9punkt - Die Debattenrundschau

Hochrüstung im Inszenierungsgeschäft

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.10.2019. In der NZZ denkt Aleida Assmann über den Ort der Bürger nach: die Mitte soll er suchen, sonst fällt alles auseinander. In der FAZ erzählt der Politologe Heribert Dieter, wie öffentlicher Grund und Boden in Hongkong die Stadt in die Katastrophe der Wohnungsnot führt. In der taz fürchtet Daniel Schulz, dass es sehr wohl einen spezifisch ostdeutschen Rechtsextremismus gibt. Und im Buchmarkt erzählt Peter Haag, Verleger von Kein & Aber, wie die Insolvenz des Grossisten KNV aus der Warte seines Verlags aussah.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.10.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Daniel Schulz hatte mit einem Essay über seine Jugend in den Neuen Ländern und den Rechtsextremismus Aufsehen erregt (unser Resümee und Link). In der taz denkt er über die anhaltenden Schändungen von Denkmalen für die NSU-Opfer in Zwickau nach: "Wenn andere Ostdeutsche mir als Ostdeutschem erzählen, Rechtsextremismus sei ein gesamtdeutsches Problem und man solle mal nicht immer auf den Osten zeigen, dann denke ich an den NSU, woher er kommt, wo er gewohnt hat - und ich weiß, dass die Verantwortung der ostdeutschen Gesellschaft an diesen Mordtaten fast nie thematisiert wird."

In Baden-Württemberg gibt es heftigen Streit um eine Ausstellung zur "Nakba", also der Gründung Israels und der damit verbundenen Konflikte und Vertreibungen aus palästinensischer Sicht, berichtet Jannis Hagmann in der taz. DerAntisemitismusbeauftragter des Landes, Michael Blume, fordert eine Überarbeitung der Ausstellung, die vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), Brot für die Welt und der Stiftung Entwicklungszusammenarbeit Baden-Württemberg gefördert wurde. "Der taz nennt Blume zwei Hauptkritikpunkte: Sowohl die 'Hunderttausendfache Vertreibung von Jüdinnen und Juden aus der arabischen Welt' als auch die 'mörderische Geschichte des arabisch-deutschen Antisemitismus' würden ausgeblendet. Jerusalems Großmufti hatte mit dem NS-Regime kooperiert, was vielfach als Beweis für tief verwurzelten Judenhass von Palästinensern angeführt wird." Die Kuratorin Ingrid Rumpf verwahrt sich gegen die Vorwürfe. Die Ausstellung scheint keine Website zu haben. Die taz verlinkt auf ein pdf-Dokument.
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Politik

Seltsamerweise ist es nicht der Besitz von Grund und Boden, sondern seine Verpachtung durch den Staat, der die Wohnungspreise in Hongkong ins Astronomische steigert und damit die Proteste in der Stadt anheizt, der ein Protest für Freiheit aber auch angemessene Lebensbedingungen ist, schreibt der zur Zeit in Hongkong lehrende Politologe Heribert Dieter in einem sehr interessanten Hintergrund im politischen Teil der FAZ. "Allerdings stützt sich die Fiskalpolitik der Regierung damit auf eine Quelle, die problematisch ist: Sie hängt von den Einnahmen aus der Verpachtung von öffentlichem Land an private Projektentwickler ab. Im zurückliegenden Haushaltsjahr stammten 42 Prozent der Staatseinnahmen aus der Verpachtung von Grundstücken. Im laufenden Jahr ist der Anteil mit 33 Prozent niedriger, aber immer noch sehr hoch."
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Stichwörter: Hongkong

Europa

Drei wesentliche Probleme der EU diagnostiziert die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in der NZZ: Das Ende des Sozialstaats, die Überwindung des europäischen Imperialismus und seiner Folgen sowie die Entbürgerlichung der Gesellschaft. "Viele Protestbewegungen der Arabellion sind daran gescheitert, dass ihre Länder keine bürgerliche Mitte haben, die Standards und Normen der Gleichberechtigung ausbildet, soziales Vertrauen stärkt und der Korruption von Einheitsparteien und Clans etwas entgegensetzt. Der 'Bürger' war ein stabiles Feindbild im 20. Jahrhundert nicht nur bei Lenin und Stalin, sondern auch in der DDR und in der 68er Protestbewegung in Westdeutschland. Der Bürger ist eine schwammige Größe, die als 'Bourgeois' verteufelt und als 'Citoyen' verehrt wird. Viel entscheidender ist, dass 'Bürger' ein Status ist, der allen Einwohnern zusteht, und dass es die Aufgabe von Bürgern ist, in der Demokratie eine mündige Gesellschaft zu repräsentieren und die Mitte zwischen den Extremen zu halten."
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Kulturmarkt

Im Buchmarkt erzählt Peter Haag, Verleger von Kein & Aber, wie die Insolvenz des Grossisten KNV aus der Warte seines Verlags aussah, der als "Auslieferungsverlag" von KNV auf Gedeih und Verderben abhing: "Als verantwortungsvoller Chef überlegte ich bereits, wie ich meinen Mitarbeitern erklären könnte, dass wir vielleicht gerade auf die Wand zuflogen, ohne dass es uns erlaubt war, abzudrehen. Jetzt bestimmte allein der Insolvenzverwalter die Richtung, nur er war ermächtigt, über das Schicksal von uns, den involvierten Auslieferungsverlage, zu entscheiden."
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Stichwörter: Knv, Knv-Insolvenz, Buchmarkt, Den Haag

Internet

Im Zeichen der totalen Transparenz, die vor allem von den allgegenwärten Smartphones und den sozialen Medien getrieben wird, wird Politik immer künstlicher, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen beim NDR: "was ist ein Smartphone? Es ist ein im Wortsinne 'indiskretes Medium', so meine These. Es lässt die Hinterbühne zur Vorderbühne werden und einst diskrete, einst voneinander getrennte Welten verschmelzen - die Welt des Öffentlichen und die Welt des Privaten, die Sphäre des Sichtbaren und des Unsichtbaren." Politiker handelten, um nicht in schachen Momenten erwischt zu werden, nach dem Motto "bloß keinen Shitstorm riskieren und maximal unangreifbar formulieren! Weil die beständig drohende Gefahr des Kontrollverlustes die Hochrüstung im Inszenierungsgeschäft vorantreibt."

Nach dem Ausmaß der sexistischen Beleidigungen und Bedrohungen gegen Renate Künast (unsere Resümees) fordert Tanja Tricarico in der taz eine konsequentere Handhabung der bestehenden Gesetze. Noch wüssten die Betroffenen gar nicht, wie sie sich an Facebook oder Twitter wenden könnten: "Die Verpflichtung, per Gesetz überhaupt eine Beschwerdestelle einzurichten, ist aber immerhin ein Anfang. Nun muss es empfindliche Strafen geben, wenn Bearbeitungszeiten nicht eingehalten werden, Sicherheitseinstellungen nicht nutzer*innenfreundlich sind und auch keine Kampagnen gefahren werden, um auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte im Netz aufmerksam zu machen."

In der SZ hat Adrian Lobe eine neue Missetat gefunden, die man Google und Co anhängen kann: ihren ökologischen Fußabdruck. Datengewinnung erzeugt jede Menge CO2-Emissionen. Gleichzeitig gilt: ohne Daten keine Klimawissenschaft. Damit Computer ökologisch funktionieren können, müsste also jemand entscheiden, wann ihr Einsatz akzeptabel wäre und wann nicht. Lobe hat da schon einen vagen Plan: "Es bräuchte neben nachhaltigem Cloud Computing auch eine neue Ökologie der Intelligenz, eine verbrauchsarme Kognition, die nicht bei jeder Frage die digitalen Nannys namens Siri, Alexa und Cortana konsultiert und neben den Rechenzentren auch die radikalisierenden Feedbackschleifen anheizt. Auch Kopfrechnen kann einen Beitrag zum Klimaschutz leisten."

In der NZZ denkt Claudia Mäder über Öffentlichkeit und Privatsphäre nach. Der Bürger stellt sie fest, "hat mehrere Gesichter und ist beileibe nicht nur das Opfer in einem großen Schacher der Konzerne. Bei der Vorstellung, dem Auge eines grausamen Staates nur noch im Schlaf zu entkommen, dürften die meisten Menschen erschauern. Doch zugleich lassen sich heute ziemlich viele von ihnen selbst nachts überwachen und tragen Uhren am Handgelenk, die Herzschläge, Wachphasen und was sonst noch alles aufzeichnen und auswerten. Das geschieht in der Absicht, die eigene Gesundheit zu steigern, gewiss, aber auch für weniger hehre Ziele geben etliche Menschen Persönliches preis, wie im Stadthaus eine Filmsequenz zeigt: Ein Gratis-Mandelgipfel genügt als Köder, und schon reichen zahlreiche Kunden einem unbekannten Bäcker AHV-Nummern und Angaben zu Partnerschaften über die Theke."
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