9punkt - Die Debattenrundschau

Wirklich? Das ist ja interessant!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.09.2019. "Scenes of Anger and Chaos" haben sich gestern Nacht im britischen Unterhaus abgespielt, und einige Labour-Abgeordnete sangen nicht "Oh Tannenbaum". Dies alles ist im Video dokumentiert. Timothy Garton Ash legt im Guardian dar, wie die Briten am Ende doch noch die Demokratie retten und ein leuchtendes Beispiel abgeben können. In der NZZ versucht Ines Geipel zu fassen, was in den Neuen Ländern los ist: "Die Zahlen sind bestens, aber die Stimmung ist obermies." In Zeit online protestiert Theologin Doris Reisinger scharf gegen das Frauenbild der Katholischen Kirche.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.09.2019 finden Sie hier

Europa

Für all jene, die nicht aufgeblieben sind, um das Finale der jüngsten Brexit-Staffel live zu sehen, hat der Guardian die "Scenes of Chaos und Anger" zusammengefasst, die der fünfwöchigen verordneten Parlamentspause vorangingen - und die sich am Ende doch recht zivilisiert abspielten:



Einige Labour-Abgeordnete haben auch gesungen, aber nicht "Oh Tannenbaum"!



Sondern ein Arbeiterlied mit identischer Melodie, "The Red Flag":



Ist Nationalismus heilbar? Die britische Demokratie zerlegt sich vor den Augen der staunenden Mitwelt, und Timothy Garton Ash schreibt im Guardian, Britannien "könnte das beste Beispiel einer sich widersetzenden Demokratie bieten. Um diese Chance zu ergreifen, müssen die Wähler, die wollen, dass Britannien sich treu bleibt, exzeptionelle Weisheit zeigen." Zwar drohe kein Populismus ein Land so gründlich zu zerlegen wie der britische, so Garton Ash, aber das Unterhaus habe ein Exempel demokratischer Tapferkeit gesetzt. Nun komme es darauf an, dass sich die Oppositionsparteien gegen Torys und Farage zusammentun: "Doch selbst wenn die Oppositionsparteien und Unabhängigen eine Mehrheit bekommen, müssen sie noch zusammenhalten, um ein zweites Referendum zu beschließen. Selbst wenn wir ein zweites Referendum erreichen, müssen wir es noch gewinnen. Und auch wenn wir gewinnen, werden wir weiterhin die große Aufgabe haben, denen, die 2016 für Brexit gestimmt haben - oft aus wirtschaftlichen oder kulturellen Gründen, die wenig mit der EU zu tun haben - zu zeigen, dass wir sie laut und deutlich gehört haben." Aber dann!

In einem Interview mit der NZZ spricht die Schriftstellerin und frühere DDR-Spitzensportlerin Ines Geipel über die DDR, die Wende und die Wahlerfolge der AfD im Osten. Die kann sie immer noch nicht ganz fassen: "Das ist doch das Erstaunlichste, dass Menschen, die die DDR erlebt haben, diese Differenz von vor 89 und nach 89 nicht machen. Dass es kein Gefühl dafür gibt, was es heißt, öffentlich zu sprechen, oder was freie Wahlen sind, was es heißt, als Person Rechte zu haben. Was war denn 89? Die DDR ein komplett marodes Land, die Städte, die Seelen kaputt, die Menschen mit ihren Diktaturerfahrungen alleingelassen. Man muss überhaupt nicht wegerzählen, dass mit 1989 allen viel abverlangt wurde. Aber was haben wir heute? Die Arbeitslosenzahlen im Osten sind so niedrig wie nie, die Renten im Grunde angeglichen, die Städte saniert. Das heißt, die Zahlen sind bestens, aber die Stimmung ist obermies. Immer öfter höre ich heute: Sag mal, hast du das immer noch nicht kapiert, wir leben doch längst in der dritten Diktatur." Da könnte der Westen ruhig auch mal richtig sauer werden, findet Geipel, aber nein: "Wenn nächste Woche einer aufsteht und sagt: Bei den Ostdeutschen hat jeder drei Ohren, sagen die Westdeutschen immer noch: Wirklich? Das ist ja interessant!"
Archiv: Europa

Kulturpolitik

Im Interview mit der Berliner Zeitung stellt Christian Kopp vom Verein Berlin Postkolonial ein vom Berliner Senat geplantes Fünfjahresprojekt zum Thema Dekolonisierung vor, an dem auch sein Verein beteiligt ist. Dahinter steht die Idee, "dass man sich Gedanken machen muss, welchen Umgang mit den sichtbaren und unsichtbaren kolonialen, aber auch rassistischen Strukturen der Städte man findet. ... Es fällt niemandem leicht, die Geschichte seiner Vorfahren, die ja auch seine eigene Geschichte ist, in Frage zu stellen. So wie man nicht gerne darüber spricht, dass man manchmal rassistische Sachen sagt, weil wir das verinnerlicht haben. Was nicht heißt, dass wir alle Rassisten sind, aber natürlich haben wir bestimmte Vorurteile im Kopf, die wir nur mit großer Mühe loswerden. Und so fällt es eben auch schwer anzuerkennen, dass wir fünfhundert Jahre Ausbeutung durch weiße Europäer hinter uns haben und Europa dafür Verantwortung übernehmen muss, und sei es zunächst auf symbolische Art, indem es seine Kolonialherrschaft zumindest als Unrechtsherrschaft anerkennt."
Archiv: Kulturpolitik

Religion

Auf Zeit online kritisiert die Theologin Doris Reisinger scharf das Frauenbild der Katholischen Kirche. Es habe sich kaum verändert, Franziskus hin oder her: Auch wenn heute "sogar Bischöfe sagen, dass Frauen zukünftig vermehrt in Leitungsämter kommen sollen. Sobald die Frau die Augen öffnet, sieht sie sich mit der unabweislichen Realität konfrontiert: Auch Frauen, die sogenannte Leitungsämter in der Kirche innehaben, bleiben durch die Bank von männlichem Wohlwollen abhängig. Ämter und Lehrerlaubnisse bekommen nur Frauen, die sich an die nicht selten willkürlich festgelegten Regeln von Kirchenmännern halten, während das zentrale kirchliche Machtinstrument, die Weihe- und Jurisdiktionsgewalt, ihnen auch vom vermeintlich liberalen Franziskus und von den größten Frauenverstehern im Episkopat verwehrt wird. Gleichberechtigung sieht anders aus."
Archiv: Religion

Internet

"US-Staaten eröffnen Kartellverfahren gegen Google und Facebook", meldet etwa Netzpolitik. Der Wettbewerbsexperte Matt Stoller begrüßt diese Meldung im Guardian. Er begründet die Notwendigkeit, die immer massivere Struktur von Google und Facebook zu zerlegen, ausgerechnet mit der Notlage der Zeitungen: "Strukturversagen in Anzeigenmärkten sind ein seltsames Problem, denn niemand will ja eigentlich Werbung. Aber Anzeigen sind nichtsdestotrotz entscheidend, um der Presse ein finanzielles Auskommen zu geben, das vom Staat unabhängig zustandekommt. Werbung hat  die Informationsverbreitung seit dem frühen 19. Jahrhundert finanziert, und es ist unwahrscheinlich, dass wir eine Demokratie haben können ohne ohne einen durch Werbung ermöglichten Journalismus." Das klingt so, als wäre es eigentlich besser, das Internet gleich ganz abzuschaffen!
Archiv: Internet

Überwachung

In den USA mehren sich die Stimmen, die ein Verbot von Gesichtserkennung, besonders durch Behörden, fordern, berichtet Maria von Behring bei Netzpolitik. "Zuletzt verbat San Francisco die Anwendung von automatisierter Gesichtserkennung für städtische Behörden. Auch die Bundesstaaten New Hampshire und Oregon verbaten bereits ihren Einsatz." Gebündelt werde der Widerstand von der Plattform "Ban Facial Recognition": "Die über 30 mitgründenden Organisationen vertreten mehr als 15 Millionen Mitglieder. Ihr Argument: Automatisierte Gesichtserkennung sei eine der autoritärsten und am stärksten in die Intimsphäre eingreifenden Formen der Überwachung. Sie sei ungenau, diskriminierend gegenüber ohnehin benachteiligten Gruppen, angreifbar und gefährlich."
Archiv: Überwachung

Gesellschaft

Der SUV-Unfall in Berlin-Mitte mit vier Toten (unser Resümee) sorgt nun für ganz radikale Forderungen. Weg mit dem Auto in der Stadt, ruft Svenja Bergt in der taz: "In Richtung null geht die Zahl der tödlichen Unfälle erst, wenn die Autos endlich aus den Städten verbannt werden. Dort fehlt den Privat-Pkws jegliche Daseinsberechtigung. Was sich in ländlichen Gebieten noch mit mangelndem öffentlichen Nahverkehr und langen Strecken zu Supermarkt, Hausärzt:in, Schule und Arbeitsort rechtfertigen lässt, ist in Städten schlichtweg nicht nötig." (Da wir ja auch nicht mehr fliegen sollen, bleibt als Trost wohl nur noch ein gutes Steak.) Allerdings demontiert der Unfallforscher Heiko Johannsen im Gespräch mit der taz-Autorin die Vorstellung, das SUVs bei Unfällen besonders gefährlich seien.

Die FAZ titelt dagegen: "Jetzt erst recht zur IAA". Und Holger Appel will im Leitartikel auf Seite 1 "ein Zeichen für Freiheit und gegen Panikmache setzen - dafür lohnte sich ein Besuch in Frankfurt": "Jede Nation wäre stolz auf eine solche Industrie: Sie ist innovativ, gibt Millionen Menschen Arbeit, ihre Produkte sind die besten der Welt und überall begehrt."

Man könnte ja zumindest mal darüber nachdenken, warum die "Stadtgeländewagen" so viele Käufer finden und was das bedeutet, meint Stefan Kuzmany auf Spon. "Gekauft wird es vor allem, weil es sicher ist. Genauer, das hat der schreckliche Unfall in Berlin einmal mehr gezeigt: sicher für die Insassen. ... Als bekennender Fahrradhelmträger gebe ich es ungern zu, aber es stimmt schon, was Forscher der Universität Jena herausgefunden haben: Wer einen Helm trägt, neigt dazu, ein höheres Risiko einzugehen, wähnt er sich doch geschützt. Wenn das stimmt, dann kann man ahnen, was der tatsächliche Rundumschutz einer SUV-Fahrgastzelle im Hirn der Person am Steuer auslöst: Mir kann keiner was."
Archiv: Gesellschaft