9punkt - Die Debattenrundschau

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Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.09.2019. Nach den gestrigen Klimaprotesten fragt die SZ, ob hier eine Erweckungsbewegung apokalyptische Angstlust bediene. Tut sie, meint T.C. Boyle in der Welt und ruft Greta Thunberg fröhlich zu: Trag ein bisschen Angst in die Herzen der Menschen. NYR Daily blickt auf die ausbeuterische Ökonomie der Lieferdienste. SZ und NZZ beobachten den neuen Kampf der Berliner Landespolitik gegen den Kapitalismus. Und in der FAZ pocht Olga Martynova auf ihr Recht, von Negern, Zigeunern und Hottentotten zu sprechen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 21.09.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

In der SZ weiß Matthias Dobrinski, dass jede Bewegung ein bisschen visionäre Irrationalität braucht, und doch stört er sich am säkularreligiösen Eifer der Klimaproteste, die sich in manchen Momente zu einer regelrechten Erweckungsbewegung formiere. Hier werde auch apokalyptische Angstlust bedient: "Die Ritualisierung des Protests hat ihre Gefahren, angefangen bei der Aufteilung der Welt in Erlöste und Verdammte. Manche der Einteilungen haben auch mit dem zu tun, was die Schwarmmeinung für sozialadäquat hält: SUVs sind böse, der spritfressende alte VW-Bus ist süß; Kreuzfahrten sind schlimm, der Flug zur Öko-Safari nach Tansania ist cool... Manche Ablehnung, die den Streikenden entgegenschlägt, entspringt dem Gefühl, dass hier mit gewisser Arroganz der feine Unterschied demonstriert wird."

Im Welt-Interview wünscht sich der seit eh und je umweltbewegte T.C. Boyle einen Green New Deal für die USA, und findet es überhaupt nicht schlimm, dass Greta Thunberg und die Klimaaktivisten ihm Angst machen: "Die andere Seite macht uns doch auch ständig Angst, Fox News und die Propagandamaschine des Weißen Hauses. Also warum nicht? Trag ein bisschen Angst in die Herzen der Menschen. Das Problem der Umweltbewegung ist, dass Menschen es nicht mögen, wenn man ihnen sagt, was sie lassen sollen und was für Konsequenzen ihr Tun hat. Sie haben es lieber, wenn man ihnen die Schulter klopft und versichert, dass sie weitermachen können wie bisher, so als wären die Ressourcen des Planeten nicht endlich."

In der FAZ beklagt Jakob Serra y Strobel die Ausbreitung der Lieferdienste, die uns um Genuss und Lebensart bringen: "Trotzdem bestellen wir die Totengräber unserer kulinarischen Kultur freiwillig zu uns nach Hause und geben ihnen oft auch noch ein Trinkgeld. Sie können es gebrauchen, denn die armen Teufel bekommen kaum mehr als den Mindestlohn."

Auf NYR Daily, dem Blog der New York Review of Books weiß Willa Glickman, dass es die Branche auf acht Milliarden Dollar Umsatz im Jahr bringt, während die Fahrer an einem Zehn-Stunden-Tag zwanzig bis vierzig Dollar verdienen: "Yet for those who can join the online delivery industry, startups, flush with venture capital, have both altered and entrenched this historically exploitative low-wage work. The higher profile and PR consciousness of the new app firms curb some of the job's worst abuses and offer the potential for better wages, but they also formalize its precariousness: like most gig workers, couriers are classified as independent contractors rather than employees, meaning that the very concept of a labor violation does not apply. Last year, one in five jobs in America was performed by a contract worker, and online delivery work offers a particularly clear example of the contractor model's pitfalls when it is applied to a physical and hazardous job."

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Europa

Behzad Karim-Khani, Betreiber der Kreuzberger Lugosi-Bar, plädiert in der Welt für ein bisschen mehr Streetwiseness im Umgang mit rechten Trollen: "Früher, als wir noch zur Schule gingen, sagten wir nicht 'Sei tolerant!' Wir sagten 'Was interessiert dich das?' Und im Gegensatz zur Toleranz funktionierte das. Warum? Weil Desinteresse cool war. Toleranz war weich, warm. Toleranz war was für Bürger. Nichts für uns. Desinteresse war hart, kalt, war laid back. Wer sich interessierte, nahm nämlich immer auch ein bisschen teil, und das wollte natürlich keiner."

Constanze Letsch streift für die NZZ mit dem kritischen Spazierführer "Hatirlayan Sehir" in der Hand durch Istanbul und lässt sich Orte zeigen, deren Geschichte die Türkei den Touristen lieber verschweigt. Zum Beispiel die der imposanten Sanasaryan-Karawanserei in Eminönü: "Das 1895 erbaute und dann vom armenischen Geschäftsmann Migirdiç Sanasaryan erworbene neoklassizistische Gebäude stieg nach der Beschlagnahmung in Istanbuls kollektivem Gedächtnis zu trauriger Berühmtheit auf. Zuerst als Polizeihauptquartier, in dessen 'Sargzellen' politische Gefangene gefoltert wurden, und nach dem brutalen Militärputsch 1980 als die gefürchtete 'Abteilung 2' der Istanbuler Sicherheitsbehörden. 'Keiner ist dort heil wieder rausgekommen', sagt Mehmet, der seit vierzig Jahren in einem benachbarten Lagerhaus eine kleine Teeküche betreibt. 'Daran will sich niemand mehr erinnern.'"
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Medien

In der SZ lässt sich Alex Rühle von Journalisten aus Polen, Ungarn und Österreich berichten, wie die Regierungen dort die Presselandschaft ruinieren, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, direkt die Pressefreiheit zu gefährden. Márton Gergely von der Wochenzeitschrift HVG sagt über Viktor Orban: "Er lässt die Geschäftsleute die Dreckarbeit machen." Bartosz Wieliński von der Gazeta Wyborcza: "Uns hat man auch versucht, ökonomisch auszuhungern. Nach dem Sieg der PiS 2015 wurden alle staatlichen Gazeta-Abos gestrichen. Es fühlte sich an, als hätte ganz Warschau aufgehört, die Zeitung zu lesen. Selbst an den staatlichen Tankstellen gibt es uns nicht mehr. Bei uns gab es zwar Entlassungen damals, aber wir haben überlebt. Wir haben eine Paywall eingeführt und heute 200.000 Online-Abonnenten. Damit sind wir die weltweit sechzehntgrößte Onlinezeitung."
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Politik

SZ-Autor Peter Richter war bei der Grundsteinlegung des neuen Quartiers "Am Tacheles", eines der zahlreichen Areale, an denen in Berlin der neue Kampf zwischen Kapital und Stadt ausgetragen ausgetragen werde. Berlin hatte das Grundstück um die Kulturruine 1998 für gerade mal 2,8 Millionen Mark an die schwedische Fundus-Gruppe verkauft, die es dem New Yorker Imvestor Perella Weinberg Real Estate für immerhin 150 Millionen Euro weiterverkaufte, wie Richter berichtet. Nebenan gibt es die Ausstellung "Politik des Raums" im Neuen Berliner Kunstverein: "Die eigentliche Wucht entfaltet sich jedoch da, wo eine Dokumentation fast beiläufig bemerkt, dass der Verkauf landeseigenen Bodens der Stadt seit dem Mauerfall nicht mehr eingebracht hat als fünf Milliarden Euro... Fünf klägliche Milliarden Euro für Grundstücke aus öffentlichem Besitz, die zusammengenommen immerhin die Fläche des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg ergeben.

In der NZZ schwingt Stephan Russ-Mohl die Keule gegen die Berliner Landespolitik. Schlimmer noch als Mietendeckel oder Stadtmöbel findet er, dass das rot-rot-grüne Flair auf die Bundespolitik abfärbt, sozusagen wie bei einer durchlässigen Käseglocke: "'Innen' ist der GroKo-Politikbetrieb, 'außen' ist die Stadt, das Umland, der Lebensraum, in dem Politiker, Bürokraten, Lobbyisten und ihre Helfershelfer ihren Alltag und einen Großteil ihrer freien Zeit verbringen: der Medienbetrieb, die Szene-Restaurants, das Verkehrschaos, der verwahrloste öffentliche Raum, die Parks, in denen gekifft und gedealt wird, die Kitas und Schulen im Niedergang. All dies summiert sich zum 'Anything goes', für das Berlin seit langem stand und das - vom Lebensgefühl her - tagtäglich in ein 'Nichts geht mehr' umzukippen droht."
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Ideen

In der FAZ platziert die deutsch-russsische Schriftstellerin Olga Martynova eine echte Provokation: Sie pocht auf ihr Recht, weiterhin von Negern, Zigeunern und Hottentotten sprechen zu dürfen und macht dabei nicht ganz leicht nachvollziehbare Parallelen auf: "Ich will das Wort Jude entspannt ausgesprochen hören, ebenso das Wort Neger und das Wort Zigeuner. Ich liebe ihren schönen Klang", schreibt sie: "Wen schützt man, indem man Wörter stellvertretend für sich selbst oder für die eigenen Vorfahren bestraft? Das ist eine bequeme Art, jegliche Verantwortung für die tiefe tatsächliche Schuld Europas gegenüber Negern, Hottentotten und Zigeunern abzulehnen: Es war zwar meine Mutter, die gesagt hat, dass es in meinem Zimmer wie bei den Hottentotten aussähe, aber wenn ich selbst das Wort vermeide, dann... Was dann? Wird meine Mutter damit zu irgendeiner Tante, vielleicht nicht einmal zu meiner eigenen? Wenn die Rettung jener Wörter gelingt, die ursprünglich keine Schimpfwörter waren, kann man auch allen Schlitzaugen, Russenschweinen, Tunten und Trullen, die unter den Buchdeckeln versteckt sind und um ihr unzensiertes Weiterbestehen fürchten, die Hand reichen. Und dann - gewagte Träume! - auch Studenten und Autoren vor Studierenden und Autor*innen beschützen."

In der Welt findet Cigdem Toprak die Aufregung um die Kostümbilder des kanadischen Premiers Justin Trudeau recht hysterisch. Blackfacing kann rassistisch sein, aber Trudeau hat sich nur blöd als Aladin verkleidet. Die Zeiten solcher Gedankenlosigkeit sind vorbei: "Es ist nicht rassistisch. Nur peinlich."
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