9punkt - Die Debattenrundschau

Wie jene letzten Menschen

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.12.2019. In La Règle du Jeu rätselt Bernard-Henri Lévy über die Motive der französischen Gewerkschaften, die die Regierung zur Aufgabe zwingen wollen. Welt-Autor Richard Herzinger glaubt nicht, dass sich die Beziehungen zwischen Britannien und Europa nach dem Brexit entspannen. In der SZ stimmt die Historikerin Hedwig Richter einen zaghaften Abgesang auf die Nation an. Die Zeit erzählt, wie der Recherchedienst Bellingcat mit Suchmaschinen und Geolocation Kriegsverbrechen aufklärt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.12.2019 finden Sie hier

Europa

Frankreich wird auch über die Feiertage von den Gewerkschaften und dem großen Streik, vor allem im Nahverkehr und bei der Bahn, in Lähmung gehalten. Bernard-Henri Lévy fragt sich in La Règle du Jeu, was in die Gewerkschaften gefahren ist: "Soll es eine Rache an den Gilets jaunes sein? Ist es ein 'Nach mir die Sintflut', das Motto von sterbenden Regimes, wo jeder nur versucht, das Beste für sich herauszuholen? Jedenfalls haben sie sich gegen eine Reform gewehrt, von der sie noch gar nicht wussten, was sie bringen würde. Statt eine bessere Zukunft für ihre Kinder auszuhandeln, sagten sie nur, dass sie die Herrschenden zur Aufgabe zwingen wollten. Sie verhalten sich wie jene 'letzten Menschen' aus Science-Fiction-Romanen, die zutiefst überzeugt sind, dass das Spiel vorbei ist und die kein Morgen mehr kennen."

Der Glaube, das sich das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien nach dem Brexit wieder entspannen wird, ist eine Illusion, warnt Richard Herzinger in der Welt, denn "Boris Johnson und seine rechtsnationalistischen und nationalpopulistischen Hintermänner werden die EU noch mehr als Feindbild und Sündenbock benutzen, um von den ökonomischen und politischen Friktionen abzulenken, die Großbritanniens Gesellschaft nach Vollzug des Brexit auf die Zerreißprobe stellen werden - bis hin zu der Gefahr eines Auseinanderbrechens des Königreichs, das vor allem durch den erstarkenden schottischen Separatismus zu einer realen Möglichkeit wird. Im Laufe der bevorstehenden komplizierten Verhandlungen über die Neuordnung der Handelsbeziehungen zwischen Brüssel und London bietet es sich für Johnson an, alle Schuld an eventuellen Rückschlägen und Zugeständnissen, die er den Europäern aus ökonomischen Zwängen heraus machen muss, dem vermeintlichen Hegemonialgebaren der EU anzulasten." Und: Der Brexit wird europafeindlichen Regierungen in der EU "Drohpotential in die Hand" geben, fürchtet Herzinger.

Barbara Oertel porträtiert in der taz den Wehrdienstverweigerer Ruslan Schaweddinow, der von der russischen Polizei auf eine arktische Insel verschleppt wurde, um dort seinen Wehrdienst abzuleisten. Doch "in seinem Fall geht es wohl noch um etwas ganz anderes. Schaweddinow ist ein enger Mitarbeiter des regimekritischen Bloggers Alexej Nawalny. Er ist Projektmanager bei dessen Antikorruptionsstiftung FBK, die seit Oktober vom russischen Justizministerium als ausländischer Agent gelistet ist. Und Schaweddinow präsentiert Nawalnys Kanal auf YouTube. Bei der Präsidentenwahl 2018 war er außerdem Pressesprecher im Wahlstab des Bloggers."

Auf ZeitOnline ruft der Politikwissenschaftler Andre Wilkens zu einem neuen Europa auf, das Erasmus-Programme für Junge und Alte, Reiche und Arme bietet und den europäischen öffentlichen Raum zurückerobert: "In einer Zeit, in der private digitale Plattformen aus den USA und China den europäischen öffentlichen Raum monopolisieren, müssen wir Europäer auch in eine eigene digitale Architektur dieses Raumes investieren, und zwar basierend auf europäischen Werten und Datenschutzstandards. Wenn wir sehen, wie der digitale Raum für politische Propaganda, gezielte Polarisierung, die Verbreitung von Lügen und für private Profitmaximierung missbraucht wird, scheint es mir geradezu unverantwortlich, die digitale Infrastruktur unseres europäischen öffentlichen Raumes und damit einen Pfeiler unseres demokratischen Gemeinwesens an private außereuropäische Anbieter auszulagern. Konkret brauchen wir eine ordentlich finanzierte Initiative für einen europäischen öffentlichen Raum oder - neudeutsch - eine European Space Initiative. Statt Google, Facebook, WeChat und Netflix weiter zu stärken, können wir so die zukünftigen digitalen Herausforderer aus Europa unterstützen."

In der SZ stimmt die Historikerin Hedwig Richter einen zaghaften Abgesang auf die Nation an: "Da Nationen menschengemacht sind, bleiben sie keine feste Größe. Als sich die Deutschen 1871 vereinigten, dauerte es nicht lange, bis sich Preußen und Bayern auch als Deutsche fühlten. Warum sollte das in Europa nicht möglich sein? Ist dieser Prozess nicht schon längst im Gange? Nach einer Umfrage des Thinktanks 'European Council on Foreign Relations' hat die Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger in Europa sowohl eine nationale als auch eine europäische Identität. Nur jeder vierten befragten Person war die nationale wichtiger. Bei Jüngeren ist das europäische Selbstverständnis noch viel größer. Ein Trost bleibt für alle Nostalgiker: Menschen sind in der Lage, multiple Identitäten in ihrem Herzen zu hegen."
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Politik

Im Zeit-Interview mit Martin Klingst und Heinrich Wefing geht der Menschenrechtsanwalt Philippe Sands, der die Klägerseite im Prozess um die brutale Unterdrückung der Rohingya in Myanmar vor dem Internationalen Gerichtshof vertritt, hart mit Aung San Suu Kyi ins Gericht und erklärt, weshalb durchaus von "Genozid" gesprochen werden kann: "Völkermord hängt nicht von Zahlen ab. Das Massaker von Srebrenica mit 8.000 Ermordeten war juristisch ein Genozid, ebenso in Kambodscha die Tötung von 60 Angehörigen der vietnamesischen Minderheit. Selbst die systematische Vergewaltigung von Frauen kann also durchaus ein Akt des Völkermords sein, wie etwa bei den grauenhaften Gewaltexzessen 1994 in Ruanda. Denn dahinter steckte die Absicht, die Fortpflanzung einer verfeindeten Volksgruppe unmöglich zu machen. Noch einmal: Genozid meint Auschwitz, aber eben nicht nur."
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Gesellschaft

Der "Hass auf die Eliten" gilt längst nicht mehr den Reichen, sondern den Intellektuellen, konstatiert Hannes Stein in der Welt, etwa mit Blick auf Experten in Brüssel: "Besonders schlimm ist nicht etwa, wenn die Experten einen Fehler machen, sondern wenn sie (was vorkommt) tatsächlich etwas von ihrem Fach verstehen. Diese narzisstische Kränkung wird nie verziehen. Hinter dem Hass auf die Eliten lauert somit das Ressentiment der Zukurzgekommenen, die heimlich wissen oder zumindest ahnen, dass sie an ihrem Elend selbst schuld sind. Dasselbe gilt - cum grano salis - für den Antisemitismus. Da ist eine Minderheit, die seit Jahrtausenden darauf achtet, dass ihre Kinder schon früh lernen, eine unverständliche Fremdsprache (Hebräisch) zu lesen und zu schreiben; eine Minderheit, die nicht zu Kreuze kriecht, sich nicht an den Opferriten beteiligt, sondern stattdessen die Kunst der Disputation sowie Juristerei (Talmud) studiert; eine Minderheit, die sich weigert, vor der Geschichte zu kapitulieren. Dann gründet sie auch noch einen Nationalstaat, der die Frechheit besitzt, wirtschaftlich und militärisch erfolgreich zu sein. Welch elitärer Dünkel."

Außerdem: Sascha Lobo erklärt im Inteview mit Patricia Hecht von der taz, warum er den Kampf gegen den Paragrafen 219a unterstützt.
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Medien

Der Recherchedienst Bellingcat ist Perlentaucher-Lesern seit langem ein Begriff (unsere Resümees). Ronald Düker erzählt in der Zeit, wie der britische Blogger Eliot Higgins zunächst allein arbeitete und dann Bellingcat gründete, um mit Internetrecherche und Geolocation Kriegsverbrechen auf die Spur zu kommen. "Mit Bellingcat mischte sich Higgins endgültig in Staatsaffären ein. Als am 17. Juli 2014 die Passagiermaschine MH17 auf ihrem Weg von Amsterdam nach Singapur abgeschossen wurde, war seine Organisation genau drei Tage alt. Als Bellingcat nicht bloß die Russen beschuldigte, das Flugzeug abgeschossen zu haben, sondern dann auch die Namen der dafür verantwortlichen Kommandeure nannte, war es berüchtigt. Und im Fadenkreuz der Macht." Düker verweist auch auf den Dokumentarfilm "Bellingcat - Truth in a Post-Truth World", der den Emmy für den besten Dokumentarfilm erhalten hat.
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Ideen

Jan Ross feiert in der Zeit den postkolonialen Publizisten Pankaj Mishra, der die Schuld für die Probleme der Welt vor allem und immer wieder beim Westen sieht (unsere Resümees): "Für die Vorstellung, dass die speziellen Pathologien der muslimischen Welt das Hauptproblem der Gegenwart seien, hat Mishra nur Verachtung übrig. Es ist eine Deutung, die nach den Anschlägen von 9/11 besonders viele Anhänger fand - die aber immer noch umgeht, wenn man an die Rolle der Islam-Angst in den heutigen Flüchtlingsdebatten denkt. Mishra hält die Fixierung auf das angebliche Muslim-Problem für offenkundig unhaltbar, seit jeder sehen kann, dass die USA und Europa ihre eigenen Dämonen hervorbringen."

Technologiedebatten  - vor allem über KI  - sind die neuen Systemdebatten, konstatiert der Technikphilosoph Achim Grunwald in der SZ. Statt zu digitaler Mündigkeit aufzurufen, beschwören die Debatten allerdings einen "gefährlichen Technikdeterminismus", dem sich Mensch und Gesellschaft widerstandslos anzupassen haben: "Damit verleihen sie den 'Machern' der Technik und deren Interessen und Werten eine ungeheure Macht. Hingegen lassen sie die Frage, wie denn der technische Fortschritt durch KI und Digitalisierung in den Dienst der Menschheit gestellt werden kann, etwa zur Realisierung der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, komplett verschwinden. Keine Rede von demokratischer Mitgestaltung der KI und ihrer Nutzung oder von regulatorischer Einhegung der Macht weniger Personen und Konzerne. Dominanz und Omnipräsenz der großen Technikdebatten in den Medien und der Öffentlichkeit verhindern den Blick auf die Möglichkeiten aktiver Gestaltung, und zwar unabhängig davon, ob Erlösungshoffnungen fantasiert oder die Apokalypse an die Wand gemalt wird. Beiden haftet ein Determinismus bis hin zum Fatalismus an."
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Internet

Das Silicon Valley hat seine beste Zeit hinter sich, die Köpfe sind "gleichgeschaltet", sagt im großen NZZ-Interview mit Rene Scheu der Physiker Andreas Hieke, der im Silicon Valley lebt: "Der Sündenfall geschah 2004, als Google nach dem Platzen der Dotcom-Blase an die Börse ging. Noch in den 1990er Jahren hatten die Suchmaschinen und sozialen Netzwerke die besten Intentionen, sie wollten Menschen verbinden, Wissen teilen, Gemeinsamkeit schaffen und damit Geld verdienen. Schematisch gesprochen: Es ging um das Indizieren von Websites, unter Wahrung der informationellen Selbstbestimmung des Individuums. Dann zeigte sich, dass sich damit wenig Geld verdienen lässt. Und so begann die Indizierung - das Profiling - von Usern, also von Menschen in Fleisch und Blut. Die neuen Software-Firmen sammeln ganz einfach alle Daten über unser Such- und Kaufverhalten."
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