie können überhaupt nur gedeihen, weil die Gesellschaft sozusagen dafür schon innerlich bereit ist, schreibt Armin Nassehi in der Welt (und nimmt Thesen seines neuen Buchs auf, das in diesen Tagen erscheint). Im 19. Jahrhundert erkennt er so etwas wie eine Urgeschichte des Digitalen: "Die Etablierung von Nationalstaaten, Betriebskapitalismus, Sozial-, Hygiene-, Gesundheits- und Bildungsplanung, der Betrieb urbaner Konglomerationen, Mobilität und Transport, staatliche Investitionsplanung - all das brauchte Informationen, die der Welt nicht mehr so einfach abgetrotzt werden konnten. Man machte die Erfahrung, dass sich vieles tatsächlich nur digital, also zählend, statistisch, in Mittelwerten, in der Erkennung von Regelmäßigkeiten, in der Erfassung typischen Verhaltens für bestimmte Gruppen, Regionen und Klassen bestimmen lässt." Lässt sich das Internet so beschreiben, als wäre es an die Stelle des Rechenschiebers getreten?

In Deutschlandfunk Kultur sprechen Vera Linß und Marcus Richter mit Nassehi über seine Idee der Digitalisierung.
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Medien

In der NZZ ist die Literaturwissenschafterin Karin Neuburger immer noch empört über den Spiegel-Titel zu jüdischem Leben in Deutschland, der in Bild und Text das Deutsche zum Universalen erhebe und das Jüdische zum Anderen. "Hier wird das Judentum auf eine Weise dargestellt, die es als wesentlich vom 'Deutschen' unterschieden kennzeichnet - entweder aufgrund des äußerlichen Erscheinungsbildes oder aufgrund der Opferrolle, aufgrund von Riten, Sprache oder auch bestimmter Stigmata wie des übermäßigen Reichtums oder der Heimatlosigkeit. Das 'Deutsche' erscheint immer als das genaue Gegenteil dessen, was als 'jüdisch' definiert wurde, womit sich der Eindruck festsetzt, dass eine deutsche Mehrheitsgesellschaft ihre Identität sozusagen ex negativo, in Absetzung zum 'Anderen', bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist die Wahl des Fotos der beiden orthodoxen, aus Osteuropa stammenden Juden auf dem Titelblatt der Spiegel-Ausgabe nur konsequent, aber umso skandalöser im Mechanismus, der in dieser Wahl zum Ausdruck kommt."

Die Welt bringt einen Auszug aus Philipp Ruchs Buch "Schluss mit der Geduld! Eine Anleitung für kompromisslose Demokraten", in dem sich der Aktionskünstler sehr konkret mit dem deutschen Phänomen der Talkshows auseinandersetzt, in denen vor allem Politiker reden: "Wäre die Direktverschaltung der Politik mit ihren Wählern etwas demokratietheoretisch Wünschenswertes gewesen, hätte das Grundgesetz vielleicht Sendeplätze in den öffentlich-rechtlichen Medien für Politiker festgeschrieben. Aber die Rolle der vierten Gewalt (zu der auch Talkshows zählen) besteht darin, die Macht zu kritisieren, zu kontrollieren, notfalls auch zu beschneiden."
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Religion

In Indonesien wird die Verfolgung von Christen und anderer Nichtmuslime immer schlimmer, berichtet Marco Stahlhut in der FAZ. Ein populärer Prediger hatte behauptet, dass christliche Kreuz sei "von bösen Geistern bewohnt", wurde dafür aber nicht belangt. Empfindlicher sind die Funktionäre, wenn's um den Islam geht. Eine buddhistischen Indonesierin wurde zu Gefängnis verurteilt: "Sie hatte in einem privaten Vieraugengespräch mit einem Nachbarn beklagt, dass die Lautsprecherübertragung des Gebetsrufs aus der lokalen Moschee etwas laut geworden sei. Der ehemals bekannteste christliche Politiker des Landes, der Ex-Gouverneur von Jakarta, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, weil er in einer Wahlkampfrede gesagt hatte, seine Zuhörer sollten sich nicht von einem Koranvers irre machen lassen, der Muslimen angeblich verbiete, Nichtmuslime zu wählen."
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Stichwörter: Indonesien, Gebetsruf

Politik

Unter Xi Jinping wurde im Jahr 2014 ein Weißbuch zu "Ein Land - zwei Systeme" veröffentlicht, das im Grunde schon das Drehbuch für die heroischen und tragischen Proteste in Hongkong zu enthalten scheint, erzählt Mark Siemons in der FAZ und zitiert die Hauptthesen das Papiers: "Das Weißbuch betont, dass die Autonomie der Sonderverwaltungszone keine Autonomie aus eigenem Recht sei, sondern 'allein von der Autorisierung der Zentralregierung' und deren Interpretationen abgeleitet ist. Die 'zwei Systeme' funktionierten nur auf der Grundlage des 'einen Landes', und dieses 'eine Land' wird jetzt unmissverständlich mit einem der beiden Systeme, dem sozialistischen, identifiziert, was sich 'nicht ändern' werde, während der Kapitalismus nur auf Zeit erlaubt ist."
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Europa

Inzwischen sehen sich auch nach der Wende Geborene als "Ossis", ordnen sich also einer eingebildeten Community zu und beweisen damit den Einzug der Identitätspolitik in die deutsche Debatte, diagnostizieren die Kulturwissenschaftlerin Uta Karstein und ihr Kollege Thomas Schmidt-Lux in der taz: "Welchen Unterschied würde es aber tatsächlich machen, wenn zwanzig Prozent in den Chefetagen aus dem Osten kämen? Ergäbe das per se bessere Unternehmen, Universitäten, Krankenhäuser oder Landesregierungen? Und bis wann müsste jemand im Osten gelebt haben, um die Herkunft geltend machen zu können? Erlischt die Ostherkunft nach Studium und Promotion in Frankfurt am Main?"
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Wissenschaft

Ein Artikel in Nature letzten Monat ließ Guardian-Autor John Naughton sofort an Douglas Adams' "Hitchhiker's Guide to the Galaxy" denken: "Der Artikel handelt von der zeitgenössischen Suche nach dem Geheimnis des Lebens und der Rolle eines Supercomputers bei der Beantwortung dieses Problems. Die Frage ist, wie man die dreidimensionalen Strukturen von Proteinen aus ihren Aminosäuresequenzen vorhersagen kann. Der Computer ist eine Maschine namens AlphaFold. Und die Firma, die ihn geschaffen hat? Sie haben es erraten - DeepMind." Werden wir also bald wissen, was das Geheimnis des Lebens ist? So einfach ist das nicht, trotz Supercomputer, glaubt Naughton. "Es ist denkbar, dass ein maschinell lernender Ansatz es uns bald ermöglichen wird, genaue Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich ein Protein falten wird, und das kann sehr nützlich sein zu wissen. Aber es wird kein wissenschaftliches Wissen sein. Schließlich weiß AlphaFold nichts über Biochemie. Wir begeben uns auf unbekanntes Terrain."

Ein schöner Anlass, diesen BBC-Film über das "Verborgene Leben unserer Zellen" einzubetten:

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