9punkt - Die Debattenrundschau

Die dunkle Seite des Alpha

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.10.2019. 24,5 Prozent für die AfD in Thüringen, aber noch ist nicht alles verloren, meint Zeit online: Jetzt hilft nur noch Zuwanderung. Im Guardian schildert Neil Ascherson, wie sich durch den Brexit auch das ganze Vereinigte Königreich aufzulösen droht. Warum sucht deutsche Digitalpolitik immer die falsche Scheinlösung für die tatsächliche Problematik, fragt Sascha Lobo im Tagesspiegel. Und in der NZZ begibt sich Alexander Kluge auf die Suche nach dem verlorenen Buchstaben.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.10.2019 finden Sie hier

Europa

"24,5 Prozent für eine Partei, die von einem Faschisten angeführt wird, das ist ungut, sehr ungut", schreibt Christian Bangel auf Zeit online angesichts der Wahlergebnisse von Thüringen wo die AfD mit Björn Höcke an der Spitze zur zweitstärksten Partei nach der Linken wurde. Aber Kopf hoch, ermuntert er, es gibt auch gute Nachrichten: Die Zahl der AfD-Wähler stagniert. Nirgends ist es der Partei in Sachsen, Brandenburg oder Thüringen gelungen, den ersten Platz zu belegen. "Und das, obwohl die Motivation unter den AfD-Wählern angesichts dieser Perspektive wohl so hoch wie nie zuvor war. ... Wer den Osten dauerhaft stabilisieren will, der muss vor allem für eines kämpfen: Zuwanderung. Massiv und am besten ab sofort. Zuwanderung aus dem Westen, Binnenzuwanderung aus den großen Städten in die ländlichen Räume, und ja, auch gezielte Migration aus dem Ausland. Nur so gibt es auch in bisherigen Verliererregionen die Chance, stabile wirtschaftliche Strukturen aufzubauen. Und nur dann ist es möglich, dass auch dort ein Miteinander von Generationen, Milieus und Hautfarben entsteht, die eine Partei wie die AfD mit ihren weißen Hoheitsfantasien schon heute an vielen Orten Deutschlands lächerlich erscheinen lässt."

Dem äußeren Zerfall der EU durch den Brexit korrespondiert der innere im United Kingdom, schreibt der Historiker und Publizist Neil Ascherson im Guardian: "In der Union von vier Nationen hat eine - England - 85 Prozent der Bevölkerung. Die drei letzten Jahre haben gezeigt, dass der größere Partner seine eigenen Interessen nicht länger hinter die der anderen stellen will. Eine Umfrage zeigte in diesem Jahr, dass Tory-Wähler nichts dagegen hätten, 'Schottland zu verlieren' (bezeichnende Worte), wenn dadurch der Brexit sichergestellt wird.  Die Verlagerung von Kompetenzen in die Nationen hatte andererseits nur Sinn, wenn alle vier Nationen in der Europäischen Union sind. Wenn England 2019 nicht mehr weiß, warum die Union mit Schottland und Nordirland einst sinnvoll war, dann hat der Brexit das Vereinigte Königreich ins Hospiz der Geschichte gesteckt."
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Gesellschaft

"Kultur" kann ein Zwangssystem sein. In der FAZ unterhält sich Anna Vollmer mit der Aktivistin Memory Banda, die in Malawi gegen eine kulturelle Praxis kämpft. Mädchen werden dort in Initiationscamps gesteckt: "Sie lernen dort etwas über kulturelle Werte, was gut ist, aber sie werden auch in die Sexualität eingeführt. Am letzten Tag des Camps wird ein Mann eingeladen, der alle Mädchen dort vergewaltigt, damit sie zu erwachsenen Frauen werden. Manchmal muss auch das Mädchen selbst einen Mann suchen, der sie 'zur Frau macht'. Diese Tradition ist völlig zerstörerisch. Die Mädchen bekommen gesagt: Du bist nun erwachsen! Die meisten verlassen danach die Schule oder werden schwanger."
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Internet

Die Digitalisierung hat die Welt verändert, das ist ein Fakt. Seltsam, dass das so selten hierzulande anerkannt wird, meint Sascha Lobo im Interview mit dem Tagesspiegel: "Ich habe den Eindruck, dass wir in Deutschland lieber gut bekannte oder leicht einschätzbare Scheinprobleme lösen möchten als neue, wirklich existierende. Wieso hat die Bundesregierung über Jahre eine Quatschmaut einführen wollen, und zugleich wenig für eine klügere Regulierung großer Digitalkonzerne getan? Was gab es für einen Aufschrei, als Google 2009/2010 durch die Straßen gefahren ist und Häuserfassaden fotografiert hat. Dass Google bei den Suchmaschinen einen Marktanteil von 96 Prozent hat, interessierte nur wenige. Die falsche Scheinlösung für diese tatsächliche Problematik war dann das elende Leistungsschutzrecht für Presseverleger. Aber wie konnte es geschehen, dass Digitalkonzerne kaum Steuern bezahlen? Weil man unterschätzt hat, dass das Digitale anders funktioniert, und vor allem: Wie radikal es ist."
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Geschichte

Seit Jahren kämpft die britische Organisation "Memorial 2007" dafür, dass ein Mahnmal an die britische Geschichte der Sklaverei erinnert, nun offenbar vergebens, weil die britische Regierung die Organisation nicht unterstützt. Es fehlen vier Millionen Pfund, erklärt Afua Hirsch im Guardian: "Ohne Unterstützung der Regierung sind diese vier Millionen ein unerreichbares Ziel. Memorial 2007 hat wiederholt versucht, diese Unterstützung einzuholen und hat jeden Premier von Tony Blair bis Boris Johnson darauf angesprochen. Die Ankündigung der Regierung, ein Holocaust-Mahnmal mit 50 Millionen Pfund zu unterstützen, hat im Jahr 2015 die Hoffnungen der Gruppe bestärkt. Sie schien nahezulegen, dass ein Interesse an der Erinnerung an schmerzvollen historische Ereignisse bestand. Aber dieses Interesse, so scheint sich, dehnt sich nicht auf schwarze Bürger Britanniens aus."

Tobias Bulang, Professor für Ältere deutsche Philologie an der Universität Heidelberg, erinnert sich in der FAZ an die Zeit kurz vor dem Mauerfall im Herbst 1989, den er als Abiturient in Bautzen erlebte. Die Zeichen standen damals keineswegs auf Freiheit: "Unter den Zukunftsoptionen waren durchaus auch nordkoreanische Zustände vorstellbar in einem Land mit traumatisierten Bürgern, vergifteten Flüssen und bröckelnden Plattenbauten. Steinzeit ante portas? Wer heute das Behagen in der Lebenssicherheit des DDR-Alltags gegen die Kontingenzzumutungen unserer Gegenwart politisch ins Spiel bringt, will nicht wahrhaben, dass dieses angesichts von ökologischer Krise und erheblichen Menschenrechtsverletzungen doch auch fragwürdige Wohlgefühl buchstäblich nur erborgt war und dass die Zeichen der Zukunft keineswegs auf den Ausbau solcher Behaglichkeit standen."
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Kulturpolitik

Die Stadt Chemnitz bewirbt sich um den Titel "Europäische Kulturhauptstadt" für 2025, und ihre Bewerbung ist bemerkenswert ehrlich, berichtet Julian Weber in der taz: "Die Industriestadt ist bekannt für Innovationen, hier wurde die Thermoskanne erfunden. Aber zunächst wird im Bidbook der Song 'Karl-Marx-Stadt' der Band Kraftklub zitiert, der die jüngere Stadtgeschichte selbstmitleidlos aufspießt. 'Ich steh auf keiner Gästeliste, bin nicht mal cool / In einer Stadt, die voll Nazis ist, Rentner und Hools'. Rechtspopulismus hat die Gesellschaft gespalten. Die Abwanderung nach der Wende, der demografische Wandel haben in Chemnitz riesige Lücken hinterlassen."
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Ideen

Lesen ist viel mehr als Buchstabieren, schreibt Alexander Kluge in einem Essay für die NZZ. "In der Tradition des Talmud gibt es die Suche nach dem verlorenen Buchstaben. Das Heil liegt nicht in dem schon Ausformulierten. Das Wichtigste bleibt unbekannt, ist verborgen. Es gibt die dunkle Seite des Alpha. Gershom Scholem beschreibt, dass Gott in vier Wochen Gotteszeit (das sind mehr als 13,5 Milliarden Jahre) mit den Buchstaben und Zahlen 'gespielt' habe. Er hat auf sie 'eingehämmert'. Dann hat er in einer Woche Kosmos, Erdenwelt und uns geschaffen. Offenbar sind Buchstaben und Zahlen etwas anderes als bloße Symbole. Sie sind auch nicht bloß Techniken. Lesbarkeit und der Respekt vor dem, was wir nicht lesen können, gehen der Realität voraus. Lesen ist Vertrauenssache. In den Chips der digitalen Welt arbeitet Silizium, der Sand. Wo zu viel Sand ist, das nennt man Wüste. Aber in der Wüste gibt es bekanntlich heftig kämpfendes Leben. Es gibt vor allem die Baukunst der Oasen. Lesen und Leserwelt, das sind solche Oasen. Feste Orte der Verlässlichkeit in einer zum Atomismus tendierenden Welt."

Micha Brumlik schreibt in der taz den Nachruf auf den Psychoanalytiker und Essayisten Carlo Strenger, der im Alter von nur 61 Jahren gestorben ist: "Für die hierzulande neu anschwellende Debatte um 'Israelkritik' beziehungsweise 'israelbezogenen Antisemitismus' ist sein 2011 auf Deutsch publiziertes Buch 'Israel - Einführung in ein schwieriges Land' nach wie vor unerlässlich; nicht zuletzt, weil dieses Buch klarmacht, wie komplex die gesellschaftliche Lage in diesem Land, das längst nicht mehr von einer aufgeklärten Bürgerlichkeit geprägt ist, tatsächlich ist." Einen weiteren Nachruf schreibt René Scheu in der NZZ.

In der NZZ kritisiert der Philosoph und Unternehmensberater Reinhard K. Sprenger den deutschen Hang zur Rundumabsicherung, die den Zufall stornieren soll: "Vorsorge, Plan, Versicherung, Back-up, Nummer sicher - übrigens ein Wort aus dem Strafvollzug. Das Leben wird unter eine vorauslaufende Ceteris-paribus-Klausel gestellt: Alles soll gleich bleiben, und wenn sich etwas ändert, dann bitte nur als willkürlich herbeigeführte Perfektionierung. Die Politik verspricht, den Menschen vor dem Zustoßenden zu schützen. Unter der Hand wandelt sich die Zufallsvorsorge zur infantilisierenden Volkspädagogik: Der Mensch ist, was er ist, das Ergebnis planerischer Absicht." Aber besser wäre es, dem Zufall eine Chance zu geben, meint Sprenger. Nur dann "sind wir herausgefordert, uns in der Freiheit zu üben und die Gelegenheiten zu nutzen, deren endliche Summe das ganze Leben ist".
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