9punkt - Die Debattenrundschau

Wie Schnee in der Sonne

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.12.2019. Ist das britische Parteiensystem intakt oder nicht intakt? taz und politico.eu sind sich etwas uneins. Der Ukraine-Gipfel in Paris löst bei Kommentatoren keine große Hoffnung aus. In der FAZ wendet sich der Historiker Richard Evans gegen Christopher Clark und findet, dass die Hohenzollern Hitler durchaus den Weg ebneten. Die Idee der offenen Internets wird zerschlagen, warnt Golem - zumindest, kann es sich nicht mehr unter .org-Domain anmelden. Ethan Zuckerman denkt in der CJR unterdessen darüber nach, ob gemeinnützige soziale Medien möglich sind. Und Adrian Lobe träumt in der Welt von einem europäischen Google.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.12.2019 finden Sie hier

Europa

Manche Briten träumen vom britischen Macron, schreibt Dominic Johnson in einer großen taz-Reportage vor den britschen Wahlen: "Doch anders als in Frankreich stehen die großen Altparteien in Großbritannien in voller Blüte: Konservative und Labour genießen zusammengenommen die Unterstützung von 80 Prozent der Wähler, sie haben die Herausforderungen des Brexit und der Verfassungskrise der letzten Jahre verinnerlicht, indem sie sich selbst politisch neu erfunden haben. Der Status quo steht nicht zur Wahl."

So ganz lässt sich die These vom intakten britischen Parteiensystem aber nicht aufrechterhalten, zumindest nicht in Schottland, wo Labour seine einstige Vormachtstellung verlieren wird, schreibt Jamie Maxwell in politico.eu: "Den Umfragen zufolge ist Labour auf dem besten Weg, sechs seiner sieben schottischen Sitze... am Donnerstag an die Scottish National Party (SNP) zu verlieren - was den virtuellen Zusammenbruch einer politischen Organisation markiert, von der einst gesagt wurde, dass man ihre schottischen Stimmzettel eher wiegen als zählen sollte."

"Was ist mit Präsident Macron passiert?", fragt unterdessen die ukrainische Journalistin Anastasia Rodion in der taz, aus Anlass eines Ukraine-Gipfels mit Wladimir Putin, Wolodymyr Selenski, Angela Merkel und Macron: "Anfangs ließ er noch Vertreter russischer propagandistischer Fernsehsender aus seinen Pressekonferenzen entfernen. Jetzt redet er offen über die Notwendigkeit der Wiederherstellung der strategischen Partnerschaft mit Russland, über den 'Glauben an Europa von Lissabon bis Wladiwostok' sowie den Hirntod der Nato. In der Ukraine begreifen die Menschen, dass die Unterstützung Frankreichs wie Schnee in der Sonne schmilzt."

Dass derzeit die Waffen in der Ukraine schweigen, ist natürlich gut. Dennoch stimmt der Pariser Gipfel zum Ukraine-Konflikt auch Maxim Kireev auf Zeit online zeigt wenig optimistisch. Denn das Minsker Abkommen wurde nicht angetastet: "Das Minsker Papier, unterzeichnet im Februar 2015, war für die damalige Führung der Ukraine eine Art Rettungsanker, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Es sieht für die abtrünnigen Gebiete im Osten nicht nur eine weitläufige Autonomie innerhalb der Ukraine vor. Unter Punkt neun steht zudem, dass die Regierung in Kiew militärische Kontrolle über die abtrünnigen Gebiete samt der alten Grenze zu Russland erst dann erhalten würde, wenn dort Regionalwahlen stattgefunden haben. Das würde bedeuten, dass diese nach russischen Spielregeln abgehalten würden. ... Mit der Umsetzung des Minsker Abkommens kann Russland die abtrünnigen Teile der Ostukraine als eine Art Stachel fest im ukrainischen Fleisch verankern."
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Geschichte

Anders als andere Historikerkollegen wie Christopher Clark, der im Hohenzollern-Streit ein Gutachten im Auftrag der Hohenzollern schrieb, erkennt Richard Evans in der FAZ sehr wohl ein Wirken der Hohenzollern pro Hitler, manifestiert vor allem im "Tag von Potsdam", dem Staatsakt in der Garnisonkirche, der am 21. März 1933 das Bündnis der alten Eliten mit den Nazis besiegelte: "Dass die Unterstützung der Nazis durch die Hohenzollern auf einer Illusion basierte, nämlich der Vorstellung, Hitler werde deren Restauration erleichtern, taugt nicht als Argument. Auch die bekannte Unbeliebtheit des Kronprinzen in der Öffentlichkeit ist in diesem Kontext nicht sonderlich bedeutsam. Was zählte, war die Symbolik des Tags von Potsdam und die Beteiligung mehrerer Mitglieder der Hohenzollern-Familie an dieser Feier."

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Medien

Die Schweizer Republik ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte im deutschsprachigen Journalismus. Das Magazin wird von seinen Lesern getragen. Allerdings klingt die aktuellste Werbeaktion für "neue Verlegerinnen" auch ein bisschen dramatisch: "Die Republik hat aktuell rund 18.600 Verlegerinnen. Das deckt 70 Prozent der Kosten. Die restlichen 30 Prozent reißen ein tiefes Loch in die Bilanz. Wir sind 2019 langsamer gewachsen als budgetiert. Das hat heftige Folgen: Bis Ende März müssen wir den Rückstand aufholen, sonst hat die Republik keine Zukunft. Dann werden wir die Republik am 31. März 2020 schließen."
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Internet

Die Idee des offenen Internets (die sich in Deutschland nie recht herumgesprochen hat), wird verkauft, schreibt Sebastian Grüner in einem Golem-Artikel, der sich zugleich kompliziert und spannend liest. Verkauft wird ausgerechnet die .org-Domain, die bisher gemeinnützig verwaltet wurde und unter der sich vor allem gemeinnützige Organisationen registrieren. Beteiligt sind die "Internetbehörde" ICANN und die Internet Society (ISOC). Grüner stellt undurchsichtige Personalkonstellationen von Käufern und Verkäufern dar. Der Kaufpreis soll bei 1,135 Milliarden US-Dollar liegen: "Diese Summe mag auf den ersten Blick groß erscheinen, ist aber eigentlich lächerlich klein und sicherlich deutlich unter Wert. So gibt es derzeit mehr als 10 Millionen .org-Domains. Mit den nun möglichen Preissteigerungen und eventuell neuen Registrierungen könnte die .org-Registry wohl nach einigen Jahren 200 Millionen US-Dollar im Jahr einnehmen. Ebenso könnten die neuen Eigner die Registry einfach zu einem höheren Preis weiterverkaufen."

Der Webtheoretiker und -Aktivist Ethan Zuckerman macht sich in der Columbia Journalism Review unterdessen Gedanken über die Frage, ob sich die Idee des offenen Internets auch auf soziale Medien übertragen lässt. Sein Modell für ein "public service"-Angebot wäre die Wikipedia, die immerhin gezeigt hat, dass ein kollektiver Aufbau eines gesicherten Wissens möglich ist: "Ein gemeinnütziges Web erlaubt uns, Dienste zu imaginieren, die es jetzt nicht gibt, weil sie nicht kommerziell tragfähig sind, die aber womöglich zu unserem Nutzen, zum Nutzen der Bürger in einer Demokratie, existieren sollten. Wir haben eine Welle von Innovationen bei Tools gesehen, die uns unterhalten sollen, aber sehr viel weniger Innovation um Tools, die uns erziehen und unseren Wirkungskreis erweitern oder die marginalisierte Stimmen verstärken."

Statt von einer Zerschlagung Googles zu träumen, sollte Europa lieber eine eigene Suchmaschine bauen, meint Adrian Lobe in der Welt. Wie die aussehen soll in einer Gesellschaft, die lieber über das redet, was sie nicht zu finden wünscht, als über neue Möglichkeiten, die sich eröffnen, sagt Lobe nicht. Man versteht auch nicht, wer diese Suchmaschine bauen soll: die Staaten? Abgesehen davon, dass die Idee einer staatlich kontrollierten Suche doch eher nach Russland oder China klingt, hat das bis jetzt ja auch nicht geklappt: "2006 versuchten Deutschland und Frankreich mit dem gemeinsamen Suchmaschinenprojekt Quaero eine Konkurrenz zu Google aufzubauen. Quaero hätte eine europäische Antwort auf Google sein sollen, ein binationaler Champion nach dem Vorbild von Airbus. Doch das Projekt, das von Frankreichs damaligem Staatspräsidenten Jacques Chirac angetrieben wurde, scheiterte an der Finanzierung - und daran, dass Deutschland mit der Suchmaschine Theseus einen nationalen Alleingang wagte. Es wäre interessant gewesen zu beobachten, wie sich eine Euro-Suchmaschine gegenüber der US-Konkurrenz entwickelt hätte."
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