9punkt - Die Debattenrundschau

Angesichts möglicher Mimikry

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.11.2019. Das Attentat von Halle löste bei der deutschen Politik einige Betriebsamkeit aus - von Erschrecken über den Antisemitismus ist nichts zu spüren, und das hat einen Grund, schreibt Matthias Küntzel im Perlentaucher. Timothy Garton Ash sieht im Guardian noch eine Chance für den Geist von 1989.  In der FAZ erzählt Bülent Mumay, wie die türkischen Medien über den Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien nicht berichten. In der New York Times polemisiert Aaron Sorkin, der Drehbuchautor von "The Social Network", gegen Mark Zuckerberg.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.11.2019 finden Sie hier

Europa

Das Attentat von Halle hat Betriebsamkeit, aber nicht ein wirkliches Erschrecken ausgelöst.Ein Programm zur Bekämpfung legt die Bundesregierung neben all ihren sicher notwendigen, aber auch deprimierenden Sicherheitsmaßnahmen nicht auf, schreibt Matthias Küntzel im Perlentaucher: "Stattdessen hat sich das Engagement der politisch verantwortlichen Bundesregierung auf Ansprachen und Resolutionen, auf das Klein-Klein staatlich finanzierter Demokratieseminare sowie die Registrierung antisemitischer Vorfälle beschränkt. Nach dem Anschlagversuch von Halle und den Umfrage-Ergebnissen des World Jewish Congress steht aber diese neue Frage im Raum: Was hält die Bundesregierung eigentlich davon ab, eine wirklich große politische Initiative zur umfassenden Bekämpfung des Antisemitismus in allen Sektoren der Gesellschaft zu starten?"

Großbritannien bereitet sich auf die Wahlen im Dezember vor. Boris Johnson hat sein Brexit-Versprechen für den 31. Oktober gebrochen, wobei er vom Parlament getrieben wurde. Weitere gemäßigte konservative Abgeordnete und Regierungsmitglieder haben das Boot verlassen. Der Guardian zieht in einem Leitartikel Bilanz: "Er mag erst seit etwas mehr als drei Monaten Parteichef sein, aber Boris Johnson hat seine Partei bereits tief geprägt. Er hat die Tories zu einer rechtsgerichteten nationalistischen Partei gemacht. Was einst eine breit aufgefächerte Mitte-Rechts-Bewegung war, ist heute eine politische Sekte, die durch ein einziges Thema, Brexit, definiert ist."

Timothy Garton Ash begibt sich für den Guardian dreißig Jahre nach dem Mauerfall auf eine politische Tour d'horizon durch Europa und findet, dass der Geist von 89 noch nicht völlig verweht sei: "Ungarn ist bei weitem der schlimmste Fall. Die Organisation 'Freedom House' stufte  den Status des Landes zu 'teilweise frei' herab - Ungarn ist das einzige EU-Land mit diesem Status. Ich habe nach einiger Erwägung argumentiert, dass Ungarn nicht länger eine Demokratie sei, nicht mal eine illiberale, sondern eher die Art Regime, die von Politologen als 'kompetitiv autoritär' bezeichnet wird. Aber selbst hier hat es die Opposition in diesem Monat geschafft den Bürgermeisterposten in Budapest zu erobern."

Und im Tagesspiegel mahnt Michael Schindhelm: "Noch ein paar Jahre, und die Hälfte der Deutschen wird die Zeit der Teilung nur aus zweiter Hand kennen. Noch ein paar Jahrzehnte, und niemand wird mehr dabei gewesen sein. Das Verblassen der Geschichte, die vor dreißig Jahren einen so unerwarteten Ausgang genommen hat, hilft jenen Demagogen, die ihre Ideen als neu maskieren, obwohl sie grausam alt sind."
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Medien

In der Türkei ist kritische Berichterstattung über den Einmarsch türkischer Truppen in Nordsyrien (die sogenannte "Operation Friedensquelle") verboten, berichtet Bülent Mumay in der FAZ. "In diesem Land werden Journalisten nicht nur für ihre Berichterstattung bestraft. Fragen können schon bei der Recherche riskant sein. Arbeiten sie für ein oppositionelles Organ, werden sie bei Pressekonferenzen der Staatsführung ohnehin nicht zugelassen. (Ähnlich hält es Turkish Airlines, die nur Zeitungen in Regierungshand an Passagiere verteilt.) Die Regierung stellt sich einzig Journalisten, die sie selbst akkreditiert hat. Auch diese Journalisten können nicht jede Frage stellen. Vor allem, wenn sie eine Frage an Erdogan richten wollen, müssen sie im Voraus die Zustimmung der Propaganda-Abteilung des Palastes einholen."
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Kulturpolitik

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz hat viel zuwenig Geld, um all ihre Museen in Schuss zu halten (von innovativen Ausstellung mal ganz zu schweigen), was also soll die "Marie-Antoinette-hafte Vergeudungsorgie an der Spitze" der Kulturinstitution, die das sündhaft teure Museum der Moderne um jeden Preis durchboxen will, fragt Niklas Maak in der FAZ in Richtung Monika Grütters. "Muss das Museum so gebaut werden, ist alles zu spät? Keineswegs. Herzog & de Meuron haben in der Vergangenheit mit hervorragenden Bauten wie dem Schaulager bewiesen, dass sie innovativere Kunstpräsentationskonzepte erfinden können als einen Hochsicherheitstrakt für 'scheißteure' (Herzog) Kunst in Kathedralbrot-Optik. Doch die Lobby des Projekts unternimmt alle erdenklichen Anstrengungen, um Fragen, Bedenken und Kritik wegzubulldozern."

Das Museum der Moderne ist allerdings beileibe nicht das einzige Problem der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, stöhnt Swantje Karich in der Welt, die sich einen vom Bundesrechnungshof verfassten und von Politikern aus dem Haushaltsausschuss des Bundestages durchgestochenen Bericht zum Bauunterhaltsstau beim Immobilienbestand der SPK angeschaut hat: "Die Berliner Museen rotten vor sich hin und niemand kümmert sich. Kleine Bildchen dokumentieren in dem ansonsten sehr kurz gefassten Blatt: Verschimmelte Fenster, notdürftig abgedeckte Kunst in einem undichten Keller, Sammlungsobjekte nur durch Plastikplanen geschützt, eine Baumwurzel frisst sich in die Fassade des Kunstgewerbemuseums."
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Ideen

Extremismus ist nicht immer gewalttätig, warnt der Politologe Eckhard Jesse in der FAZ. Aber auch die gewaltlosen Extremisten müsse man bekämpfen, was allerdings, wie Jesse zugibt, nicht ganz einfach ist: "Verfassungsfeindliche Ziele können ebenso ein Grund zur Intervention sein wie verfassungsfeindliche Methoden. Für die Demokratie besteht eine spezifische Schwierigkeit darin, den extremistischen Charakter einer nicht gewalttätigen Gruppierung angesichts möglicher Mimikry zu erkennen. Dabei kommt es nicht nur auf die Programmatik an, sondern auch auf die politische Praxis, die Positionen der Anhänger wie die Strategien der Führungsspitze. Das Urteil fällt nicht immer eindeutig aus, da Organisationen, mitunter im Grenzbereich zwischen Extremismus und Demokratie angesiedelt, höchst unterschiedliche Strömungen aufweisen."

Gestern erklärte Thomas Schmid in der Welt "Retro-Kraftmeierei à la Merz" für "fehl am Platz" (unser Resümee). Heute wünscht sich der Publizist Nils Heisterhagen auf Zeit online einen Staatsmann mit Schmidt-Schnauze, der dem Land "Debatte, Orientierung und Ordnung" vermittelt. Das sei jetzt einfach mal fällig: "Im Parlament und den parteiinternen Diskursen ist eine gesunde rational-emotionale Debattenkultur verloren gegangen, während die Debatte da draußen, in den sozialen Netzwerken und teils in zügig formulierten Onlinekommentaren, immer emotionaler und immer weniger rational wird. Ein zunehmend verkopfter politischer Bürokratiekomplex, der auf maximale Fehlervermeidung ausgelegt ist, steht so immer mehr im Kontrast zu einer wütenden Diskurswelt ... Beide Welten entfernen sich immer mehr voneinander. Kaum einem Politiker gelingt es, sich nach draußen in diese neue Debattenwelt zu wagen - und in ihr bestehen zu können. Dabei braucht es genau solche Brückenbauer jetzt."

Im Interview mit der taz plädiert der Soziologe Peter Ullrich dafür, die international gängige Antisemitismusdefinition zu überarbeiten, weil sie die Meinungsfreiheit der BDS-Anhänger einschränke: "Es gibt bei BDS auch antisemitische Äußerungen. Aber all das bedeutet nicht, dass BDS als Ganzes antisemitisch ist. Das ist Unsinn. ... Der rechtsextreme Antisemitismus ist viel bedrohlicher als BDS. In der öffentlichen Debatte sind die Maßstäbe komplett verrutscht."
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Internet

Aaron Sorkin, der Drehbuchautor von David Finchers Faceboook-Film "The Social Network", schreibt in der New York Times eine wunderbare Polemik gegen Mark Zuckerberg, der politische Anzeigen mit Falschmeldungen im Namen der Meinungsfreiheit verteidigt: "Das Gesetz, das Überbringer von nutzergeneriertem Inhalt für diesen nutzegernerierten Inhalt verantwortlich macht, so wie es bei Filmstudios, Fernsehstationen, Buch-, Magazin- und Zeitungsverlagen der Fall ist, ist noch nicht - noch nicht! - nicht geschrieben. Fragen Sie mal Peter Thiel, der eine Verlumdungsklage gegen Gawker finanzierte und die Seite in den Ruin trieb und zum Schließen zwang. (Sie sollten Thiels Nummer ja haben, er war einer der frühen Facebook-Investoren)."
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Überwachung

Die Digitalisierung bietet Arbeitgebern geradezu chinesisch anmutende Möglichkeiten zur Kontrolle ihrer Angestellten, sagt der  Arbeitsrechtler Peter Wedde im Gespräch mit  Alexander Fanta von Netzpolitik: "Neuerdings gibt es immer öfter auch Auswertungen in neuen Kommunikationsanwendungen. Nehmen Sie beispielsweise ein internes Soziales Netzwerk, wie es viele Firmen inzwischen nutzen. Da kann ich beispielsweise wunderschön auswerten, wer wie viel kommuniziert und wer wie viele Likes für seine internen Geschichten bekommt. Wer sind die angesehensten Leute, wen kann keiner leiden? Das sind alles Dinge, die in Auswertungen einfließen und die jetzt in letzter Zeit im Kommen sind, muss man sagen. Das ist auch eine Verhaltenskontrolle."
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