9punkt - Die Debattenrundschau

Bei den Lesern mehr Interesse wecken

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.02.2020. ZeitOnline und FAZ vermessen die Abgründe, die mit dem Beben von Thüringen aufgerissen sind. Die SZ beobachtet, wie sich in China die Menschen gegen die Tyrannei der Bürokraten erheben. In der taz beklagt der Psychiater Daniel Hell die narzisstische Beschämungskultur, die immer nur den anderen angreift. Die NZZ kommt hinter das Geheimnis, warum Accra aus der Luft einem Sternenhimmel gleicht und nicht wie Amsterdam einem Spinnennetz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.02.2020 finden Sie hier

Kulturpolitik

Düsseldorf hat seine Straßennamen gründlich überprüfen lassen, doch in der FAZ wundert sich Patrick Bahners über die angelegten Kriterien. Porsche und Gurlitt gelten sind belastet, Gustav Gründgens und selbst Wilhelm Kreis können bleiben: "Wenn sogar der oberste Kulturfunktionär des Hitlerstaats nur als teilweise belastet geführt wird, wer soll dann überhaupt weichen? Es fällt ins Auge, dass sechs der zwölf Anträge auf Verbannung Akteure der deutschen Kolonialherrschaft betreffen, obwohl diese Gruppe nur einen kleinen Teil der geprüften Fälle ausmacht. Hier zeichnet sich eine vielleicht überraschende Konsequenz der Aufwertung der kolonialen Episode im deutschen historischen Gedächtnis ab, wie sie ein Bündnis von Wissenschaftlern, Aktivisten und Kulturpolitikern betreibt: Was deutsche Beamte und Offiziere in fernen Weltgegenden taten, wird viel rigider bewertet als die gut erforschte Geschichte der Organisationen in der nationalsozialistischen Gesellschaft."
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Ideen

Munitioniert von Douglas Murrays Band "Wahnsinn der Massen" feuert René Scheu in der NZZ gegen das neomarxistische Denken der Intersektionalität, das nicht nur die Gesellschaft in Stämme aufteile, sondern qua Opferstellung auch gleich die moralische Wertigkeit mitliefere: "Dabei gilt die Regel: Die moralisch bessergestellte Person kann die minderbemittelte verstehen, aber nicht umgekehrt. Die höhere moralische Stellung beruht zugleich auf einem höheren moralischen Wissen. Derselbe Mechanismus greift auch im Bereich des intellektuellen Schlagabtauschs. Es zählt nicht mehr, was jemand sagt, sondern allein, wer mit welcher moralischen Autorität etwas vorbringt. Eine Frau darf einem Mann jederzeit Misogynie vorwerfen, ein Mann aber einer Frau nie Männerfeindlichkeit - das bedeutet seinen sicheren öffentlichen Tod."
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Stichwörter: Intersektionalität

Medien

Im Dezember hat John Elkann, Spross der Fiat-Familie Agnelli die Kontrolle über die Repubblica übernommen, und wie Andres Wysling in der NZZ weiß, haben die Söhne des Verleger Carlo De Benedetti damit gegen den Willen ihres Vater agiert, der die schlingernde Zeitung selbst wieder auf Kurs bringen wollte: "In Italien können die Zeitungen den Schwund bei ihren Papierlesern mit ihren Online-Portalen nicht kompensieren. Zwar verzeichnen die beiden Branchenführer, Repubblica und Corriere, zusammen 16 Millionen Zugriffe täglich auf ihre Online-Artikel. Doch scheint es, dass viele Leute einfach keine Lust haben, lange Artikel zu lesen. Sind die Leser zu faul zum Lesen? Oder machen die Journalisten etwas falsch beim Schreiben? 'Bei den Lesern mehr Interesse wecken', befiehlt John Elkann."
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Gesellschaft

Philipp Esch schickt in der NZZ einen sehr schönen Bericht aus Ghanas Hauptstadt Accra, dessen Viertel sprachlich und religiös streng voneinander getrennt sind: Accras Geheimnis deutete sich ihm schon beim Anflug an: "Betrachtet man Accra nachts aus der Luft, so gleicht die Stadt einem Sternenhimmel. Unzählige Lichtpunkte glimmen nebeneinander: Neonröhren erhellen Hofgevierte, erleuchtete Fenster, Autoscheinwerfer, ein paar Feuer, dazwischen als helle Inseln die Tankstellen. Abgeflogen war ich aus Amsterdam, und diese Stadt sah von oben ganz anders aus, wie ein gleißendes Spinnennetz im Dunkel der Nacht. Die Straßen und Plätze strahlten viel heller als die Wohn- und Geschäftshäuser: Der öffentliche Raum zeichnete sich klar konturiert und hell erleuchtet ab vor dem schwach leuchtenden Hintergrund der nächtlichen Gebäude. Was mir die nächtliche Vogelschau auf die afrikanische Metropole offenbarte, verstand ich freilich erst aus der Froschperspektive, unterwegs zu Fuß, mit dem Fahrrad und im Auto: Diese Stadt ist gar keine Stadt, sondern ein gigantisches Dorf."

In der taz interviewt Doris Akrap den Psychiater Daniel Hell, der beobachtet, dass sich die westlichen Gesellschaften zu Beschämungskulturen wandeln, in denen sich die Menschen nicht mehr selbst kritisch hinterfragen, sondern nur noch den anderen angreifen: "Wer sich schämt, wird nicht übergriffig oder attackiert das Gegenüber. Wer sich hingegen gekränkt und narzisstisch verletzt fühlt, fühlt sich als Opfer und hat oft Rachefantasien... Scham und Schuld stehen nicht mehr im Zentrum der menschlichen Interaktion, sondern zunehmend Kränkungen und Beschämungen. Statt nach der eigenen Schuld zu fragen, führt ein verbreiteter Narzissmus dazu, andere zu kritisieren und zu beschämen. Das zeigt sich in der Politik, der Wirtschaft und sogar der Wissenschaft."
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Europa

Auf ZeitOnline ermisst ein Reporter-Team die Abgründe, die sich zwischen Berlin und Erfurt auftaten. Etwa in der CDU, deren Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer extra nach Thüringen anreiste, um die Landtagsfraktion ins Gebet zu nehmen: "Am Ende werden die Abgeordneten mehr als sechseinhalb Stunden tagen. Kramp-Karrenbauer wird irgendwann zwischendrin abreisen. Sie wird nicht nur erschöpft aussehen, sondern konsterniert. Wie benommen. Mit der Wahl Thomas Kemmerichs zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten ist ein Problem der ostdeutschen CDU offenbar geworden, von dem man schon vorher ahnte, dass es existiert - aber wohl niemand hat vermutet, dass es so massiv ist. Es gibt sehr viele Parlamentarier, die keine größeren Probleme damit haben, mit der AfD zu stimmen. Es gibt aber viele, die die Linke verachten. Die Abgeordneten der Thüringer Union haben seit der Wahl Kemmerichs in ihren Wahlkreisen permanent Lob und Zuspruch erhalten. Endlich traut ihr euch mal was! Endlich tut ihr das Richtige! Es muss sich wie eine Befreiung von Fesseln angefühlt haben."

In der taz hofft Micha Brumlik, dass sich das Debakel von Erfurt als eine Art Schutzimpfung erweisen könnte und die Republik gegen die AfD und ihre Taktiken immunisieren: "Die Thüringer AfD hat mit geradezu diabolischer Schläue die Neigungen und Schwächen der 'bürgerlichen' CDU und FDP erkannt, sie bewusst ins offene Messer rennen lassen und sich dessen vor laufenden Kameras mit offener Schadenfreude gerühmt. Damit hat die Thüringer AfD der Republik ungewollt einen Dienst erwiesen: Hat sie doch die Schwächen von CDU und FDP offengelegt." In der SZ fasst sich Kurt Kister an den Kopf angesichts all der "Arroganz, Machtversessenheit und Dumheit", die CDU und FDP nicht nur in Thüringen an den Tag legten."

In der FAZ erklärt die Ethnologin Juliane Stückrad die thüringische Dysfunktionalität mit der Kleinteiligkeit der Machtstrukturen, die sich als feudales Erbe durch alle System hinweg erhalten habe: "'Gotha adelt', im Meininger Theater spielt die Hofkapelle, und Greiz wirbt als 'Schloss- und Residenzstadt' für seine Museen. Diese kleinteilige Territorialstruktur macht das Land kulturell so reich und vielfältig. Sie bestimmt Kommunikationswege und Zugehörigkeiten. Was oft leichtfertig als Kleinstaaterei belächelt und abgetan wird, ist wesentlich für das Selbstverständnis Thüringens. In Konflikten um knappe Ressourcen sind die Grenzen um das Eigene aber wieder schnell gezogen."

Bevor der Attentäter in Halle die Synagoge angriff, tötete er Jana L., die SZ hat jetzt ein Video von dieser Tat eingesehen und berichtet entsetzt, wie unbeteiligt die Menschen blieben, als neben ihnen eine Frau niedergeschossen wurden: "Auf der anderen Straßenseite verteilt ein Briefträger ungerührt weiter seine Post. Niemand scheint sich für die Frau zu interessieren, bis ein Mann mit Kapuzenpullover, die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, anhält und zu ihr hingeht. Er kniet nieder, berührt sie. Mehrere andere Personen stehen herum. Dann geht er wieder auf Abstand. Es wird telefoniert. Erste Hilfe leistet niemand. Andere gehen vorbei. Als die Polizei um 12.11 Uhr eintrifft, ist es zunächst nur ein einzelner Streifenwagen. Dieser Anblick wird auch ins Innere der Synagoge übertragen, wo gerade Panik herrscht und die Menschen das Geschehen auf einem kleinen Bildschirm verfolgen können: Aus dem Blickwinkel der Kamera sieht man lediglich eine Beamtin, die aus dem Fahrzeug steigt. Ruhig."
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Politik

McKay Coppins hat sich auf Facebook ein Pro-Trump-Profil angelegt, einige rechte Seiten geliket und wurde daraufhin in ein alternatives Universum gezogen, das er sich nicht hätte vorstellen können, wie er auf Atlantic schreibt: "Ein Strom von Trump-Propaganda füllt den Bildschirm meines Smartphone: 'Ja, der Verteidiger des Whistleblower hat selbst gesagt, dass der Coup begonnen habe...' Ich swipe weiter: 'Demokraten spielen das Spiel von Putin...' Ich swipe. 'Die einzige Sprache, die diese radikalen Sozialisten verstehe, ist eine Tracht Prügel... Und so weiter. Ich war überrascht von der Wirkung. Ich dachte mein Skeptizismus und meine Medienerfahrung wüürden mich gegen solche Verzerrungen wappnen. Aber ich begann schon bald. jede Schlagzeile in Zweifel zu ziehen. Das Problem war nicht, dass ich auf einmal glaubte, dass Trump und seine Stimmungsmacher die Wahrheit erzählten. Das Problem war, dass in diesem Zustand erhöhten Verdacht es immer schwieirger wird, Wahrheit an sich festzumachen. Mit jedem Wisch drifttete die Vorstellung von einer erkennbaren Wahrheit in immer weitere Ferne."

In der Nacht zu Freitag ist der chinesische Arzt Li Wenliang gestorben, der als erster auf das Coronavirus aufmerksam machte, aber von den Behörden zum Schweigen gebracht wurden, meldet Fabian Kretschmer in der taz. Jetzt bricht in China ein Sturm der Trauer und Empörung los: In der SZ berichtet auch Lea Dauber, die bereits vor zwei Wochen die Abriegelung Wuhans brandmarkte, von Protesten junger Chinesen gegen das verantwortungslose Krisenmanagement der Pekinger Behörden: "Ärzte, Journalisten und Juristen, Millionen Nutzer im Netz, sie alle laufen Sturm gegen die Zensur und die repressive Politik gegenüber der Zivilgesellschaft. Diese Repression hat erst das Fundament gelegt für die Katastrophe in Wuhan. Sie wollen keine Handlanger der politischen Elite mehr sein, fordern Meinungs- und Pressefreiheit und politische Reformen. Chinas System kollabiere unter der Tyrannei der Bürokraten, schrieb in diesen Tagen ein bekannter Professor aus Peking. Wir wissen, dass sie uns belügen, schreiben Tausende im Netz."
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