9punkt - Die Debattenrundschau

Ein paar Schnurbäume

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.12.2019. Die neuen Wähler der Tories werden von der selben Wut angetrieben wie die Gilets jaunes, meint Politico. Netzpolitik warnt vor einem Ausbau der Internetüberwachung in Deutschland. Die SZ fürchtet die neuen Prognosemöglichkeiten der Algorithmen, die nicht nur Überwachung fördern, sondern gleich ganz das demokratische Gespräch ersticken. In der Welt fordert der Technologie-Investor David Rosskamp dagegen einen Marshallplan für die Digitalisierung Europas. Die FAZ erzählt, wie das Jüdische Museum Berlin zu einem Forum für Israel-Kritiker wurde. Die taz stülpt auf dem neuen Scharounplatz in Berlin den Mantelkragen hoch.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.12.2019 finden Sie hier

Europa

John Lichfield, ehemals Frankreich-Korrespondent des Independent, kommt aus der Industriestadt Stoke-on-Trent, einer einstigen Labour-Hochburg, die jetzt drei konservative Abgeordnete ins Hause of Commons entsendet. Bei politico.eu vergleicht Lichfield das englische Votum für Boris Johnson mit der Revolte der Gilets jaunes in Frankreich und findet viele Parallelen : "In Stoke und in der französischen Provinz bin ich auf das gleiche Gefühl des Betrogenseins gestoßen, die gleiche Trauer um lokale Quellen der Energie und des Stolzes, die gleiche Verachtung für Mainstream-Politik von links und rechts. Es ist eine gefährliche Stimmung, sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich. Wenn nicht damit umgegangen wird, kann sie zu weiteren Problemen führen, wie wir sie in den beiden Ländern jüngst gesehen haben. Viele Kommentare sehen eine Nord-Süd-Spaltung... Aber wenn man die neue Wahlkarte des Vereinigten Königreichs studiert, wird man sehen, dass die Beschreibung in die Irre führt. Die große neue Kluft ist nicht wirklich 'Nord gegen Süd', sondern 'Großstadt gegen Kleinstadt' oder 'Metropole gegen Peripherie'."

Boris Johnson hat nach seinem triumphalen Wahlsieg (der sich allerdings einem extrem verzerrenden Wahlsystem verdankt) als erstes die BBC attackiert und unwilligen Gebührenzahlern Straffreiheit in Aussicht gestellt. Damit könnte ein alter Kulturstreit neu auflodern, fürchtet Polly Toynbee im Guardian: "Die Tory-nahen Zeitungen waren gestern voll mit Drohgebärden gegen die BBC: Die Überschrift der Times lautete: 'Boykottdrohung gegen tendenziöse BBC'. Der Eigentümer der Times, Rupert Murdoch, hat sich seit Jahren dafür eingesetzt, die Gebühren auf Freiwilligkeit umzustellen, was die BBC auf die Größe des amerikanischen Public Broadcasting Service schrumpfen lassen würde. Die Mail on Sunday widmete 'dem Zerrspiegel BBC und Megafon der liberalen Elite' eine Seite nach der anderen." In der FAZ berichtet Gina Thomas.

In der NZZ ist der Politologe Niall Ferguson heilfroh über den Wahlsieg Boris Johnsons, weil dieser damit den radikalen Rechten und Linken den Zahn gezogen und einen neuen Nationalkonservatismus der Tories begründet habe.
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Überwachung

Mit dem Ziel, Rechtsextremismus und Hasskriminalität im Netz zu bekämpfen, will die Bundesregierung die Internetüberwachung massiv ausweiten, fürchtet Markus Reuter bei Netzpolitik. "Der Hammer des Gesetzes steckt in einer Änderung des Telemediengesetzes. Hier will SPD-Justizministerin Christine Lambrecht weit über das NetzDG hinaus alle Telemediendienste - vom sozialen Netzwerk bis zur Plattform für Kochrezepte - verpflichten, Strafverfolgern und Geheimdiensten 'sämtliche unternehmensinternen Datenquellen' der Nutzer:innen auszuliefern... Zwar soll die Herausgabe der Daten, zu denen auch Passwörter gehören sollen, eine richterliche Anordnung benötigen. Die Praxis zeigt aber, dass der Richtervorbehalt nur selten zur Ablehnung einer Maßnahme führt. Betroffen sind alle Telemediendienste, die einen Dienst geschäftsmäßig betreiben: Das kann Medien wie netzpolitik.org genauso treffen wie große Podcasts oder größere Foren." Bei golem.de berichtet Friedhelm Greis.

In der SZ setzt sich Adrian Lobe mit neuen Prognosetechniken auseinander, die auch demokratische Regierungen immer häufiger anwenden. Im Kern geht es darum, dass Algorithmen aus den Daten der Bürger Prognosen für die Zukunft erstellen, auf die die Politik dann reagiert, bevor sie sich zu echten - oder vermeintlichen - Gefahren manifestiert haben. Was eine Krise oder Gefahr ist, entscheiden Programmierer. Doch nicht nur das bereitet Lobe Unbehagen: "Einem politisches Problem wird schon vor der Politisierung die Legitimität abgesprochen. Der Ansatz vorausschauender Regierungsarbeit besteht im Kern darin, soziale Phänomene wie Kriminalität, Obdachlosigkeit oder Arbeitslosigkeit zu unterbinden, als wären sie die Folge einer verspäteten oder ineffektiven Politikbearbeitung. Hier zeigt sich die depolitisierende Wirkung einer Herrschaftstechnik, die mit einer mathematischen Rationalität den Sauerstoff aus dem politischen System zieht. Politische Probleme sind ja, zumindest nach einem demokratischen Verständnis, kein Problem in dem Sinn, dass sie 'stören'. Vielmehr sind sie Ausgangspunkt eines politischen Aushandlungsprozesses".
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Internet

Vielleicht sollte man aber auch mal über die Chancen der Digitalisierung reden, meint in der Welt der Technologie-Investor David Rosskamp. Er fordert "eine Vervielfachung der bisherigen Töpfe, einen gigantischen neuen Marshallplan zur Umgestaltung und Anpassung der europäischen Wirtschaftsstruktur" auf europäischer Ebene. Denn Europa ist wegen seiner pessimistische und zögerliche Haltung zur Digitalisierung total abgehängt: "Wir hängen am Tropf von amerikanischen oder asiatischen Geldgebern. Die Schwere dieser Situation ist wohl nur den wenigsten bewusst, und eine größtenteils apathische Öffentlichkeit vermeidet eine tiefere Auseinandersetzung. Der darunter liegende Kerngrund der europäischen und deutschen Misere ist allerdings auch ein kultureller. Akademisch und kulturell erleben wir eine abgehängte, insulare Welt, die in altem Industriedenken verharrt und folglich dem 'Haptischen' der Maschine mehr zumisst als der intellektuellen Kombinatorik."
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Stichwörter: Digitalisierung

Gesellschaft

Vor sieben Jahren  wurde nach eine kurzen heftigen Debatte ganz schnell ein Gesetz eingetütet, das Beschneidung von Jungen ausdrücklich erlaubt - und die Debatte damit erstickte. Der Demokratie wurde damit Schaden zugefügt, findet Victor Schiering bei hpd.de: "Dänemark hält Deutschland gerade einen Spiegel vor, wie es anders geht und gehen müsste: Ein Bürgervorschlag zur Einführung eines Mindestalters von 18 Jahren für jegliche nicht-therapeutischen Genitaleingriffe wurde ins Parlament eingereicht. Trotz Neuwahlen bleibt der Antrag bestehen: die rege und wirklich kontrovers zugelassene Debatte in den Medien hat dem Thema einen hohen öffentlichen Stellenrang eingebracht, den keine Regierung mehr von oben abzuwürgen wagt. Und man lässt sich sogar Zeit: Im November wurde die erste Lesung im Parlament um Monate verschoben, um weitere Forschungsergebnisse abzuwarten."
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Kulturmarkt

Seit die Buch-Zwischenhändler Libri und KNV immer mehr kleine Verlage aus ihrem Sortiment werfen, sind deren Bücher kaum noch zugänglich, obwohl sie eigentlich lieferbar sind, berichtet Carla Neuhaus im Tagesspiegel. Für die Verlage ist das eine Katastrophe, aber auch die Sortimenter haben zu kämpfen, wie man schon an der Insolvenz von KNV im Frühjahr ablesen konnte: "Die Marge in ihrem Geschäft sei 'schon lange rückläufig', heißt es auf Anfrage. Die Zwischenhändler verdienen also pro ausgeliefertes Buch immer weniger. 'Dazu trägt auch die Buchpreisentwicklung bei, die nicht mit den Kostensteigerungen für Personal und Transport Schritt hält', schreibt Libri. Wohl auch mit Blick auf die Insolvenz des Konkurrenten hat das Unternehmen reagiert und Bücher, die sich schlecht verkaufen, aus dem Sortiment genommen. Das trifft insgesamt ein Viertel des Angebots: Statt einer Million Titel hat Libri nun nur noch 750 000 auf Lager."
Archiv: Kulturmarkt
Stichwörter: Libri, Knv, Sortimenter

Kulturpolitik

Thomas Thiel erzählt in der FAZ von "einer jahrelangen Entwicklung, die aus dem Jüdischen Museum Berlin ein Forum für Israel-Kritiker und BDS-Sympathisanten mit Querverbindungen zum politischen Islam" machte. Die neue Direktorin Hetty Berg müsse es nun gründlich vom Kopf auf die Füße stellen. Verantwortlich für die von Thiel beklagte Entwicklung war nicht Bergs Vorgänger Peter Schäfer, sondern Yasemin Shooman, die Programmleiterin der an das Museum angeschlossenen Akademie, eine Schülerin Wolfgang Benz' und wie dieser eine starke Verfechterin der These, dass "antimuslimischer Rassismus" heute dem einstigen Antisemitismus, der zu den Nazis führte, gleichzusetzen sei. "Dass in diesem Rahmen auch Vertreter der vom Bundestag als antisemitisch eingestuften BDS-Bewegung wie Sa'ed Atshan ins Jüdische Museum eingeladen wurden, rief Protest hervor, mag aber noch mit dem Hinweis auf Meinungsvielfalt zu rechtfertigen gewesen sein. Zum offenen Skandal wurde es, als das Jüdische Museum Schritt für Schritt zum Podium einer Bewegung umgewandelt wurde, die einen scharfen israelfeindlichen bis antisemitischen Kurs vertritt, und Verteidiger Israels gar nicht mehr zu Wort kamen."

Ganz nebenbei und im Lärm der Diskussionen um das Museum der Moderne fast unbemerkt ist gestern am Berliner Kulturforum der Scharounplatz eingeweiht worden, die Gestaltung der Freifläche zwischen den Solitären  - über zwanzig Jahre nach der Ausschreibung! Claudius Prößer freut sich in der taz: "Ganz nüchtern betrachtet gleicht der Scharounplatz einer extrabreiten Bushaltestelle, die von der schiefen Ebene der 'Piazetta' bis zur Potsdamer Straße reicht. Tatsächlich hält hier künftig auf beiden Seiten die Linie 200, womit die Philharmonie und Museen endlich angemessen mit dem ÖPNV erschlossen werden. Ein paar Schnurbäume wurden mitten in die Leere gesteckt, ein paar moderne Bänke aus Beton und Holzrippen stehen auf der einen, Betonpoller in Form eines Pentagons auf der anderen Seite."
Archiv: Kulturpolitik

Ideen

Die Philosophin und Bioethikerin Mary Rorty spricht im Interview mit der NZZ über dies und das, ihren verstorbenen Mann Richard Rorty, Relativismus und die Frage, was das Internet mit unserer Sprache macht: "Was wir erleben, ist eine Demütigung, ja ein Verschwinden der Sprache, wie wir sie kennen. Sie versagt zunehmend darin, ihre ureigene Funktion wahrzunehmen, nämlich Kommunikation unter Menschen zu ermöglichen. Es findet kein Austausch von Gedanken und Gefühlen mehr statt. Stattdessen wird Sprache in den sozialen Netzwerken bloß noch als Ausdruck menschlicher Bedürfnisse verstanden, die sich monetisieren lassen. Längst hat dieses Verständnis auch die Sprachbenutzer erfasst, vor allem die jüngeren. Sie gebrauchen die Sprache immer mehr als Ausdrucks- und immer weniger als Kommunikationsmedium."
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Medien

Die "Reporter ohne Grenzen" ziehen Bilanz: 389 Journalistinnen, Journalisten und andere Medienschaffende sitzen in diesem Jahr in Haft, mindestens 49 wurden getötet. Eines der repressivsten Länder ist China, resümiert sueddeutsche.de: "In China erreichte die Zahl der inhaftierter Medienschaffender laut Reporter ohne Grenzen 2019 ungekannte Höhen: Mehr als 40 Prozent von ihnen seien Bürgerjournalistinnen und -journalisten, die trotz verschärfter Zensur sozialer Netzwerke versucht hätten, über das Internet unabhängige Informationen zu verbreiten. Die meisten der 2019 neu hinzugekommenen Fälle inhaftierter Medienschaffender in China seien Uigurinnen und Uiguren."
Archiv: Medien