9punkt - Die Debattenrundschau

Smart und geschmeidig

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2019. Im Guardian erklärt die Brexit-Gegnerin Gina Miller, warum sie gegen Boris Johnsons verlängerte Parlamentspause klagen wird: "Nur die Gesetze trennen uns von der Tyrannei." In der Welt spricht Liao Yiwu über die Proteste in Hongkong und die chinesische Hightech-Diktatur. Die erweist sich auch in der Kontrolle der chinesischen Journalisten durch die Handy-App 'Studiere Xi, starke Nation', legt das chinamediaproject.org dar. In Spiegel online und der SZ wird das Kopftuch für Schülerinnen verteidigt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.08.2019 finden Sie hier

Europa

Die Geschäftsfrau und Brexit-Gegnerin Gina Miller, die schon einmal erfolgreich für eine Beteiligung des Parlaments am Brexit-Prozess stritt, erklärt im Guardian, warum sie gegen Boris Johnsons gegen alle Konvention verlängerte Parlamentspause erneut klagen wird: "Die Johnson-Regierung beschuldigt mich, dass ich die Gerichte nutze, um den Willen  des Volkes zu untergraben. Aber ein No-Deal-Brexit lag nie im Willen des Volks, und an keinem Punkt während der Referendumskampagne hat das Volk irgendeine Regierung autorisiert, nicht nur den Boden der parlamentarischen Demokratie, sondern sogar der Gesetze des Landes zu verlassen. Unsere Gesetze sind schließlich das einzige, was uns von Tyrannei trennt."

Queen Elizabeth hat den größten Moment ihres Lebens verpasst, als sie Boris Johnson einfach so die Parlamentspause verlängern ließ, und handelte doch erwartbar, schreibt der Rechtsprofessor Christoph Schönberger in der FAZ. Denn ihre Lehre aus Krisen der Monarchie sei gewesen, dass sie sich immer möglichst eng an den Premierminister schmiegen müsse. Nur ist das Lage diesmal anders als je: "Die von ihr ein Leben lang praktizierte Bindung an den Premierminister konnte die Monarchie nur demokratisch rückversichern, solange dieser der führende Repräsentant einer klaren Parlamentsmehrheit war. Ist der Premierminister hingegen ein entschlossener Hasardeur ohne stabilen Rückhalt im Unterhaus, werden die förmlichen Befugnisse der Krone in seiner Hand zu einem gefährlichen Arsenal antiparlamentarischer Waffen." FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube fragt in einem zweiten Artikel, wie Johnson so weit kommen konnte.

Im NZZ-Interview mit Marc Felix Serrao kritisiert der evangelische Theologe, Philosoph und DDR-Bürgerrechtler Richard Schröder scharf die private Seenotrettung und will auch von "historischer Schuld" nichts hören: "Der Kolonialismus in Afrika im 19. Jahrhundert entstand parallel zur Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Die Verhältnisse, die die Engländer damals an vielen Orten in Afrika vorgefunden haben, waren barbarisch. Durch den Sklavenhandel, nicht nur mit Europa, sondern vor allem mit der arabischen Welt, hatten sich afrikanische Herrscher etabliert, die ihre Landsleute an Sklavenhändler verkauften. Wenn wir über das große Elend sprechen wollen, das über Afrika hereingebrochen ist, dann müssen wir über Sklaverei sprechen. Sicher, es gab schlimme Kolonialgeschichten, in Kongo zum Beispiel. Aber es gab auch Kolonien, die, als sie im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erhielten, ein funktionierendes Gesundheits-, Verkehrs- und Schulwesen besaßen."
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Politik

Im großen Welt-Interview verteidigt der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu Deutschland gegenüber Ai Weiwei, bestätigt, dass die chinesische Regierung gezielt Menschen einschleust, die sich in Hongkong als Demonstranten tarnen, um dann Teilnehmer zu verhaften und erklärt, wie China die eigene Jugend so unter Kontrolle bringt, dass sie nicht aufbegehrt: "Die jungen Leute sind heute in einer anderen Situation. 1989 gingen sie noch zusammen auf die Straße für ein gemeinsames Ziel. Das gibt es nicht mehr. Ein Grund ist sicherlich die Propaganda und die permanente Gehirnwäsche. Andererseits gibt es diese terroristische Kontrolle der gesamten Bevölkerung. Gerade junge Leute kommunizieren über WeChat, eine Plattform, die vom Staat unter totaler Kontrolle steht. Es ist schon vorgekommen, dass eine Chat-Gruppe von 200 Leuten auf einen Schlag festgenommen wurde. Den jungen Menschen wird plötzlich bewusst, in welcher Gefahr sie sich befinden. Die staatliche Kontrolle kann sich hinter dieser neuen, hochmodernen Technikwelt ganz gut verstecken. Die alltägliche Überwachung kommt dann nicht mehr brutal und offensichtlich, sondern smart und geschmeidig daher. So ist das in einer Hightech-Diktatur, wie ich sie nenne." Die beiden Hongkonger Aktivisten Agnes Chow und Andy Chan wurden festgenommen, berichtet unterdessen unter anderem der Guardian.

In der FAZ protestiert Liao Yiwu dagegen, dass sein ehemaliger Gulaggenosse Yang Wei von Kanada nach China ausgeliefert wird, weil er in Kanada jemanden mit dem Messer bedrohte. Yang sei offensichtlich geistig verwirrt, so Liao und schildert einen Dialog, in dem ihm Yang sagte, warum er China verlassen musste: "Du bist berühmt, die Polizei ist ein bisschen höflicher zu dir. Aber das letzte Mal, als sie mich geschnappt haben, haben sie mich zuerst stundenlang kopfüber aufgehängt, dann am Kopf gepackt und gegen die Wand geschlagen, bis ich ohnmächtig war. Mein Hirn funktioniert nicht mehr gut, ich vergesse viele Sachen, wenn ich mich anstrenge, wird mir schwindlig. Wenn die mich wieder einfangen, ist es aus." (Yang Wei wurde am Mittwoch nach China zurückgeschickt, meldet die BBC.)
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Medien

Die chinesische Regierung verstärkt ihre Kontrolle über Journalisten und nutzt dafür modernste Propagandamittel: in erster Linie die Smartphone-App 'Studiere Xi, starke Nation', mit der Millionen von Chinesen die Lehren Xi Jinpings eingetrichtert werden (wer nicht online und überprüfbar mit der App memoriert, kriegt keine Sozialpunkte). Die App wird jetzt auch genutzt, um Journalisten zu disziplinieren, berichtet David Bandurski  bei chinamediaproject.org: "Das Medienbüro der zentralen Propagandaabteilung hat am 23. August mitgeteilt, dass das Onlinetraining und Prüfungen von Medienleuten durch die App 'Studiere Xi' vorgenommen werde und dass Prüfungen in der ersten Oktoberhälfte im Hinblick auf die Ausgabe von Presseausweisen stattfinden. Die Mitteilung weist Nachrichtenorganisationen (also Staatsmedien, d. Red.) an, in der App bis zum 15. September Studiengruppen zu gründen, um das Personal auf Studien und Prüfungen vorzubereiten."
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Religion

"Den Islam" gibt es nicht, betont Lamya Kaddor in der NZZ - vor allem in Richtung der Muslime, die sie auffordert, die "Mühen eigenständigen Denkens" auf sich zu nehmen: "Inzwischen gilt der Islam vielen als 'Gesetzreligion', in der es primär um das Einhalten von Geboten und Verboten geht. Doch das ist nur ein Verständnis vom Islam, das sich insbesondere in den vergangenen 150 Jahren vielerorts durchgesetzt hat. Es wird zumeist von solchen propagiert, die Machtinteressen mit Glaubensfragen verknüpfen."
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Stichwörter: Kaddor, Lamya, Islam

Gesellschaft

Spiegel-online-Autorin Merve Kayikci trägt Kopftuch. Ihre zwölfjährige Schwester wolle das auch und wird dafür von der Autorin wegen möglicher Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft bedauert. Dabei betont sie, dass sie beide völlig frei handelten: "Sicher gibt es vereinzelt auch muslimische Eltern, die sehr konservativ und streng sind, deren Töchter sich womöglich nicht trauen würden, zu sagen, dass sie kein Kopftuch tragen wollen. Aber für diese kleine Gruppe ein Verbot einzuführen, wäre absurd. Das würde gerade diesen Kindern überhaupt nicht weiterhelfen."

Nur das Kopftuch für Kinder zu verbieten, nicht aber Kreuz, Kippa oder Sikh-Turban wäre eine "Ungleichbehandlung", schreibt auch Susanne Klein in der SZ: "Ein Gesetz, das lediglich Muslime betrifft, ist ein Akt der Ausgrenzung oder kann zumindest von ihnen so aufgefasst werden. Es signalisiert: Ihr seid hier ungewollt. Der Integration dient das nicht, auch wenn die Verfechter eines Verbots das Wort im Munde führen. Es dient eher jenen Leuten im Land, die beim Thema Islam pauschal rotsehen und von kopftuchtragenden Mädchen ohne Umwege auf radikale Islamisten überleiten."

Kurz vor der Sachsenwahl beschwört der Historiker Frank Biess in der SZ die "demokratische Angst": "So paradox es klingt: Die Kultivierung demokratischer Angst ist ein Mittel gegen die rechtspopulistische Politik der Angst. Sie schärft unser Bewusstsein dessen, was wir zu verlieren haben und schützt uns gegen die Illusion, dass alles immer besser wird und wir ein quasi gottgegebenes Recht haben, in einer offenen, liberalen und ja, multikulturellen Gesellschaft zu leben. Den Zeitgenossen der alten Bundesrepublik (und auch der DDR) war aufgrund ihrer Lebenserfahrung eine produktive Zukunftsungewissheit zu eigen. Sie wussten um die Möglichkeit politischer Katastrophen und ihrer existenziellen Bedeutung für das eigene Leben. 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik kann diese demokratische Angst auch heute nützlich sein. Sie zeigt: Die antizipierende Imagination politischer Katastrophen kann helfen, diese zu verhindern."
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