9punkt - Die Debattenrundschau

Unerfüllbare Motorisierungswünsche

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2019. Zeit online und Tagesspiegel bringen einige Texte von Ossis, die nicht mit den Ossis heulen wollen, zum Beispiel von Birgit Walter, die schon vor der Wende Journalistin in der DDR war  und es nicht fassen kann, dass 41 Prozent der Ostdeutschen das Recht auf  Meinungsfreiheit heute und in der DDR "locker auf eine Stufe stellen". Die Welt geißelt ein Urteil des EuGH, das Produkte aus den von Israel besetzten Gebieten gekennzeichnet sehen will, als antisemitisch. In Atlantic schildert Zeynep Tufekci Angst und Entschlossenheit der Demonstranten in Hongkong. Und Netzpolitik stellt neue chinesische Überwachungskameras vor: Sie erkennen jetzt Uiguren.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.11.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Ostdeutschen seien durch die Wende traumatisiert worden, deshalb wählen sie jetzt zur Pflege ihrer Wendewunden rechts, so geht - etwas verkürzt - die neue Erklärung für die Wahlergebnisse in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Jaja, und das "passende Narbenöl gibt's in der Drogerie um die Ecke", spottet im Zeit-Blog "10 nach 8" die in Bautzen geborene Autorin Marlen Hobrack. Sie kann es nicht mehr hören, das Lied von der misshandelten ostdeutschen Identität: "Die ostdeutsche Seele, ob traumatisiert oder nicht, ist letztlich ein rückwärtsgewandtes Konstrukt. Sie konnte erst entstehen, als das, was sie angeblich geschaffen hatte - der Staat namens DDR -, endgültig untergegangen und abgewickelt, die Erinnerung an Unterdrückung und Wendefreudentaumel verblasst war. Noch vor zehn Jahren gaben befragte ostdeutsche Twens, ich kann es selbst bezeugen, sehr stolz und wahrheitsgemäß an, dass ihre ostdeutsche Herkunft für sie keine Rolle spiele. Man sei eben deutsch, fühle sich sogar eher europäisch."

Wie konnte er den Rechtsextremismus in Ostdeutschland sein Leben lang übersehen, fragt sich im Tagesspiegel der 1991 in Magdeburg geborene Julius Betschka, dem der Hashtag #baseballschlägerjahre (mehr dazu hier) des Zeit-Journalisten Christian Bangel die Augen öffnete. Es geht darin um die neunziger Jahre, als sich die Rechten im Osten formierten und Linke und Ausländer zu jagen begannen, wie zum Beispiel bei den Pfingstkrawallen in Magdeburg 1994, in deren Folge ein Afrikaner starb: "Auch in meiner Familie wurde über diese Zeit selten geredet. Soweit ich weiß, ist das auch in vielen anderen kein Thema. Es wird dieser Jahre nicht gedacht. Es scheint, als wären einfach alle froh, dass sie vorbei sind. Es gibt im Osten - was das betrifft - keine Kultur des Erinnerns. Es ist eher eine des Schweigens."

"Haarsträubend" findet es Birgit Walter auf Zeit online, dass laut einer Studie des Berliner Instituts Policy Matters 41 Prozent der Ostdeutschen das Recht auf Meinungsfreiheit heute und in der DDR "locker auf eine Stufe stellen". Alles schon vergessen?, fragt sie, die lange vor dem Mauerfall als Kulturredakteurin der Berliner Zeitung gearbeitet hatte. Kein Wort durfte man damals schreiben über die wirtschaftliche Misere der DDR oder Umweltprobleme. Aber auch ganz Banales war verboten: "Die Redakteure hatten das verminte Gelände meist auch ohne nachzuschlagen im Kopf. Niemandem wäre eingefallen, etwas über Mangelwirtschaft, Reisefreiheit, Fluchtversuche oder die Devisenläden Intershop zu schreiben. Schon Fotos von Schiffen, Brücken und Autos hatten grundsätzlich zu unterbleiben. Sie konnten Fernweh verursachen, an den maroden Zustand heimischer Brücken erinnern, unerfüllbare Motorisierungswünsche wecken. In der Regel gehörten auch Speisen aller Art nicht in die Zeitung, keine Imbissstände auf Weihnachtsmärkten, keine Gaststätten. Leser sollten angesichts knapper Ressourcen und hoher Lebensmittelsubventionen nicht noch zum Konsum animiert werden."

In der SZ umkreist Julian Dörr die "Manosphere", in der sich Antifeministen, Pick-Up-Artists, Incels und diverse Männerrechtsbewegungen versammeln. Sie alle haben eins gemeinsam: Sie sehen Männer als Opfer eines erstarkenden Feminismus, was für Dörr letztlich im Rechtsextremismus mündet. "Hier offenbart sich eine der größten Gefahren des Antifeminismus: Mit seiner Kritik an sich wandelnden Geschlechterrollen, seinem Beharren auf patriarchalen Strukturen sowie dem Mythos vom Mann als Verlierer der Emanzipation der Frauen hat der Antifeminismus Sympathisanten auch in der konservativen, bürgerlichen Mitte der Gesellschaft. Dort macht er dann eben jene rechten Gedanken möglich, mit denen er seit jeher eng verbunden ist."
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Ideen

Der Grundkonsens der westlichen Gesellschaften ist flöten gegangen, das einzige, was wir noch erreichen können, ist friedliche Koexistenz der kulturellen linken Eliten und der Traditionalisten, meint der Philosoph Alexander Grau in einem Vortrag für das Philosophicum Lech 2019, das die NZZ veröffentlicht. "Da in diesem Kulturkampf der Spätmoderne nicht einfach nur Werte aufeinanderprallen, sondern unvereinbare Konzepte von Werteressourcen, ist eine Verständigung zwischen den Lagern nur schwer möglich. Oberflächlich betrachtet, sprechen beide noch dieselbe Sprache, faktisch benutzen die beiden Milieus aber ein eigenes Idiom, das sich in das Idiom der Gegenseite nicht mehr übersetzen lässt. Assoziiert zum Beispiel der eine mit der traditionellen, intakten Kleinfamilie Geborgenheit, Wärme, Liebe und Zuwendung, so verbindet der andere damit Enge, Heuchelei, Abhängigkeit und Diskriminierung. Die beiden Sprachwelten sind schlicht unvereinbar."

Ebenfalls in der NZZ grübelt der Politologe Frank Decker über die "Ambivalenzen des Populismus".
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Europa

Nach einem Urteil des EuGH müssen Produkte aus israelischen Siedlungen im Westjordanland oder vom Golan künftig besonders gekennzeichnet werden, also nicht mehr als "Made in Israel" sondern als "Aus einer israelischen Siedlung im Golan" zum Beispiel. "Politischer Hintergrund", erklärt der Tagesspiegel in einem kurzen Bericht, "ist der ungelöste Nahost-Konflikt und der Streit um die 1967 von Israel eroberten Gebiete, darunter das Westjordanland, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen. Die Vereinten Nationen stufen die Gebiete als besetzt ein." Für Clemens Wergin (Welt) zeigt sich in dem Urteil ein Doppelstandard, den er schlicht als antisemitisch einstuft: "Man nehme nur Marokko, das die Westsahara illegal besetzt hält und die dortigen Ölvorkommen ausbeutet und wie Israel ein Assoziationsabkommen mit der EU hat. Anders als im Falle des jüdischen Staates verzichtet die EU darauf, Lebensmittel aus der Westsahara eigens kennzeichnen zu lassen. Ähnliches gilt für das türkisch besetzte Nordzypern, dessen Produkte unter dem Label 'made in Cyprus' in die EU importiert werden, Wenn man die Maßstäbe der Richter bezüglich 'ethischer' Konsumentenentscheidungen ernst nimmt, hätte die EU sich längst auch für eine Kennzeichnung chinesischer Produkte aus dem besetzten Tibet einsetzen müssen oder von Gütern aus anderen umstrittenen oder besetzten Gebieten. Israel wird also von der EU zum Sonderfall gemacht. Und da sollten auf einem Kontinent, der ein stetig wachsendes Antisemitismusproblem hat, die Alarmglocken läuten."

Gina Thomas wirft für die FAZ einen Blick auf die nordirischen Unionisten, vor allem auf die besonders reaktionäre protestantische Partei DUP, die mit ihrer extremen Homophobie und Ablehnung von Abtreibung auf eine seltsame Art aus der Zeit gefallen zu sein scheint: "Wenn die britische Regierung sich Ende Oktober in einer ihrer letzten Amtshandlungen vor der Auflösung des Parlaments nicht über die jetzige DUP-Vorsitzende Arlene Foster hinweggesetzt hätte, wären Abtreibung und Ehe für alle in Nordirland weiterhin illegal. Man darf es ironisch nennen, dass der protestantische Norden Irlands zurückgeblieben ist hinter den Liberalisierungen in der katholischen Republik. Seit der Teilung ist der ehemals reichste Teil der Insel auch wirtschaftlich ins Hintertreffen geraten."
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Politik

Zeynep Tufekci schickt für den Atlantic einen beeindruckenden Bericht aus Hongkong, wo die Entschlossenheit der Demonstranten durch nichts zu brechen sein scheint - trotz teilweise drastischer Polizeigewalt. Sie schildert ihre Gespräche mit Demonstranten: "Hast du keine Angst? fragte ich zögernd. 'Wir haben Angst', gaben sie schnell zu. Sie kicherten sogar, aber es wurde schnell ernst. Das ist unsere letzte Chance, sagten sie sehr sachlich. Wenn wir uns zurückziehen, wird nichts zwischen uns und Festlandchina stehen, sagten sie. Sie sprachen über Xinjiang und was China mit der uigurischen Minderheit gemacht hatte. Ich habe über Monate so viele Demonstranten über das Schicksal der Uiguren sprechen hören. China wollte vielleicht ein warnendes Exempel an der Region statuieren, aber die Lektion, die Hongkonger daraus lernten, schlug genau in die umgekehrte Richtung - mit allen Mitteln widerstehen, mit aller Kraft, denn wenn man einmal verliert, wird es eine Katastrophe für dein Volk geben, und die Welt wird sie ignorieren."
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Überwachung

Die erste rassistische Überwachungstechnologie der Welt kommt aus China, berichtet Markus Reuter bei Netzpolitik: "Hikvision, der weltgrößte Hersteller von Überwachungskameras, hat auf seiner chinesischen Webseite eine Überwachungskamera vermarktet, die automatisch Angehörige der Minderheit der Uiguren erkennen soll. Der chinesische Staat ist mit 51 Prozent am Überwachungskonzern beteiligt. Zuerst berichtete die Plattform IPVM, ein Fachmedium zum Thema Videoüberwachung, über die Kamera. In der Produktbeschreibung hieß es, dass die Kamera Geschlecht (männlich, weiblich), ethnische Zugehörigkeit (zum Beispiel Uiguren, Han) und Hautfarbe (zum Beispiel weiß, gelb oder schwarz) analysieren könne."
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Kulturpolitik

Der sonst eher für die Berliner Zeitung schreibende Architekturkritiker Nikolaus Bernau wettert heute in der FAZ gegen das "Museum der Moderne" und den Entwurf von Herzog und De Meuron, die Monika Grütters nach seiner Darstellung mit aller Gewalt verwirklicht sehen will. Neben den Kosten bekümmert ihn die "totale Zerstörung der großartigen Sichtachsen" im doch mehr zusammengestoppelt wirkenden Berliner Kulturforum. Der Architekt Stephan Braunfels habe hier Zeichnungen im Umlauf gebracht (die auf seiner Steite von dlf kultur zu sehen sind: "Erkennt keiner derjenigen, die jetzt, ermattet vom Dauerbombardement derer, die sagen, es sei für Berlin katastrophal, wenn die Scheune nicht komme, ihre Baukosten durchwinken, was wirklich katastrophal ist - nämlich, wie extrem 'die Scheune' in die Wirkung der Philharmonie und vor allem der Neuen Nationalgalerie eingreift? Sie drängt diese und die Neue Staatsbibliothek regelrecht an den Rand des Kulturforums."

In der Welt dagegen meint Swantje Karich: Das Museum sollte kommen. "Das Museum von Herzog & de Meuron ist ein überzeugender Entwurf. In der überarbeiteten Fassung zeichnen sie einen Ort, der ähnlich der Tate Modern in London (mit dem Erweiterungsturm von Herzog & de Meuron) eine beeindruckende Symbiose von Moderne und Gegenwart vollzieht. Ein offenes Haus, das lange in den Abendstunden geöffnet haben soll, wo sich die Menschen treffen könnten - nicht nur, um Kunst zu gucken, sondern sich zu finden, zu sammeln und auszutauschen. Es ist die Vision eines Hauses, das dem Rhythmus, dem Puls von Berlin entspricht."
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