9punkt - Die Debattenrundschau

Dauerhaft beeinflussen und objektiver gestalten

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.01.2020. SZ und Zeit online interviewen den SPD-Abgeordneten Karamba Diaby, auf dessen Büro in Halle geschossen wurde. Migranten seien im Bundestag viel zu wenig repräsentiert, kritisiert er. Die Krise der SPD begann im Grunde schon mit der Gründung der Bundesrepublik meint Welt-Autor Thomas Schmid. In der FAZ erzählt der Physiker Marco Wehr, wie der Hirnforscher Nikos Logothetis nach Protesten von Tierversuchsgegnern das Max-Planck-Institut in Tübingen und Deutschland verließ. 
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.01.2020 finden Sie hier

Europa

Den Beginn die Krise der SPD verortet Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog schon ganz am Anfang der Bundesrepublik. Anders als man denkt, sei die CDU die modernere Partei gewesen, da interkonfessionell und für alle Strömungen offen. Die CDU habe sich als erste von der "der Idee der Weltanschauungspartei" verabschiedet: "Auch wenn sie oft als reaktionär oder restaurativ gescholten wurde, die CDU war stets eine Partei des Ausgleichs, eine pragmatische Partei neuen Typs gewesen. Weil das die SPD mit Blick auf ihre lange und oft ruhmreiche Geschichte erst ablehnte und später unter Qualen nachholte, hatte sie im Grunde immer schon gegen die Union verloren. Weil sie als älteste deutsche Partei an ihrem ideologischen Gründungsmythos festhielt, stand sie sich selbst im Weg. Tradition kann ein Fluch sein."

Auf das Büro des SPD-Abgeordneten Karamba Diaby in Halle wurde geschossen. Diaby spricht mit Boris Herrmann von der SZ über Rassismus und Solidarität, aber auch darüber, dass diese Gesellschaft Migranten bis heute nicht als integralen Teil der Bevölkerung ansieht. Es sei "es ein Armutszeugnis für Deutschland, dass wir da nach siebzig Jahren Einwanderungsgeschichte immer noch darüber reden müssen. Wir sind ein Land, in dem rund 25 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund leben - und im Bundestag sitzen lediglich acht Prozent. Bei der politischen Partizipation von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte sind wir ein Entwicklungsland."

Sein Büro in der Innenstadt abschotten, will Diaby auf keinen Fall, erklärt er im Interview mit Zeit online: "Wenn man anfängt darüber nachzudenken, wie man sich besser gegen Bürger schützen kann, dann läuft etwas falsch. Die Lösung muss mehr Dialog sein. Die gesamte Gesellschaft sollte sich darüber austauschen, in was für einem Land sie leben will. Was man dabei nicht vergessen darf: Es gibt zwar Menschen in diesem Land, die radikale, menschenverachtende Positionen vertreten - aber sie sind nicht die Mehrheit. Sie sind laut und erwecken damit den Eindruck, sie wären es. Aber das stimmt nicht, dieser Eindruck darf gar nicht erst entstehen. Gerade deswegen sollten Demokraten ihre Stimme erheben, um zu zeigen, dass diese Menschen die Minderheit sind, auch in den sozialen Medien."

In der Welt fordert Ibrahim Naber "mehr Unterstützung für Menschen mit ausländischen Wurzeln. Sowohl im Bekanntenkreis, im Privaten, als auch in der Öffentlichkeit. Es gibt keinen Grund für Hysterie, aber jeden Grund für einen Schulterschluss." Aber er warnt auch vor hysterischen Übertreibungen: "Wenn taz-Autorinnen Deutschland als 'Shithole-Country' bezeichnen, als Land voller Rassisten, dann ist das Unfug. Wenn durchaus bereichernde Essay-Sammelbände von Menschen mit ausländischen Wurzeln den Titel 'Eure Heimat ist unser Albtraum' tragen, löst das bei mir ebenfalls Kopfschütteln aus. Denn Deutschland ist in weiten Teilen noch immer ein wunderbares Land mit einer Demokratie, die funktioniert."

Vor dem Brexit gibt es Sorgen, dass sich der Status der EU-Bürger in Britannien nach und nach verschlechtert, schreibt Gaby Hinsliff im Guardian. Sorgen gebe es besonders auch um bis zu 900.000 EU-Bürger, die überhaupt erst um einen Status nachsuchen müssen und dafür bis 2021 Zeit haben. "Aber dann könnten sie zum Opfer von Theresa Mays feindseligen Regelungen werden, was sogar dazu führen könnte, dass sie nicht mal ein Bankkonto eröffnen können. Manche fürchten auch, dass Rechte von künftigen Regierungen verwässert werden könnten, oder sie klagen über plötzliche Aufforderungen nachzuweisen, dass sie ein Recht haben, das staatliche Gesundheitssystem NHS zu nutzen - manchmal nach Jahren beim selben Hausarzt."

Waldimir Putin sichert zwar durch seine jüngste Verfassungsreform vor allem die eigene Macht ab, schreibt Pavel Lokshin in der Welt, aber es gebe Anlass für vorsichtigen Optimismus, denn nebenbei lege Putin "ein neues Raster von Checks and Balances über die dysfunktionale russische Politik. Ein Raster, das ihn überleben könnte."
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Politik

Der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan resümiert in der FAZ nochmal die sich überstürzenden Ereigniss der letzten Tage - von der Tötung des Generals Soleimani, über den Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs bis hin zur Leugnung, die dann aufgegeben werden musste, und den folgenden Protesten: "Ganze drei Tage hat es gedauert, bis der Regierung klar wurde, dass die todbringende Rakete von iranischer Seite aus abgefeuert worden war! Zudem stellt sich heraus, dass die Amerikaner bisweilen recht haben. Die offizielle Verlautbarung allerdings enthielt eine Lüge, die zu neuen Spekulationen Anlass gab. Angeblich war die Passagiermaschine von ihrem üblichen Kurs abgewichen und einem sensiblen militärischen Ziel zu nahe gekommen. Eine Darstellung, die die ukrainische Fluggesellschaft umgehend dementierte."

Ebenfalls in der FAZ berichtet Martin Kämpchen über neue Gesetze in Indien, die die muslimische Minderheit diskriminieren und die Protestbewegung dagegen.
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Wissenschaft

Der international renommierte Hirnforscher Nikos Logothetis verlässt entnervt das Max-Planck-Institut in Tübingen, weil Tierversuchsgegner ihm mit einem heimlich gedrehten Video zusetzten, das die Realität verzerrt, schreibt Marco Wehr, Physiker und Philosoph in Tübingen, in der FAZ. Logothetis wurde mit Morddrohungen traktiert, das Max-Planck-Institut ließ ihn im Stich, jetzt geht Logothetis nach Schanghai in ein eigens für ihn geschaffenes Institut. Wehr kritisiert besonders die Max-Planck-Gesellschaft: "Diese Ängstlichkeit hat fatale Konsequenzen für die Forschung und die Gesellschaft, da sich die ausgebildeten Spezialisten die Deutungshoheit über komplexe wissenschaftliche Sachverhalte aus den Händen nehmen lassen. Statt ihrer melden sich dann aufgebrachte Tierversuchsgegner zu Wort oder etwa die Ärzte gegen Tierversuche. Dass Vertreter dieser Vereinigung auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk als 'Experten' zu Worte kommen, ist zumindest bedenklich."
Archiv: Wissenschaft

Gesellschaft

Nach offener Debatte über das Thema Organspenden entschied der Bundestag gestern gegen eine Widerspruchslösung, nach der man als Organspender gegolten hätte, sofern man nicht widerspricht (hier zählte also mal die persönliche Entscheidung, die beim Thema Sterbehilfe verboten wurde). Nur wenn man es ausdrücklich deklariert, gilt man nunmehr als Organspender - also bleibt eigentlich alles beim Alten, und die Zahl der gespendeten Organe viel zu gering. Barbara Dribbusch kommentiert diese Entscheidung in der taz als "typisch deutsche Stagnation": "In Wertedebatten ist man in Deutschland ja immer ziemlich groß; wenn es um die pragmatische Verminderung menschlichen Leids geht, hingegen oftmals gleichgültiger. Bemerkenswert auch der Hang zur Übertreibung: In den Debatten hatte man mitunter den Eindruck, hier ginge es um die bedingungslose Ausweidung von Toten gegen deren Willen. Die Tatsachen spielten dabei eine geringere Rolle..." In einem zweiten Artikel erläutert Dribbusch, das in Spanien etwa die Spendenquote viermal so hoch ist. Berlin Ulrich Schulte berichtet über die Bundestagsdebatte.

Bei einer Podiumsdiskussion an der Frankfurter Uni zum Thema Kopftuch kam es fast zu einer Schlägerei, die erst von der Polizei verhindert wurde, berichtet Marie Lisa Kehler in der FAZ. Die Veranstaltung wurde von einer Gruppe "Studis gegen rechte Hetze" massiv gestört. Auf dem Podium saß unter anderen die Religionskritikern Naïla Chikhi: "Die Situation eskaliert, als die Gruppe trotz mehrfacher Aufforderung den Raum nicht verlassen will. Fäuste fliegen, ein Tisch wird umgestoßen. Nur eine bleibt ruhig. Es ist Naïla Chikhi. Sie wolle sich nicht einschüchtern lassen, sagt sie, wolle nicht aufhören, ihre Meinung zu vertreten. Das Kopftuch ist ihrer Ansicht nach 'die Fahne des Islams', ein Zeichen der 'Knechtung der Frau'. Ihren Standpunkt werde sie auch gegen Widerstände vertreten, so Chikhi weiter. 'Ich werde mein ganzes Leben weitermachen.'" An der Frankfurter Uni war es schon im letzten Jahr zu massiven Protesten gegen eine von Susanne Schröter veranstaltete Konferenz zum Kopftuch gekommen, unsere Resümees.

Gemeldet wird (unter anderem bei Zeit online), dass das "Zentrum für politische Schönheit" seine Stele vor dem Bundestag hat abbauen lassen.
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Medien

Die chinesische Regierung versucht aktiv, auf deutsche Medien und Unternehmen Einfluss zu nehmen, um ihr Image zu verbessern, berichten Christoph Giesen und Georg Mascolo in der SZ. So pries der vor kurzem ausgeschiedene Botschafter Shi Mingde ein Projekt namens Chinareporter an, das ihm von den Journalisten Georg Blume (Zeit und Spiegel) und Wolfgang Hirn (ehemals Manager-Magazin)  angetragen worden war und hoffte ernsthaft auf Unterstützung des Projekts durch deutsche Unternehmen: "Ich vertraue beiden, weil sie keine unkritischen Geister sind und alle Regeln der aufgeklärten deutschen Öffentlichkeit beherrschen, dass sie das China-Bild in Deutschland dauerhaft beeinflussen und objektiver gestalten können", schrieb Dhi an Unternehmen, die gefälligst in die Finanzierung einsteigen sollten. Hirn und Blume haben das Projekt inzwischen wegen "Compliance-Fragen" zurückgezogen. Nun gründet zumindest einer von ihnen einen Verein: "Kurz vor Weihnachten wurde der Verein 'China-Brücke e.V.' eingetragen. Laut Satzung soll der Klub 'das Verständnis für China in Deutschland und der Europäischen Union fördern'. Gründungsmitglied ist Wolfgang Hirn. Dieser beteuert: Chinareporter habe nichts mit der 'China-Brücke' zu tun."

Die in Australien besonders einflussreichen Murdoch-Medien (Rupert Murdoch ist schließlich Australier) haben besonders stark dazu beigetragen, den Klimawandel in Australien kleinzureden, berichtet Thomas Hummel in der SZ - und dies bis heute angesichts der verheerenden Buschfeuer, die ein Gebiet der Größe Bayerns plus Baden-Württembergs zerstörten: "Zu Beginn bezeichneten News-Corp-Blätter die Brände als normale Naturerscheinungen. Selbst als an Silvester der Rauch dicht über Sydney, Melbourne oder Canberra hing und im Hinterland Mensch und Tier ums Überleben kämpften, berichteten viele Zeitungen erst auf Seite vier darüber. Als das Inferno schließlich nicht mehr zu ignorieren war, gab The Australian Brandstiftern die Schuld daran. Was die Feuerwehr umgehend dementierte. Die nächste Volte war, Naturschützer und die Grüne Partei verantwortlich zu machen, weil diese angeblich verhinderten, dass im Winter Schneisen in den Wald geschlagen würden, um im Sommer die Brände unter Kontrolle zu halten."

Nachdem der Dumont-Konzern nun auch noch seine Mitteldeutsche Zeitung verkauft hat, was in Sachsen-Anhalt zu einer Konzentration führen wird, klagt man wieder über die Not des Lokaljournalismus und fragt, wie Lokalzeitungen zu retten seien. Aber Leonhard Dobusch hat bei Netzpolitik seine Zweifel: "ist das überhaupt die richtige Frage? Ist es überhaupt sinnvoll, mit größtem Aufwand immer weniger lokaljournalistische Inhalte zusammen mit ganz viel PR, ganz viel Werbung und ganz viel überregionalen Füllinhalten auf Papier zu drucken und vor Haustüren zu werfen? Mehr noch, hat nicht der 'gewaltige Kostenberg' von lokalen Zeitungen zur Folge, dass es fast notwendig zu weichgespültem Journalismus gegenüber den lokal Mächtigen in Politik und vor allem Wirtschaft kommt, weil man genau auf deren (Anzeigen-)Geld angewiesen ist? Mit anderen Worten, ist diese Form der Finanzierung von Lokaljournalismus nicht prinzipiell problematisch?" Staatliche Förderung lehnt Dobusch mit Blick auf seine österreichische Heimat aber ab: "Wenn schon öffentliche Finanzierung für die Gründung von lokaljournalistischen Projekten, dann besser über staatsferne, öffentlich-rechtliche Förderinstrumente (und ich sage das im vollen Wissen um die bisweilen mangelhafte Staatsferne bestehender, öffentlich-rechtlicher Anstalten)."

Außerdem: Im Freitag erzählt der Dramatiker Alexander Rupflin wie er im Örtchen Tötensen in Norddeutschland einen zurückgezogen Reporter namens Relotius suchte und ihm schließlich auch begegnete.
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