31.08.2019. Vor den morgigen Wahlen besingt ZeitOnline das coole, progressive Brandenburg. In der Welt beklagt Marcel Beyer, dass Dresdens Stadtgesellschaft keine Ideen für die Zukunft hat, seit die Frauenkirche steht. In der FAZ glaubt Ivan Krastev, dass der Westen Putins Russland fürchtet, weil er ihm ähnlicher wird. Und in der taz fragt Ai Weiwei, welche Party Volkswagen eigentlich in Xinjiang feiert.
Europa, 31.08.2019
Morgen sind Wahlen in Brandenburg und Sachsen, viele befürchten das Schlimmste. Auf
ZeitOnline besingt allerdings Christian Bangel das
schöne, entspannte, etwas ruppige Brandenburg, über das
Rainald Grebes "Brandenburg"-Song so herrlich ätzte ("Da stehn drei Nazis auf dem Hügel und finden keinen zum Verprügeln"): "Man kann sagen, der beste Brandenburg-Diss aller Zeiten hat in Brandenburg den Status einer inoffiziellen Hymne. Und das mitten im Osten, dem ja
kollektives Beleidigtsein nicht ganz fremd ist. Aber so ist Brandenburg, die Gegend, aus der ich komme:
unberechenbar in ihrer Zuneigung. Brandenburg, wo man im McDonald's von der Kassiererin im Rentenalter
richtig hart angeschnauzt wird, wenn man nicht sofort zwischen Ketchup und Mayo entscheidet. Und wenn man sich aber dann über den Ton beschwert, dann sagt sie erstaunt: 'War nich böse jemeint. Ick bin so.'..."
Im
Welt-Interview mit Swantje Karich beschreibt der seit mehr als zwanzig Jahren in Dresden lebende
Schriftsteller Marcel Beyer, wie er erst den Aufstieg der NPD erlebte, dann Pegida und jetzt die AfD. Die Stadt kreist um sich selbst, meint Beyer, sie definiert sich vor allem über die Zerstörung. Seit die Frauenkirche fertig ist, wisse die Stadt gar nicht mehr, wohin es noch gehen soll: "Nach und nach hörte man das alte Gebrummel wieder, kam Unzufriedenheit auf. Es gab
kein Ziel mehr. Während es wirtschaftlich eigentlich nur immer aufwärts ging, kam der Stadtgesellschaft so etwas wie eine Utopie abhanden. An diesem Punkt, so sehe ich das, verfiel man
in alte Muster: Wenn man selbst keine Idee hat, beschwert man sich bei denen da oben. Der CDU fiel auch nichts Besseres ein, als mit dem ominösen Begriff der 'Heimat' zu arbeiten - der hört sich allerdings nach reiner Kosmetik an, wenn man sich
das entvölkerte Ostsachsen anschaut. Als dann vom einen auf den anderen Tag Pegida da war, hat mich das zwar in der Wucht, nicht aber als Phänomen überrascht."
Weiteres: Die AfD möchte die
Kulturpolitik gern auf die
Förderung der Heimatliebe, auf Althergebrachtes und Tradition verpflichten, aber wenn es konkret wird, kneift sie,
stellt Michael Bartsch in der
taz fest: "Die Neue Rechte probt den Durchgriff auf einen Bereich, von dem sie mit sehr wenigen Ausnahmen
nicht einmal eine Ahnung hat." Kurt Kister
fürchtet in der
SZ, dass sich die
AfD im politischen System verankern wird, wie es auch schon andere Anti-Establishment-Parteien getan haben, etwa die Grünen oder einst die PDS.
Ideen, 31.08.2019
Das mächtige, ehrgeizige, innovative China steigt unaufhaltsam auf, doch für den Westen bleibt Wladimir Putin die
Bête Noire, wundert sich
Ivan Krastev in der
FAZ, dabei sei Russland doch ein Gespenst der Vergangenheit, eine Mischung aus
Scheitern und Banalität. Fürchten die westlichen Demokratien etwa, dass sie Russland ähnlicher werden, fragt Krastev: "Nicht der Aufstieg des Autoritarismus, sondern
die Verwischung der Grenzen zwischen Demokratie und Autoritarismus lähmt das liberale Denken im Westen. Was ist der Unterschied zwischen der Behauptung des Kremls, es gebe keine Alternative zu Putin, und unserer These, es gebe keine Alternative zur aktuellen Wirtschaftspolitik? Was unterscheidet Putins Russland von Erdogans Türkei, Modis Indien oder Bolsonaros Brasilien? Und unterscheidet es sich so deutlich von Orbáns Ungarn oder Trumps Amerika? Sind wir sicher, dass wir noch in liberalen Demokratien leben?"
Herfried Münkler, oberster Geostratege des Landes,
erklärt uns im
taz-Gespräch mit Stefan Reinecke die
EU als Imperium mit multinationaler Identität und - natürlich - mit
Einflusssphären. Wenn Münkler allerdings Europas künftige Rolle in der globalen Weltordnung beschreibt, wird es mitunter auch esoterisch: "Wenn eine unipolare Ordnung zerfällt, entstehen oft
Systeme mit fünf Akteuren. Nachdem die kaiserliche Macht in Italien im 13. und 14. Jahrhundert zerfiel, entstand die Lega von Lodi mit Mailand, Florenz, Venedig, Neapel und dem Kirchenstaat. Als das Habsburger System am Ende des Dreißigjährigen Krieg zerfiel, blieben
fünf Machtzentren: der Kaiser in Wien, Spanien, Frankreich, England, Schweden. Als Napoleons Imperialprojekt zu Ende ging, waren es
wieder fünf: Preußen, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Russland... Jetzt zeichnet sich ein Szenario mit den USA, China, der EU, Russland und Indien als neue Imperien ab. Wenn die EU vereinigt bleibt, kann sie die Regeln mitbestimmen. Wenn nicht, wird Europa zur Einflusssphäre eines der anderen Imperien werden."
Politik, 31.08.2019
Frustriert und gekränkt hat
Ai Weiwei angekündigt, Berlin zu verlassen (
unser Resümee). Im
taz-Interview mit Susanne Messmer
rudert Ai Weiwei ein bisschen zurück, verbeißt sich an anderer Stelle, trifft aber beim Draufhauen auch mal einen wunden Punkt. Etwa wenn er sich darüber empört, dass
Volkswagen ein neues
Werk in Xinjiang baut, wo gerade Millionen Uiguren in Internierungslager gesperrt sind: "Die Situation wird schlimmer und schlimmer. Mein Vater Ai Qing, der Dichter, wurde Anfang der 1950er Jahre nach Xinjiang zwangsverschickt. Das war während der Anti-rechts-Kampagne. Wir haben dort fünf Jahre lang in einem Erdloch gelebt. Er musste täglich die Latrinen für 200 Menschen leeren. Im Sommer war der Gestank unerträglich. Im Winter konnte die Temperatur auf 40 Grad unter null sinken. Die Scheiße gefror zu riesigen Pagoden. Jeder in China weiß, dass Xinjiang
kein guter Ort ist,
um Geschäfte zu machen. Aber Volkswagen wollte der chinesischen
Regierung einen Gefallen tun. Der Konzern möchte dort Arbeitsplätze schaffen. Ich kann nur sagen: Sie feiern da oben wirklich eine gute Party!"
Geschichte, 31.08.2019
In der
NZZ klinkt sich der Politikwissenschaftler
Eckhard Jesse in die Debatte um die Rolle der
DDR-Bürgerrechtler ein und
betont vor allem, wie konträr sie zu allen heutigen Kategorien standen. Sie glaubten nicht an den Westen oder den Kapitalismus, sondern an einen Dritten Weg, eine nationale DDR-Identität und die Reformierbarkeit des Systems: "Die Geschichte der politisch alternativen Kräfte in der DDR ist eine Geschichte
voller Paradoxien. So strebten sie eine
Reform der DDR an, bewirkten aber eine Revolution. Die ostdeutschen Dissidenten wahrten größere Distanz zum Westen als etwa solche in Polen und der Tschechoslowakei;
nach außen bewiesen sie Mut, nach innen offenbarten sie mehrheitlich ideologische Anpassungsbereitschaft. Das Verhalten der 'Normalbürger' fiel dagegen spiegelverkehrt aus: Äußerlich angepasst, waren sie innerlich renitent. Durch den Fall der Mauer standen jene, die am SED-System öffentlich Kritik geübt hatten, plötzlich an der Seite ihrer einstigen Gegner - ungeachtet ähnlicher Ziele blieben die beiden Gruppen sich aber doch fremd."