9punkt - Die Debattenrundschau

Sind die Franzosen dann die Sansculotten?

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2019. Im Tagesspiegel rauft sich Timothy Garton Ash die Haare angesichts der Langeweile in der deutschen Politik. Politico.eu bezweifelt, ob die Einschränkung politischer Werbung in sozialen Netzen wirklich etwas bringt. Auf Facebook entschuldigt sich Extinction-Rebellion-Mitgründer Roger Hallam für seine Holocaust-Vergleiche. Aber andererseits: "Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt."  
Efeu - Die Kulturrundschau vom 22.11.2019 finden Sie hier

Europa

Deutschland ist nach den fetten Jahren - und nach zehn Jahren GroKo - müde geworden, meint Timothy Garton Ash und startet einen Weckruf im Tagesspiegel: "Dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution, die der deutschen Wiedervereinigung den Weg geebnet hat, ist Deutschland eine defensive Status-quo-Macht, getragen von einer defensiven, konservativen Gesellschaft. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ist ungeduldig, er will Europa revolutionieren und dem Kontinent napoleonische strategische Ambitionen verleihen, aber Merkels Deutschland nimmt den Ball nicht an. Wie mir einer von Macrons Beratern einmal sagte: 'Aristokraten stimmen nicht für die Revolution.' (Wenn die Deutschen in dieser Analogie die Aristokraten der Zeit vor 1789 sind, sind die Franzosen dann die Sansculotten?) Die deutsche Antwort jedenfalls changiert zwischen lauwarm und ablehnend. Die deutsche Politik passt zu Wirtschaft und Gesellschaft. Deutschland ist das einzige Land, das ich kenne, in dem Politiker es regelrecht anstreben, langweilig zu klingen."
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Geschichte

Bild aus der Ausstellung: Dominique-Vivant Denon, Frosch mit Menschenkopf. © Chalon-Sur-Saône, Musée Denon 

Besprochen wird eine Ausstellung zu Wilhelm und Alexander von Humboldt im Deutschen Historischen Museum (Tagesspiegel, FAZ).
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Ideen

Der Campus-Verlag zieht das Buch "Die Wiederkehr der Konformität" der Soziologin Cornelia Koppetsch zurück, meldet Jochen Zenthöfer im FAZ.Net. Auch hier seien (nach Vorwürfen gegen das Buch "Die Gesellschaft des Zorns", unsere Resümees) Plagiate gefunden worden: "Von einem Versehen wird man angesichts der Häufigkeit solcher Übernahmen nicht sprechen können. Vielmehr scheint Koppetsch regelmäßig einen Stil der Collage zu praktizieren. Sie mixt eigene neue Gedanken, die zweifellos auch existieren, mit bereits früher publizierten Gedanken und Ideen von Dritten, deren Urheberschaft teilweise genannt, teilweise aber eben auch nicht genannt wird."

Laut einer Studie der ETH Zürich werden bis 2050 achtzig Prozent der 520 größten Städte einen extremen Klimawandel erleben, meldet der Zukunftsforscher Daniel Dettling in der NZZ und träumt von grünen Städten durch Anreize: "Wien ist seit Jahren beim Thema Lebensqualität global führend und gilt bei Wohnen und Mobilität als Vorbild für die Metropolen von morgen. Auf einer App bekommen die Wiener Bürger angezeigt, wie viel CO2 sie durch die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs gespart haben. Ab 2020 startet die Stadt das Projekt 'Kultur-Token': Mit einer App werden die Bürger spielerisch zu klimaschonendem Verhalten animiert. Die Wiener können Punkte sammeln, wenn sie zu Fuß gehen, das Rad oder die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Diese 'Tokens' können sie dann in Kultureinrichtungen der Stadt einlösen."

Weiteres: Ebenfalls in der NZZ versucht die Autorin Cynthia L. Haven Amokläufe, Anschläge, aber auch Konflikte und Nationalismus mit René Girards Mimesis-Theorie zu erklären: Menschen neigen zu Nachahmung, begehren das gleiche, bekämpfen einander und suchen bald einen "Sündenbock": "Irgendwann legt man das ansteckende Übel, welches die Gesellschaft erfasst hat, einem Einzelnen oder einer Gruppe zur Last - in der Regel einem Außenseiter oder einer marginalisierten Gemeinschaft, Menschen also, die sich nicht wehren können oder wollen."
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Internet

Zusehends wollen soziale Medien wie Twitter, Google und teilweise auch Facebook politische Werbung einschränken. Mark Scott bezweifelt bei politico.eu, ob das etwas bringt. Die entscheidende Frage seien die Inhalte in den Netzen, und ob die Netze dafür verantwortlich gemacht werden. "So kann es beispielsweise sein, dass ein Kandidat nicht mehr in der Lage ist, jemanden online mit einer Anzeige nahezu punktgenau anzusprechen. Aber nichts würde denselben Kandidaten (möglicherweise mit einer signifikanten Gefolgschaft in den sozialen Medien) davon abhalten, Posts zu veröffentlichen, die dann weithin unter potenziellen Unterstützern verbreitet wurden, selbst wenn diese Nachrichten entweder falsche oder irreführende Informationen enthielten. Alle Unternehmen haben Maßnahmen ergriffen, um die Verbreitung von Fehlinformationen ... zu reduzieren, und die Freiheit der Menschen, sich online zu äußern, sollte zu Recht geschützt werden. Aber zu sagen, dass ein politisches Werbeverbot... einen sinnvollen Unterschied zu dem machen wird, was die Menschen online sehen, ist schwer mit der Realität vereinbar." Mehr zur Einschränkung politischer Werbung bei Google hier.

Wolfgang Kleinwächter, emeritierter Professor für Internetpolitik der Universität Aarhus, berichtet in der FAZ über Bestrebungen einer "Global Commission on the Stability of Cyberspace", einen möglichen Cyberkrieg zu begrenzen: "Politisch wäre ein Vertrag zum Schutz des öffentlichen Kerns des Internets vergleichbar mit den Briand-Kellogg-Pakt von 1928. Dieser Kriegsächtungsvertrag wurde nach 1945 herangezogen, um die Kriegsverbrechen Deutschlands und Japans juristisch zu verurteilen. Ein Cyberkrieg kann nicht gewonnen werden, argumentierte unlängst ein Delegierter in der UN-Vollversammlung, daher sollte er nicht geführt werden. Und man sollte ihn ächten, bevor er ausgebrochen ist."

Außerdem: Christopher Hamich  berichtet bei Netzpolitik, dass die Bundesregierung an einem "Influencer-Gesetz" arbeitet, das die Trennung von redaktionellem Inhalt und Werbung bei Posts verbessern soll.
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Gesellschaft

Nachdem Extinction-Rebellion-Mitbegründer Roger Hallam gestern im Zeit-Interview den Holocaust als einen "weiteren Scheiß der Geschichte" bezeichnete (Unser Resümee), gibt er sich in einem Facebook-Post zunächst reumütig: "Es tut mir sehr leid für die Worte, die ich gebraucht habe. Und ich möchte mich entschuldigen für die Verletzung und die Beleidigung, die sie ausgelöst haben",  Roger Hallam in einem Facebook-Post. Die Debatte sei "obszön und beleidigend", fährt er fort, um dann aber nochmal festzustellen: "Ich habe nicht das Gefühl, mich für die Aufmerksamkeit zu entschuldigen, die ich auf den Genozid gelenkt habe, der sich gerade ereignet". Kurz zuvor hatte Hallam bereits in einem Spiegel-Interview (hinter einer Paywall) nachgelegt: "Was wird zur schwerwiegendsten Folge des Klimawandels für Frauen auf der ganzen Welt werden? Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenbruch. Das bedeutet Krieg, das Abschlachten von Männern und die Vergewaltigung von Frauen." Und: "Der Klimawandel ist nur das Rohr, durch das Gas in die Gaskammer fließt. Es ist nur der Mechanismus, durch den eine Generation eine andere tötet." Sich selbst vergleicht Hallam dort zudem mit den Mitgliedern der Weißen Rose, die "Eliten", die nichts gegen den Klimawandel täten, erinnert er an die Nürnberger Prozesse

Roger Hallams Aussagen über den Holocaust bedeuten einen "absoluten Tiefpunkt", ärgert sich Tino Pfaff, einer der Sprecher des deutschen Ablegers von Extinction Rebellion im Interview mit jetzt.de. Er verweist nochmal darauf, dass XR dezentralisiert organisiert sei, Hallam also keineswegs der Sprecher von XR sei. Hallams Aussagen versucht er dennoch zu erklären: "Er will mediale Empörung erzeugen und damit letztlich Aufmerksamkeit und Empörung bezüglich der dramatischen Klimakatastrophe hervorrufen. Schon heute sterben täglich unzählige Menschen und tatsächlich droht durch die Auswirkungen der Erderwärmung und der ökologischen Krise ein fürchterliches Massensterben insbesondere im globalen Süden, das man auch als Genozid bezeichnen kann. Verantwortlich dafür sind hauptsächlich wir Menschen im globalen Norden." Der Welt sagte Pfaff außerdem, er sei dafür, Hallam aus der Bewegung auszuschließen.
 
In der SZ kommentiert Andrian Kreye: "Roger Hallam betreibt mit seiner Relativierung des Holocaust nicht nur einen Schulterschluss zwischen links- und rechtsextremen Positionen. Die haben sich im Antisemitismus, camoufliert als Aufrechnungen, Vergleiche, Relativierungen, schon öfter getroffen. Er sabotiert damit vor allem einen Kampf gegen die Erderwärmung, der zum Ziel hat, die Gefahr für die Menschheit jenseits aller Ideologien und Überzeugungen als kleinstmöglichen Nenner zu definieren. Die Ausgrenzung durch Polarisierung führt die Apokalyptik der Extinction Rebellion somit in eine Dynamik der Ausgrenzung, wie sie sonst der apokalyptische Glaube kennt."

Joscha Wölbert erklärt bei hpd.de warum linke Identitätspolitik gegenüber dem Islam, der im Namen eines Kulturbegriffs zu schützen sei, problematisch ist: "Identitätspolitische Linke scheinen anzunehmen, alle Muslime teilen die gleichen Merkmale, gleiche Herkunft sowie gleiche Eigenschaften. Der Unterschied zu den Rechten stellt dann nur die Schlussfolgerung dar, was mit einer solchen Gruppe zu tun ist. Für die Einen ist die fiktive homogene Gruppe als Minderheit zu schützen, für die Anderen stellt sie eine Gefahr für die eigene homogene Gruppe dar. Dass ein solcher Kollektivismus jegliche individuelle Identität verneint und versucht, Menschen mit vielfältigen Interessen und Ansichten unter einen Hut zu bringen, bewirkt im Kern das Gegenteil der ursprünglichen Absicht, Minderheiten zu schützen. Denn die kleinste Minderheit in der Gesellschaft ist das Individuum."
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Politik

Der Publizist und Menchenrechtsaktivist Thomas von der Osten-Sacken spricht im Interview mit Stefan Laurin von den Ruhrbaronen über die Proteste im Irak, im Libanon und im Iran: "Im Irak schließen sich zum Teil Polizisten den Protesten an. Die Polizeigewalt, die es massiv gibt, wird öffentlich diskutiert. Aber ein großer Erfolg ist auch, dass die Menschen in diesen beiden traditionell konfessionell gespalteten Ländern gemeinsam auf die Straße gehen. Ob jemand Christ, Sunnit oder Schiit ist, ob man Kurde ist - das spielt alles keine Rolle. Die Menschen wollen Staatsbürger ihrer Länder sein und sehen sich als Libanesen und Iraker. Auch das Frauen eine sehr große Rolle bei den Protesten spielen, ist ein Fortschritt." Im Fall Irans wirft Osten-Sacken der Bundesregierung vor, nichts zu tun: "Die Bundesregierung hat beide Seiten zum Dialog aufgefordert und von der iranischen Regierung verlangt, das Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu achten. Als ob es jemals so etwas im Iran gegeben hätte."
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