9punkt - Die Debattenrundschau

Starke digitale Ausrichtung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.09.2019. Der Streit um die Potsdamer Garnisonkirche ist keineswegs abgeschlossen. Nun hat der Bürgermeister das Glockenspiel abgestellt, berichtet die taz. Der Dumont-Verlag hat den Berliner Verlag an ein Berliner Millionärsehepaar verkauft - die Zeitungen kommentieren eher wohlwollend. Statt über den Datenkapitalismus und den Überwachungsstaat zu schimpfen, könnte man doch mal über die Erfolge des Datensammelns nachdenken, fordert die NZZ. Und muss man für den Klimaschutz die Eigentumsfrage stellen, fragt Daniele Dell'Agli im Perlentaucher.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.09.2019 finden Sie hier

Europa

Kann die britische Wirtschaft nach einem Brexit wirklich autark werden und so erstarken? Der Wirtschaftswissenschaftler Dennis Snower hält das im Interview mit Zeit online für einigermaßen abwegig: "Lassen wir uns auf ein einfaches Gedankenspiel ein. Jeder Mensch ist autark, baut sein eigenes Essen an und produziert die eigene Kleidung. Dann sind wir entwicklungsmäßig wieder in der Steinzeit angekommen. Dann würden wir allmählich anfangen, Handel zu treiben, merken, dass wir dadurch zu mehr Wohlstand kommen. Wir würden uns zusammenschließen in Städten und Nationen, bis wir irgendwann auf globale Wertschöpfungsketten kommen. Es ist illusorisch, heute von Autarkie zu träumen. Nationen stehen nicht mehr im Wettbewerb miteinander. Die meisten Güter und Dienstleistungen werden in vielen verschiedenen Ländern produziert."
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Internet

Statt über den Datenkapitalismus und den Überwachungsstaat zu schimpfen, könnte man sich doch auch mal fragen, warum Digitalisierung und Datensammeln so erfolgreich sind, empfiehlt der Publizist Roberto Simanowski in der NZZ. "Eine plausible Antwort lautet: Weil sie die Lösung zu einem Problem sind. Dieses Problem besteht darin, dass die moderne Gesellschaft zum Zweck der Organisation ihrer Prozesse so gut wie möglich über sich Bescheid wissen will und muss." Dazu gehört aber auch, über die Grenzen dieses Bescheidwissenwollens neu nachzudenken, so Simanowski: "Und eben deswegen ist die Digitalisierung nicht nur eine Sternstunde der empirischen Sozialforschung, die noch nie so viele Daten zur Analyse der Gesellschaft zur Verfügung hatte wie jetzt. Die Digitalisierung drängt auch die kulturwissenschaftliche Soziologie à la Simmel oder Adorno zur Diskussion der kulturellen Veränderungen, die sie der Gesellschaft bringt. Diese Form der Soziologie fragt dann nicht primär, wie sich die Analyse von Verhaltensmustern optimieren lässt, sondern, welches Herrschaftswissen für welche Kontrollmaßnahmen damit möglicherweise produziert wird und inwiefern diese Wissensproduktion begrenzt werden sollte."

Richard Stallman, Miterfinder der Free-Software-Bewegung und Professor am Media Lab des MIT ist von allen Funktionen zurückgetreten. Im Kontext der Epstein-Affäre (unsere Resümees) wurde ihm eine Rundmail übel genommen, in der er den Kollegen Marvin Minsky verteidigt, dem vorgeworfen wurde, mit einem Mädchen aus "Epsteins Harem" geschlafen zu haben. Hier das Statement auf seiner Website. Im Internetmagazin Vice, das die Debatte um Stallman mit aufgeworfen hat, berichtet Joseph Cox: "Letzte Woche veröffentlichte Motherboard den vollständigen E-Mail-Thread, in dem Stallman schrieb, dass das 'plausibelste Szenario' darin besteht, dass Epsteins minderjährige Opfer ... 'willentlich' Sex hatten."
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Medien

Der Dumont-Verlag hat den Berliner Verlag mit der Berliner Zeitung und dem Berliner Kurier an das Millionärsehepaar Silke und Holger Friedrich verkauft, die in Berlin eine schicke Privatschule betreiben und in Techno-Clubs engagiert waren, aber ihr Geld wohl zuvor in der Software-Industrie gemacht haben, berichtet Gregory Lipinski  bei Meedia. Das Ehepaar sagt, dass es eine "versachlichte, faktenbasierte Berichterstattung " anstrebe und den Kauf der Zeitung "als zivilgesellschaftliches Engagement in bewegten Zeiten" ansehe.

In der taz zitiert Alexander Nabert die Betriebsvorsitzende Renate Gensch, die vor Stellenabbau warne: "'Ich habe schon lange die Befürchtung, dass die Printzeitung abgeschafft werden soll', sagt Gensch. Die Druckerei, die mit zur Verkaufsmasse gehört, habe rund 200 Mitarbeiter. Die starke digitale Ausrichtung der Übernahme könnte eine solche Einstellung der Printzeitungen vorbereiten."

Die beiden Käufer haben sich gestern der Belegschaft der Zeitungen vorgestellt, schreibt Zacharias Zacharakis bei Zeit online: "Es sei ein eher bescheidener Auftritt des Ehepaars gewesen, das seit rund 20 Jahren verheiratet ist und drei gemeinsame Kinder hat, berichten Teilnehmer aus dem Verlag. Man habe nicht die üblichen Worthülsen der Medienmanager zu hören bekommen, sondern klare Statements." Als Kaufpreis ist von einer "mittleren zweistelligen Millionensumme" die Rede. "Der Berliner Markt gilt als besonders schwierig, mancher sagt, als unschiffbares Gewässer, und das seit dreißig Jahren", warnt Götz Hamann in einem zweiten Artikel bei Zeit online.

Ebenfalls in der taz berichtet Steffen Grimberg über Sorgen vor Stellenabbau im Axel Springer Verlag.

Bei den Uebermedien berichtet Daniel Bouhs über die Mühen der öffentlich-rechtlichen Sender, ihre Archive online zu stellen. "Nur einige wenige Sendungen wie 'Panorama' oder auch 20-Uhr-'Tagesschau' und 'Tagesthemen' stehen bislang über Jahre oder sogar Jahrzehnte frei im Netz." Naja, wenn man bei der 'Tagesschau' ein Datum von 1989 eingibt, bekommt man Ergebnisse von 2007!

Frank Lübberding liest in der FAZ vergleichende Studie des Reuters Institutes zu öffentlich-rechtlichen Sendern in Europa. ARD und ZDF kommen auch online demnach schlechter beim jüngeren Publikum an als die BBC, und auch politisch sieht Lübberding ein Problem: "Das Vertrauen in die Berichterstattung ist, so das Reuters Institute, in Deutschland bei jenen Zuschauern, die sich politisch in der Mitte oder links verorten, größer als bei denen, die sich politisch rechts der Mitte sehen. Ein vergleichbarer Vertrauensverlust auf dieser Seite des politischen Spektrums ist woanders nicht festzustellen, auch nicht bei der BBC." Hier stellt das Reuters Institute die Ergebnisse der Studie im Detail vor.
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Kulturpolitik

Wie schwierig es ist, sich selbst in afrikanischen Museen vom Kolonialismus zu lösen, zeigt eine Rede von Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, die er bei den "Museum Conversations" in Windhoek, Namibia gehalten hat und die die taz heute veröffentlicht: Einige heutige afrikanische Mueeen, sagt er, seien von den Kolonialmächten gegründet worden. Andere erzählten nurdie Heldengeschichten der Unabhängigkeit. Aber es entstehen auch neue Museen: "Einige der Museen werden mit der Unterstützung ausländischer Staaten gegründet, wie beispielsweise das Zivilisationsmuseum in Dakar. Auch dort, wo der Museumsbau fremdfinanziert wird, arbeiten die Museen beeindruckend unabhängig. Der intellektuelle Kolonialismus hat hier ein Ende gefunden. Das muss die Herangehensweise in der Gegenwart sein, die zentrale Stellung der afrikanischen Experten bei der Erforschung und Präsentation ihrer eigenen Kultur."

Ebenfalls in der taz berichtet Susanne Messmer über die Erfolge des Architekturhistorikers Philipp Oswalt, der mit einem offenen Brief an Schirmherr und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Frieden um den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche kräftig störte: "Als Mitinitiator der kulturellen Zwischennutzung des Palasts der Republik 2004 und 2005 sagt Oswalt, dass das Stadtschloss im Vergleich zur Garnisonkirche 'geradezu ein linksliberales Projekt' gewesen sei. In einer Pressemitteilung hat er darauf hingewiesen, dass eine der Glocken des nun abgeschalteten Glockenspiels dem besagten Verband deutscher Soldaten gewidmet sei, eine andere dem Kyffhäuserbund, eine dritte dem Wehrmacht-Luftwaffenoffizier Joachim Helbig, der selbst nach Hitlers Tod noch für die Regierung Dönitz flog." Der Potsdamer Oberbürgermeister Mike Schubert hat das Glockenspiel der Kirche inzwischen abgeschaltet, Demonstrationen sind geplant.
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Ideen

Der Schutz der Erde ist in keiner Menschenrechtserklärung enthalten, schreibt Daniele Dell'Agli in einem Perlentaucher-Essay, aber nun müssten diese Rechte ergänzt und die Idee der "Commons" gestärkt werden, auch um den Preis von Konflikten: "Offenbar mussten die Menschen erst durch Marktwirtschaft und Sozialstaat von der unmittelbaren Not des täglichen Überlebens entlastet werden, um sich eine Generation später Sorgen über die elementaren Bedingungen ihrer Existenz zu machen. Heute erkennen sie: Menschenwürde ist ohne allgemeinen, egalitären und streng reglementierten Zugang zum Unentbehrlichen schlichtweg nicht mehr denkbar. Aber es könnte zu spät sein."

Michael Miersch geißelt dagegen bei den Salonkolumnisten eher die Maßnahmen zum Klimaschutz: "Wer das Fliegen und den Ferntourismus verteufelt, betrachtet alles durch eine vom CO2 getrübte Brille. Diese Klima-über-alles-Sichtweise blendet den Natur- und Umweltschutz aus. Die Beispiele für Klimapolitik auf Kosten der Natur häufen sich: In Südostasien wird der Regenwald für Ölpalmplantagen abgebrannt, damit Europäer Biodiesel tanken können. Deutschland verbaut seine Landschaft mit Windkraftwerken, die Hunderttausende Vögel und Fledermäuse vernichten, darunter seltene Arten. Zur Gewinnung von Biotreibstoffen wurden in Europa und Nordamerika riesige Monokulturen mit Energiepflanzen angelegt, in denen kaum ein Vogel und kein Schmetterling mehr leben kann."
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