9punkt - Die Debattenrundschau

Erklärung von allerlei Missliebigem

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.01.2020. Was treibt Wladimir Putin, ausgerechnet jetzt den Hitler-Stalin-Pakt zu rechtfertigen, fragt Anne Applebaum im Atlantic. In der NZZ erklärt der Religionspsychologe Harald Strohm, warum es viele Gläubige bei der Wahl zwischen Jesus und Maria klar zu Marias offener Bluse zieht. In der Jungle World spricht der Historiker Michael Brenner über den jüdischen Anteil an der Münchner Räterevolution und über den jüdischen Anteil an der Kritik daran. Die taz berichtet über den beginnenden Prozess gegen Harvey Weinstein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.01.2020 finden Sie hier

Europa

Mehrfach hat Wladimir Putin im Dezember den Hitler-Stalin-Pakt gerechtfertigt (unser Resümee). Polen wurde vom Sprecher der russischen Duma gar aufgefordert, sich für den Beginn des Zweiten Weltkriegs zu entschudligen. Anne Applebaum fragt im Atlantic nach Putins Motiven. Kann es sein, dass er Polens Isolation in der EU durch das rechtspopulistische Regime ausnutzen will? "Vielleicht ist das aus Putins Sicht ein guter Moment, eine verbale Attacke auf Polen zu lancieren. Diese Nation nicht mehr so einig, nicht mehr von vornherein so europäisch, kann nicht länger auf die guten deutschen Freunde zählen - vielleicht ist das ein exzellenter Moment für den russischen Präsidenten, auch die polnische Geschichte in Zweifel zu ziehen. Oder, wie wir gelernt haben zu sagen, Polens 'Narrativ' in Frage zu stellen: Opfer des Kriegs, Opfer des Kommunismus, Kämpfer für Demokratie und Freiheit - all dies kann in Zweifel gestellt werden."

Wovon träumen die Russen? Wieder von einem sowjetischen Staat? Nein, meint Elena Chizhova in der NZZ, aber jetzt, nachdem der Ölrausch zu verfliegen droht, von einem Staat, der mehr soziale Gerechtigkeit verspricht als der jetzige. "Die neue ökonomische Realität setzte dem Glauben an dauernden Wohlstand ein Ende. Plötzlich stellte sich heraus, dass es keinerlei Gewissheit über eine glückliche Zukunft gab. Endgültig klar wurde das im Sommer 2018 bei der sogenannten 'Rentenreform' - der im Verhältnis zur Verteilung des Staatsvermögens ökonomisch unbegründeten und, wichtiger noch, ungerechtfertigten Erhöhung des Rentenalters (das frühe Pensionsalter von 55 Jahren für Frauen und 60 Jahren für Männer war eine der letzten von der UdSSR ererbten 'Errungenschaften des Sozialismus'). Es war genau das eingetreten, wovor die den breiten Massen verhassten Liberalen mehrfach gewarnt hatten: Wenn der Kuchen des öffentlichen Reichtums kleiner wird, bekommen das zuallererst die sogenannten 'einfachen Leute' selbst zu spüren."

Ja, es ist richtig, dass es viele muslimische Extremisten gibt und einige deutsche Islamverbände aus der Türkei gesteuert werden, doch gerade darum ist es "umso wichtiger, dass freiheitlich denkende Bürger trennscharf bleiben" zwischen religiösen Extremisten und demokratischen Muslimen, meint in der Welt Carolina Drüten zum Fall eines abgelehnten muslimischen CSU-Kandidaten für ein Bürgermeisteramt. "Wer Religion und Politik in einen Topf wirft, der tut es den Islamisten gleich - und trägt dazu bei, dass Menschen wie Sener Sahin nicht Bürgermeister werden können. Dass Frauen mit Kopftuch bespuckt werden. Und dass Männer mit für den Geschmack des Durchschnittsdeutschen zu langem Bart auf der Straße angegriffen werden. Ob Sahin ein guter Bürgermeister geworden wäre, wissen wir nicht. Aber er muss die gleiche Chance haben, sich zu beweisen, wie jeder andere Bürger der Bundesrepublik."
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Religion

Das unten beschriebene Bild von Asam haben wir nicht gefunden, aber ein anderes: Johann Georg Wolcker, Lactatio, Deckengemälde, 1731-1734. Stams, Stiftskirche, Allerheiligenkapelle (Ausschnitt, mehr bei Labor RDK). 


Das Dreikönigsfest hat seinen Ursprung in einem seltsamen Kult um die stillende Maria, erzählt in der NZZ der Philosoph und Religionspsychologe Harald Strohm dem überraschten Leser. Hin und hergerissen zwischen Christus und Maria zog es viele Gläubige "klar zu Marias offener Bluse hin. Der berühmteste war der heilige Bernhard von Clairvaux. Eine Vielzahl erhaltener Malereien und einfacher, erschwinglicher Stiche für den Hausgebrauch zeigt ihn bei seiner 'Lactatio', 'Milchung'. Und wer gar einmal ein solch kolossales Deckengemälde wie das des Cosmas Damian Asam in der barocken Wallfahrtskirche im bayrischen Fürstenfeld bestaunt, kann schwerlich anders als vermuten: So grotesk das späte und sekundäre Gestillt-Werden des Heiligen auch wirkt, so sehr muss es den Nerv der Zeit getroffen haben. Die Sehnsucht und stille Hoffnung seiner Betrachter nämlich, in den Schreckenszeiten von Pest, Hunger, Wahn und Krieg von den Brüsten der Mutter Gottes Trost und heilige Stärkung zu erhalten."
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Geschichte

Im letzten Jahr sind einige Bücher zu den bislang eher stiefmütterlich behandelten deutschen Revolutionen von 1919 erschienen. Till Schmidt unterhält sich in der Jungle World mit dem Historiker Michael Brenner, der sich in seiner Studie "Der lange Schatten der Revolution - Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918 bis 1923" mit der Tatsache auseinandersetzt, dass die meisten prominenten Revolutionäre in München Juden waren. Allerdings wurden sie dafür auch gerade von Juden scharf kritisiert: "Ich würde sogar sagen, dass außer den Antisemiten wohl niemand die Revolution, vor allem aber die beiden Räterepubliken, so sehr ablehnte und fürchtete wie die Münchner Juden. Aus Moskau kannte man das Wort: 'Die Trotzkis machen die Revolution und die Bronsteins (Trotzkis Geburtsname, Anm. d. Red.) zahlen den Preis.' In München machten die Eisners und Tollers die Revolution, und die alteingesessenen jüdischen Familien Münchens wie die Fraenkels und Feuchtwangers fürchteten, bei einem Scheitern der Revolution würden sie den Preis zahlen."
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Ideen

Nicht ohne Spott - aber auch nicht ohne Anerkennung - bespricht Uli Krug in der Jungle World die Neuausgabe von Klaus Theweleits epochaler Studie über "Männerfantasien". Er erinnert daran, dass das Buch seinerzeit achtseitig von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein gefeiert wurde, auch weil der Ursprung des Faschismus, damaligen Trends folgend, ins Psychologische verlegt wurde: "Schon in dieser Hinsicht können die 'Männerphantasien' als epochal gelten - im Sinne der Prägung des Denkens und Sprechens kommender Jahrzehnte -, weil sie sich gut benutzen ließen, um das Signalwort 'Mann' als jedem spezifisch sozialgeschichtlichen Kontext enthobene quasi psycho-ontologische Erklärung von allerlei Missliebigem zu etablieren und damit auch gleich - für den ehemaligen SS-Mann Augstein auch persönlich nicht unwichtig - den Faschismus als rein therapeutisch-pädagogisch zu behandelnde Fehlentwicklung und Reifungsstörung zu universalisieren und somit zu entsorgen."
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Gesellschaft

Heute beginnt der Prozess gegen Harvey Weinstein, dessen Fall wie kein anderer die #MeToo-Bewegung inspirierte. Sein Verhalten wurde lange kommunikativ beschwiegen, erinnert Carolina Schwarz in der taz: "Weinstein als Bild eines schmierigen, mächtigen und gewalttätigen Mannes war in Hollywood schon lange vor 2017 bekannt. Immer wieder fiel im Zusammenhang mit seinem Namen das verharmlosende Stichwort 'Besetzungscouch'. Verschiedene Schauspielerinnen deuteten einen solchen Machtmissbrauch in Interviews an, in Comedyshows und TV-Serien wurde auf Weinsteins Taten angespielt. Der Komiker Seth MacFarlane sagte als Gastgeber der Oscar-Verleihung 2013 zu fünf nominierten Frauen: 'Glückwunsch, ihr fünf Ladys müsst nicht länger so tun, als würdet ihr Harvey Weinstein attraktiv finden.' Folgen hatten das Wissen um Weinsteins Verhalten lange keine."

In Stockholm denkt man darüber nach, den Wohnungsmarkt zu deregulieren, um endlich die Mietpreise zu senken, erzählt Charlie Duxbury in politico.eu. Bisher gibt es eine Preisbindung für "Erstmieter" von Wohnungen, die zentral registriert sind: "Verträge 'erster Hand' sind allerdings strikt kontrolliert. Interessierte Mieter müssen darauf warten, dass sie im Zentralregister an die Reihe kommen. Die Wartezeiten für diese Wohnungen haben in manchen Gebieten zwei Jahrzehnte erreicht. Während die Schweden für das Recht auf eine Wohung 'erster Hand' warten, müssen sie in Wohnungen zweiter Hand wohnen - als Untermieter. Zur Untermiete wohnen kann das doppelte für die selbe Wohnung kosten und hat zu einem Schwarzmarkt geführt - die Profite gehen an die Untervermieter." Und Neubauten sind selten geworden, weil sie ja nur "erster Hand" vermietet werden können.

Die taz-Kolumnistin Melisa Erkurt plädiert gegen ein Kopftuchverbot für unter 14-Jährige an Schulen, wie es die schwarzgrüne-Koalition jetzt in Österreich durchsetzen will. Die Probleme würden damit nur versteckt: "Für Lehrpersonen wird es .. noch schwieriger zu erkennen, ob ein Mädchen zum Kopftuchtragen gezwungen wird, da sie in der Schule auf den ersten Blick nicht auffallen. Und die, die es wirklich tragen wollen, lernen: Nicht ich als Frau entscheide, was ich trage - Vater Staat gibt das vor."
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Medien

Im Tagesspiegel findet Caroline Fetscher die Kritik an den öffentlich-rechtlichen Sender, wie sie etwa von Uwe Tellkamp oder Ulf Poschardt geäußert wurde oder von Trollen zu Richard Gutjahr, völlig überzogen. Selbst Gutjahr, der nach Drohungen gegen ihn in einem offenen Brief beklagt hatte, dass der Bayerische Rundfunk ihn nicht genug schütze, hat nie die Abschaffung des Senders gefordert, so Fetscher. "Wo eine im Kern völkisch gesonnene Trollarmee gegen die Sender zu Felde zieht und vom 'Schwarzen Kanal' oder von 'Gleichschaltung' und 'Umvolkung' schwadroniert, offenbart sie indirekt dahinterliegende Wünsche. ... In Wahrheit träumen viele Protest-Trolle und deren nicht mehr klammheimliche, trollbürgerliche Begleiter selber von Gleichschaltung, von 'Volk', Volksempfängern und Volksliedsängern, die alle anderen Stimmen übertönen - eine für die Demokratie überaus gefährliche Fantasie."
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