9punkt - Die Debattenrundschau

Zapfenstreich abgesagt

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2019. Das "Zentrum für politische Schönheit" entschuldigt sich auf seiner Website für seine Aktion "Sucht nach uns".  Götz Aly verteidigt die Aktion beim MDR, weil sie auf die Asche der Ermordeten aufmerksam macht. In Frankreich ist ab heute großer Streik: In der Zeit kritisiert der Philosoph Gaspard Koenig zwar Emmanuel Macrons zentralistische Politik, nicht aber seine Rentenreform. Krise auch in Großbritannien: Der New Statesman weigert sich, eine Wahlempfehlung auszusprechen - auch nicht für Labour.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2019 finden Sie hier

Gesellschaft

"Wir haben Fehler gemacht", schreibt das Zentrum für Politische Schönheit seit gestern auf seiner Website: "Wir möchten insbesondere auch die jüdischen Institutionen, Verbände oder Einzelpersonen um Entschuldigung bitten, die durch unsere Arbeit die Totenruhe nach jüdischem Religionsrecht gestört oder angetastet sehen. Zwar bekommen wir auch Rückmeldung von Angehörigen, die sowohl Form als auch Aussage unserer Arbeit begrüßen, aber unser Ziel war nie, Konflikte zwischen Menschen, die auf derselben Seite kämpfen, zu befeuern." Der Bohrkern soll verhüllt werden, die Crowdfunding-Aktion wurde gestoppt und der für Samstag geplante Zapfenstreich abgesagt. Ein Abbau der Stele ist allerdings vorerst nicht geplant.

Der Historiker Götz Aly begrüßt beim MDR indes Philipp Ruchs "Widerstandssäule" (unsere Resümees) - weil sie (neben ihrer "antifaschistischen" Botschaft) auf die Frage der Asche der Ermordeten aufmerksam macht: "Die deutschen Kriegsgräber für unsere Soldaten sind überall gepflegt, von Sankt Petersburg bis Kreta. Wo sich die sterblichen Überreste der Ermordeten aus den Lagern befinden, weiß man nicht. Da wird auch der Boden nicht gekennzeichnet. Das ist schon eine Art von Verdrängung, von 'nicht wissen wollen'. Ich finde diese Aktion deswegen dankenswert."

"Juden dürfen weder verbrannt noch exhumiert werden." Darauf weist im Aufmacher des SZ-Feuilletons Mirna Funk, Tochter eines jüdischen Vaters, noch einmal hin. Vor allem ärgert sie sich über den Umgang des ZPS mit Kritik an der Aktion: "Einige meiner Bekannten hatten den Post zur Ankündigung der 'Kunstaktion' kommentiert. Der Künstler Leon Kahane etwa fragte auf der Facebook-Seite von ZPS-Leiter Philipp Ruch: 'Könnt ihr zur Abwechslung auch mal Juden fragen, was die so davon halten?' Sein Eintrag wurde innerhalb weniger Stunden gelöscht und die digitale Freundschaft durch Ruch mit einem Klick beendet. Ein lebender Jude, der sich bemerkbar macht. Klar, das nervt, wenn man doch gerade mit den Toten ungestört für Aufruhr sorgen möchte." Und: "Strebertum in der politischen Kunst ist nie angenehm. Selbstgerechtigkeit aber ist fatal", kommentiert derweil Petra Kohse in der FR.
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Ideen

Der Sinologe Adrian Zenz sucht in der FAZ nach intellektuellen Vordenkern der ethnischen Säuberungspolitik in Xinjiang und findet etwa den Soziologen Ma Rong, der Minderheitenrepubliken ablehnt, weil er fürchtet, dass sie ein zu starkes Eigenleben entwickeln: "Statt eigener Identität, Sonderrechten, autonomer Regionen und eines separaten Bildungssystems sollten sich die Minderheiten vollständig in die Mehrheit der Han-Chinesen integrieren. Ma Rongs Vorbild waren hier sowohl der amerikanische melting pot als auch sein eigener Lehrer, der berühmte chinesische Anthropologe Fei Xiaotong. Dieser lehrte, dass die Han-Chinesen einen ethnischen 'Nukleus' darstellten, mit dem sich die angrenzenden Minderheiten in einem 'natürlichen' historischen Prozess nach und nach verschmelzen."
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Stichwörter: China, Xinjiang, Uiguren

Politik

Bereits vergangene Woche mahnten sechzig Ärzte, dass Julian Assange im Gefängnis sterben könnte, wenn nicht dringend eine Behandlung erfolgt (Unser Resümee) Es ist höchste Zeit, dem Wikileaks-Gründer zu helfen, ermahnt auch Harald Schumann im Tagesspiegel die Länder der EU: "Über Assanges Methoden lässt sich streiten. Dass er die Klarnamen von Zuträgern der US-Regierung nicht geschwärzt hat, gefährdete Unschuldige. Ob es journalistisch nötig war, E-Mails von Hillary Clinton zu veröffentlichen und Donald Trump zum Wahlsieg zu verhelfen, ist fraglich. Aber nichts davon rechtfertigt die Auslieferung in die USA, wo ihm eine lebenslange Gefängnisstrafe droht."

Nach dem Abtritt des bolivianischen Präsidenten Evo Morales setzt Samuel Misteli in der NZZ alle Hoffnung in die bolivianische Bevölkerung. Es war kein Putsch, erklärt er den "linken Ideologen": "Erstens war Evo Morales nicht von einer manipulativen weißen Elite zu Fall gebracht worden, sondern von einer Massenbewegung, die sich die Erhaltung der Demokratie auf Transparente und auf zahllose Hauswände geschrieben hatte. Zweitens war Morales längst keine Lichtgestalt mehr, sondern eine autoritäre Führerfigur, die viele Verbündete verprellt und die demokratischen Institutionen ausgehöhlt hatte."
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Medien

Für die Welt hat Christian Meier einen Blick in den neuen Medienstaatsvertrag geworfen: Geregelt werden soll, welche Formate im Internet als Rundfunk zu gelten haben und deshalb eine entsprechende Lizenz benötigen: "Die nun gefundene Grenze soll bei 20.000 gleichzeitigen Nutzern im Netz liegen." Und: "Inhalte, die einen besonderen 'Beitrag zur Meinungs- und Angebotsvielfalt' bieten, sollen von Nutzern beispielsweise in den Menüs von Smart- TVs und Kabelnetzanbietern, aber auch Fernsehplattformen wie etwa Zattoo leicht auffindbar sein, letztlich also bevorzugt werden gegenüber weniger gehaltvollen Sendungen. Welche Inhalte in diesem Sinne wichtig sind, soll alle drei Jahre überprüft werden. Klar, dass sich öffentlich-rechtliche Sender hier einen Vorteil versprechen. Einige Digitalverbände wie Bitkom und Eco sehen hier einen unzulässigen Eingriff in die Unabhängigkeit der Nutzer und damit eine 'Bevormundung der Verbraucher'".

In der NZZ ärgert sich der Publizist und Politologe Wolfgang Bok derweil über die politische Berichterstattung der Öffentlich-Rechten, die statt auf inhaltliche Analysen ganz auf "Skandalisierung und Personalisierung" setzen: "Die wenige Sendezeit, die für die politische Berichterstattung noch bleibt, wird gerne mit Interviews gefüllt. Weder im 'Bericht aus Berlin' (ARD) noch in 'Berlin direkt' (ZDF), für die jeweils nur 18 Minuten am Sonntagabend bleiben, ist Platz für inhaltliche Analysen. Wirtschaftsthemen werden bei den beiden öffentlichrechtlichen TV-Sendern auf Verbraucherfragen reduziert. Nach dem immer gleichen Motto: Böse Bosse ziehen arme Kunden über den Tisch. Und die Politmagazine ('Panorama', 'Monitor', 'Fakt', 'Frontal 21') haben sich offenbar ganz der 'Enthüllung' vermeintlicher Skandale verschrieben. Hier darf der Zuschauer weder Meinungspluralität noch thematische Überraschung erwarten.
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Geschichte

In der Debatte um die Hohenzollern (Unsere Resümees) kommt es überhaupt nicht auf die historischen Gutachten an, denn rechtlich ist die Frage, ob  Kronprinz Wilhelm den Nazsi erheblichen Vorschub leistete, längst geklärt, schreibt der Staatsrechtler Christoph Schönberger in der FAZ: "Es kommt für die Verwaltungsgerichte darauf an, ob mit einer gewissen Stetigkeit Handlungen vorgenommen wurden, die geeignet waren, die Bedingungen für die Errichtung und Entwicklung des NS-Systems zu verbessern, und dies auch zum Ergebnis hatten. Erforderlich ist also nicht eine historische Kausalität zwischen dem Handeln des Betreffenden und der Errichtung und Festigung der nationalsozialistischen Herrschaft, sondern lediglich eine Verbesserung der Bedingungen dafür. Ein erhebliches Vorschubleisten liegt dabei dann vor, wenn der Nutzen dieser Unterstützung für das Regime nicht nur ganz unbedeutend war."
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Europa

Ab heute ist in Frankreich ein großer Streik angesagt, der für Emmanuel Macron mal wieder auf eine Machtprobe hinausläuft: Vor allem Eisenbahner und Beschäftigte der Pariser Verkehrsbetriebe verteidigen dort ihre Rentenprivilegien (überdurchschnittlich gute Renten, und das unter sechzig). Der Philosoph Gaspard Koenig kritisiert im Gespräch mit Georg Blume von der Zeit zwar Macrons Politik des autoritären Staats und des Neoliberalismus (wobei er nicht erklärt, wie das zusammengeht), verteidigt aber seine Rentenreform: "Ich werde nicht demonstrieren gehen. Die meisten Proteste richten sich gegen Macrons Rentenreform. Er will ein Rentensystem für alle, ohne Privilegien für bestimmte Berufe. Das unterstütze ich. Das alte System spaltet die Gesellschaft, jeder ringt um seine Rentenvorteile gegenüber dem anderen, das erzeugt viel Neid und Verbitterung unter den Franzosen."

Die Franzosen führen zwar gerne universalistische Reden, hängen aber gleichzeitig - von den Taxifahrern bis zu den Notaren - an korporatistischen Sonderregelungen. Die Proteste addieren sich dann. In der taz zählt Rudolf Balmer auf: "Im Ausstand befinden sich auch die LehrerInnen, das öffentliche oder private Personal der Energieversorgung, der Müllabfuhr, der Automobilindustrie, der Justiz und des Gesundheitswesens. Auch die freiberuflich tätigen Anwälte und Ärzte haben Streiks angekündigt. Separat wollen Polizisten gegen Reformpläne protestieren. Bereits seit Tagen sind zudem Erdölraffinerien und Treibstofflager von Protestierenden aus der Bauindustrie blockiert, was im Westen des Landes zu ersten Versorgungsengpässen führt."

Der New Stateman, die ehrwürdige Wochenzeitung, die mal von John Maynard Keynes geleitet wurde und immer eher Labour nahestand, weigert sich in einem Aufsehen erregenden und ausführlichen Leitartikel, eine Wahlempfehlung auszusprechen, weder für Boris Johnson, noch für Jeremy Corbyn, noch für die Liberaldemokraten. Die Wähler werden aufgefordert, einzelne vernünftige Abgeordnete aller Parteien zu unterstützen und in ihren Wahlkreisen taktisch zu wählen. Am Ende fordern die Redakteure tiefgreifende Reformen: "Das Brexit-Debakel hat gezeigt, dass das anachronistische Verfassungsmodell des Vereinigten Königreichs reformiert werden muss. Beschlossen werden sollten die Ersetzung des House of Lords, ein proportionaleres Abstimmungssystem und sogar eine geschriebene Verfassung."

Mit Blick auf den Tag der Verfassung, der morgen in Spanien gefeiert wird, fordert der Politikwissenschaftler Andreas Oldenbourg in der Welt angesichts der Sezessionsbestrebungen der Katalanen eine Verfassungsreform, die den Pluralismus in Spanien anerkennt. Denn: "Wenn umstritten ist, wer das Volk ist, muss dieser Streit demokratisch geklärt werden. (...) In Spanien und anderswo sollte der Begriff des Volkes verfassungspolitisch verstanden werden: Ein Volk ist eine politische Gemeinschaft, die sich eine Verfassung gibt und nach ihr handelt, sie aber auch ändern kann, wenn sie ihr nicht mehr entspricht. Ist eine solche Änderung verboten, haben Minderheiten wie die Katalanen das Recht auf zivilen Ungehorsam."

In Venedig gab es am Sonntag ein Referendum für die Autonomie der historischen Stadt von dem größeren Gefüge mit der Industriestadt Mestre, zu der sie gehört. Das Referendum erreichte bei weitem nicht das notwendige Quorum. Interessant sind die Ergebnisse dennoch, schreibt Simon Strauß in der FAZ: "Diejenigen der 206.000 Berechtigten, die zur Wahl gegangen sind, haben nämlich erstmals mehrheitlich für eine Trennung der beiden Verwaltungszonen gestimmt. Dreiundachtzig Prozent der Venezianer und sogar sechsundsechzig Prozent der Wähler auf dem Festland haben sich dafür ausgesprochen."
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