9punkt - Die Debattenrundschau

Typische Umbruchserfahrung

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.11.2019. Also unseres Wissens.... ist die Mauer seit gut dreißig Jahren auf. Die Zeitungen fragen Schriftsteller: In der DDR waren die Verhältnisse repressiv, aber einfach. Heute aber leben wir in Zeiten, "in denen die Begriffe links und rechts endgültig bedeutungslos wurden", schreibt Monika Maron in der NZZ. In der FAZ kritisiert auch Lukas Rietzschel, nach der Wende im Osten geboren, die Narrative der Wessis über die Ossis. Auch die Debatte über Meinungsfreiheit geht weiter: Diese sei von zwei Seiten eingekreist, diagnostiziert der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel in der Zeitschrift IPG.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.11.2019 finden Sie hier

Europa

Der 9. November naht. Schabowskis Lapsus liegt dreißig Jahre zurück. Und überall fragen die Zeitungen (wie sie es früher häufiger taten) Schriftsteller, wie das denn so war damals.

In der DDR waren die Verhältnisse repressiv, aber einfach, und das bittere Lachen, das man lachte, war zwar nicht befreiend, aber eindeutig, schreibt Monika Maron in der NZZ. Heute aber leben wir in Zeiten, "in denen die Begriffe links und rechts endgültig bedeutungslos wurden". Und die Verhältnisse stehen auf dem Kopf: "Wer die bis dahin selbstverständlichen Forderungen der Linken wie die Aufklärung, den säkularen Staat und die Frauenrechte verteidigte, fand sich plötzlich auf dem rechten Kampffeld wieder; und meine linken, grünen Feministinnen aus Hamburg verteidigten vermutlich leidenschaftlich das islamische Kopftuch und forderten Verständnis auch für die hartgesottensten muslimischen Frauenverächter, was für mich bedeutet: Sie waren zu Reaktionärinnen mutiert, also rechts." Der Text wird gegen Ende bitter. Maron schildert den Begriff "rechts", als Etikett, das jede Debatte beendet: "Rechte fragt man nicht, mit Rechten redet man nicht, Bücher von Rechten liest man nicht, Rechten darf man ihre Stände auf Buchmessen verwüsten, Rechten hört man nicht zu und antwortet ihnen nicht - und wer oder was rechts ist, entscheidet jeder, der sich für links hält."

In der Zeit sprechen die Brüder Jens Bisky (heute Redakteur im Feuilleton der SZ) und Norbert Bisky (Maler) mit Adam Soboczynski und Tobias Timm über ihr 1989. Jens Bisky schildert die seltsame Berliner Dialektik nach 89: "Ost-Berlin war eine Wohlstandsinsel in der DDR. West-Berlin war das Schaufenster der Freiheit, aber doch eines, auf das man von Köln und München aus mit einer gewissen Verachtung blickte. Nach dem Mauerfall haben die West-Berliner dann eine typische Umbruchserfahrung gemacht: Sie verloren Subventionen und Aufmerksamkeit, galten als zurückgebliebene Figuren." Ost-Berlin, so Bisky, wurde dagegen aufgewertet.

In der FAZ beklagt auch der Schriftsteller Lukas Rietzschel, nach der Wende im Osten geboren, die Narrative der Wessis über die Ossis: "Das erste, beginnend nach dem Mauerfall, dauerte bis in die zweitausendzehner Jahre an und lautete: Deine Eltern sind rückständige Höhlenmenschen, die in ihrem Leben noch nie eine Banane in der Hand gehalten und für die Stasi gearbeitet haben. Trifft Letzteres nicht zu, waren sie Opfer der Stasi. Dieses Narrativ wurde abgelöst, etwa von 2014 an, von einem neuen, das noch immer andauert und besagt: Deine Eltern sind nach der Wende arbeitslos geworden, waren frustriert und wütend und wurden deswegen rechtsextrem. Kinder, denen man ihr Spielzeug weggenommen hat. Bemitleidenswerte, traurige Gestalten."

Auch der Guardian widmet sich dem Thema: Auf der Meinungsseite erklärt Sabine Rennefanz von der Berliner Zeitung den Briten, wie furchtbar die Wende im Osten war: Alles veränderte sich! Dass die Ostdeutschen heute oft so bitter sind, obwohl es ihnen materiell gesehen meist deutlich besser geht, erklärt sie so: "Lange Zeit fehlte den Ostdeutschen die innere Freiheit, die Zeit und einfach die Worte, um zu erklären, wie sich die Transformation ihrer Welt nach 1989/90 auf sie ausgewirkt hat. Enttäuschung mag lange Zeit gesiedet haben, aber sie wurde nicht offen diskutiert oder gehört. Aber seit sich die Lebenszufriedenheit der Ostdeutschen verbessert hat, sind die Menschen besser in der Lage, das auszudrücken, was mit ihnen in den letzten 30 Jahren passiert ist. Die Menschen mussten in ihrem persönlichen Leben Stabilität finden, um ihre Wut und Frustrationen ausdrücken zu können." Außerdem beschreiben im Guardian die Autoren Julia Franck, Heike Geissler, Maxim Leo, Norman Ohler und Bernhard Schlink ihre Erfahrungen mit dem Mauerfall.
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Internet

Es mag sein, dass es in Zeiten von Fake News keine verbindlichen Wahrheiten mehr gibt, schreibt Evgeny Morozov in der NZZ. Zugleich arbeite man im Silicon Valley aber daran, eine "einzige, objektive und ewige Wahrheit zu generieren", durch Wikipedia etwa: "Kritiker von Wikipedia fokussierten vor allem auf die Tatsache, dass die Produktion von Wissen hier auf wahrhaft radikale Weise demokratisiert wurde: Jeder kann mitmachen! Dabei entging ihnen jedoch ein tiefer liegender und wesentlich konservativerer Aspekt des Projekts: Während bei vielen kontroversen Themen langwierige und oft bittere Debatten zwischen den Herausgebern entbrannten, wurde dies in der Präsentation der Artikel meist in keiner Weise sichtbar gemacht. Kontroverse und Uneinigkeit blieben dem Durchschnittsnutzer verborgen." Jeder Wikipedia-Artikel hat eine Versionsgeschichte, die oben verlinkt ist. Vielleicht geht Morozov davon aus, dass Internetnutzer nicht lesen können?
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Kulturpolitik

Die angekündigten Kosten für die Stuttgarter Oper stellen selbst Berliner Verhältnisse in den Schatten: Mehr als eine Milliarde Euro könnte die Sanierung kosten, meldet Claudia Henzler in der SZ: "Oberbürgermeister Fritz Kuhn und Kunstministerin Theresia Bauer - beide von den Grünen - hoffen, dass die Bedeutung des Theaters letztlich über den Milliardenschock hinweghilft. Man habe sich bewusst entschieden, mit einer realistische Rechnung in die Diskussion zu gehen, sagte Bauer am Dienstag. 'Wir hören auf mit der Politik früherer Jahre, sich billig in so ein Großprojekt einzuschleichen, mit schöngerechneten Zahlen.' Die bei öffentlichen Bauten immer wieder praktizierte Methode, erst mal den ersten Spatenstich zu setzen und dann die Kosten schrittweise nach oben zu korrigieren, soll es bei der Stuttgarter Staatsoper nicht geben."
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Gesellschaft

Von einer Ökodiktatur sind wir zwar weit entfernt, dennoch stehen Klimaschutz und Demokratie in einer "strukturellen Spannung", schreibt Nils Markwardt auf Zeit Online und verweist auf den Soziologen Stephan Lessenich, der in seinem Buch "Die Grenzen der Demokratie" schreibt, moderne Demokratien basierten seit jeher auf einem doppelt destruktiven Verhältnis zur Natur. "Zum einen fußten und fußen demokratische (ebenso wie staatssozialistische) Industrienationen, allen voran Deutschland, auf einer Art petrochemischem Konsens. Dieser ging davon aus, dass jener wirtschafts- und energiepolitische Raubbau an der Natur, der nicht nur zum Wohlstandszuwachs, sondern damit auch zur relativen Befriedung des Klassenkonflikts führte, praktisch gratis zu haben sei. Oder wie Lessenich schreibt: Die Demokratie 'hat sich gesellschaftliche Naturverhältnisse eingerichtet, die funktional absolut unverzichtbar, ökologisch jedoch vollkommen unhaltbar sind - und sich in diesen Verhältnissen eingerichtet'."
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Ideen

Der Streit um die Meinungsfreiheit geht weiter. Steht wirklich alles zum besten, wie es Harald Staun in der FAS behauptete (unser Resümee), oder sollte man die Meinungsfreiheit gar einschränken, wie es Navid Kermani zu befürworten schien (unser Resümee)? Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel sagt im Gespräch mit der Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft (IPG): "Die Verrohung des öffentlichen Diskurses hat ... mindestens zwei Quellen: zuerst und zuvörderst den Rechtspopulismus, der bewusst die sogenannten roten Linien überschreitet, aus Überzeugung oder mit strategischer List. Da hat sich ein rechter Gramscianismus breitgemacht. Die Linksliberalen mit ihrer intransigenten Hybris und ihrer Sehnsucht nach Ausschließung sind die andere Quelle. Beide Lager polarisieren die Debatte. Eine wirklich demokratische Debatte muss aber radikal offen und pluralistisch sein (Laclau; Mouffe; Gramsci selbst) und nicht durch eng gezogene rote Linien nur die 'richtige' Moral zulassen."

Etwas skeptisch bespricht der Philosoph Michael Hampe in der Zeit Jürgen Habermas' 1.700-seitiges Vermächtnis "Auch eine Geschichte der Philosophie", eine Geschichte der Philosophie also, die sich offenbar auch mit frommen Fragen herumschlägt: "Habermas erkennt eine Metaphysik als 'Gestalt des Geistes' in der Gegenwart nicht an, weil 'das Denken' seiner Meinung nach 'überzeugende Lernprozesse' durchlaufen hat, hinter die 'es' nicht mehr zurückfallen könne... Das Zeugnis über die Versetzung stellt der philosophische Zeitdiagnostiker aus. Aber werden gegenwärtige analytische Ontologen, die heute philosophy of mind oder Metaphysik betreiben, sein Bewertungssystem auch anerkennen? Gibt es auch außerhalb der Werke von Kant, Hegel und Habermas eine eindeutige Fortschrittsgeschichte der Philosophie, auf die sich die gesamte Zunft einigen könnte? Kaum."

In der taz schreibt Jan Feddersen den Nachruf auf die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker, die dem queeren Diskurs von den "fluiden Geschlechtern" misstraute: "Ihr komme es, diesen Haltungen widersprechend, auf Geschlechterdemokratisches an, darauf, dass es zwar Unterschiede zwischen Frauen und Männern gebe, diese aber keine Hierarchie begründen dürfen."

In Anlehnung an die Radioansprachen, die Thomas Mann ab 1940 aus dem kalifornischen Exil sandte, hat der Trägerverein der Mann-Villa, die 2016 von der Bundesregierung gekauft wurde und nun als deutsch-amerikanische Begegnungsstätte genutzt wird, eine Reihe mit Ansprachen für die Demokratie gestartet, die von der SZ gedruckt und vom Deutschlandfunk gesendet werden. Zum Auftakt spricht Francis Fukuyama über die Bedrohung der Demokratie durch autoritäre Regierungen: "Wir befinden uns in einer globalen Krise der Demokratie, in der die offene, tolerante Gesellschaft unter gewaltigem Druck steht. In diesem Kampf haben wir uns rückwärts bewegt. Thomas Mann litt in seiner Laufbahn unter einer weiteren Sache, gegen die wir uns wappnen müssen: seine Vorladungen vor das House Un-American Committee (das Komitee für unamerikanische Umtriebe im Repräsentantenhaus), also die Vorurteile gegen dissidentische Meinungen, die auch in den etabliertesten Demokratien existieren. Leider taucht dieser Trend heute in den USA, in Europa und in anderen Ländern, die eigentlich Bastionen der freien Gesellschaft sein sollten, wieder auf."

Außerdem: In der taz unterhält sich Juli Katz mit der Feministin Cinzia Arruzza, Ko-Autorin des Manifests "Feminismus für die 99 %", die die These vertritt, dass es keinen Feminismus geben könne, der nicht antikapitalistisch ist.
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