9punkt - Die Debattenrundschau

Erst einmal in den Gottesdienst

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.02.2020. Im Guardian bemerkt Neha Shah, dass ausgerechnet die migrantischen Minister in Boris Johnsons Kabinett die einwanderungsfeindliche Politik gestalten. Die NYRB zeigt, dass mit Religionsfreiheit in den USA mittlerweile jede Diskriminierung gerechtfertigt wird. Die SZ erzählt, wie schon Daniel Defoe nach der Pest von London 1665 den Zusammenhang von Globalisierung, moderne Nachrichten und Infektionketten erklärte. Die Welt kürt den Selbstmord Senecas zum großen Moment in Europas erwachender Freiheitskultur.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.02.2020 finden Sie hier

Europa

Es ist schon erstaunlich: In Britannien ist die einwanderungsfeindlichste Regierung seit langem gleichzeitig die "indischste", notiert im Guardian Neha Shah, mit vier britisch-indischen Ministern, darunter Priti Patel, die als Innenministerin das verschärfte neue Einwanderungssystem zu verantworten hat. Auch die sonst eher Labourtreuen britisch-indischen Wählern tendieren jetzt zu den Tories. Shah erklärt das am Beispiel des konservativen Abgeordnete in Harrow East, der in seinem Wahlkampf die muslimische Gewalt gegen Hindus hervorgehoben hatte: "Er erklärte, dass er dies irrtümlich getan habe, aber zusammen mit anderen Mitgliedern der Konservativen Partei hat er die Darstellung von Labour als 'anti-hinduistisch' und pro-muslimisch gefördert und als Beweis dafür die Unterstützung von Labour für den Kampf der Kaschmiri um Selbstbestimmung angeführt. Bei den Wahlen 2019 stieg seine Mehrheit um mehr als 6.000 Stimmen. ... Dass die jüngste Erweiterung des strafbewehrten Grenzsystems in Britannien von den Söhnen und Töchtern von Migranten entworfen und legitimiert werden kann, zeigt die Grenzen eines antirassistischen Diskurses auf, der eine gemeinsame 'gelebte Erfahrung' als Grundlage für politisches Handeln beansprucht."

Joachim Käppner und Michael Schwinn analysieren in der SZ das Profil extremistischer Attentäter, die als gehemmte Außenseiter, intelligent, aber einsam und voller Hass auf Fremde und Frauen agieren. So neu, meinenen sie, ist der Typus gar nicht: "Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat in seinem Büchlein 'Schreckens Männer' von einem 'Projekt der radikalen Verlierer' geschrieben; gemeint waren vor allem islamistische Selbstmordattentäter, aber es passt ebenso auf rassistische, frauenfeindliche, das bessere Leben der anderen hassende und zugleich beneidende Einzeltäter. Die Gemeinsamkeiten sind ohnehin frappierend. 'Wenn man sich die Täter als Individuen ansieht, findet man zumeist Menschen in Krisen. Das ist sehr tragisch und sehr gefährlich zugleich' sagt die forensische Psychiaterin Nahlah Saimeh: 'Wenn ihnen im eigenen Leben die Erfahrung konstruktiver Selbstwirksamkeit fehlt, dann können sie diese immer noch in destruktiver Weise ausleben.'"
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Religion

A propos Religionsfreiheit. Was diese mittlerweile in den USA bedeutet, zeigt Katherine Stewart im Blog der NYRB. Dort wurde eine neue Richtlinie verabschiedet, die es selbst staatlich geförderten, gemeinnützigen NGOs erlaubt, unter Berufung auf die "religiöse Freiheit" gewisse Unterscheide zu machen: "So könnte etwa eine gemeinnützige religiöse Organisation, die staatliche Zuschüsse erhält, Schwule und Lesben von bestimmten Leistungen ausschließen. Beratungsorganisationen, die für ihre Hilfe vom Staat vergütet werden, können ihre Klienten erzählen, dass Gott ihre Probleme löse wird, wenn sie sich ihm nur unterwerfen. Suppenküchen, die Regierungsbeihilfen erhalten, könnten von ihren Kunden fordern, erst einmal in den Gottesdienst zu gehen, bevor sie was zu Essen bekommen. Allen wird es erlaubt sein, bei Einstellungen auf Grundlage des Glaubens zu diskriminieren. Niemand wird verpflichtet werden, die Menschen über säkulare Alternativen zu informieren, und auch die Regierung wird diese nicht anbieten müssen."
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Politik

Barack Obama wurde auch gewählt, weil er die Minderheiten zur Wahl animieren konnte. Hillary Clintons Niederlage hat den Demokraten dagegen gezeigt, dass es nicht reicht, Minderheiten nur generell anzusprechen, berichtet Frauke Steffens in der FAZ: "Bürger mit Wurzeln in Lateinamerika machen 12,8 Prozent der Wahlberechtigten aus, also deutlich weniger als ihren Bevölkerungsanteil. Das liegt an der hohen Zahl von Einwohnern ohne Papiere. Je nach Umfrageinstitut wählten Latinos bei den Midterm-Kongresswahlen 2018 zu 69 bis 73 Prozent die Demokraten. Sie sind in ihrem Wahlverhalten vielfältig. Oft hängt die politische Orientierung davon ab, zu welcher gesellschaftlichen Schicht man selbst oder die eigene Familie in einem südamerikanischen Land gehörte. Ein Kubaner, der vor der Revolution floh, wählt anders als jemand, der nach dem faschistischen Putsch in Chile nach Nordamerika kam."
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Medien

Peter Rásonyi ist kein Freund von Julian Assange, in der NZZ wirft er dem Uno-Sonderbeauftragten Nils Melzer vor, als "eifriger Advokat Assanges", aber ohne Belege eine Verschwörung des schwedischen Staates zu kolportieren. Und er pocht darauf, dass es tatsächlich strafbar wäre, wenn Assange Chelsea Manning zum Hacken angestiftet hätte: "Trotzdem bleibt ein Unbehagen. Die Argumentation des amerikanischen Justizministeriums gleicht einem Balanceakt, der sich gefährlich einer Verletzung der Pressefreiheit nähert. Was zum Aufgabenbereich von investigativen Journalisten gehört und was illegalem Computerhacking zuzuordnen ist, lässt sich kaum immer scharf trennen. Sollte es zu einem Prozess in den USA kommen, wird man nicht ohne Bangen verfolgen, ob die Gerichte mögliche Eingriffe in die Pressefreiheit klar zurückweisen werden."
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Ideen

In der NZZ möchte der Historiker Fabian Thunemann die Geschichte der Aufklärung immer auch als Geschichte ihrer Gegner und Kritiker lesen, um einen wie er meint ihr innewohnenden Hang zum Totalitären zu mildern: "Die Kritiker, ja viele erklärte Feinde der Aufklärung zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie angesichts universalistischer Bestrebungen für ein tieferes Verständnis menschlicher und kultureller Unterschiedlichkeit warben. Keineswegs muss diese Zurückhaltung gegenüber menschlichen Anmaßungen als unheilvoller Relativismus ins argumentative Abseits gestellt werden. Vielmehr habe man, wie der Liberale Isaiah Berlin nachdrücklich empfahl, eben den gesamten 'menschlichen Horizont' nicht aus den Augen zu verlieren."

Welt-Autor Dirk Schümer sieht mit dem Urteil über die Freiheit zum selbstbestimmten Tod eine ganz neue Epoche der Ethik in Deutschland anbrechen, wo seiner Ansicht nach christliche Moral und mangelnde Freiheitsliebe den selbstgewählten Tod diskreditierten: "So muss man auf der Suche nach den geistigen Grundlagen des Karlsruher Urteils schon bei den Dissidenten der christlichabendländischen Kultur nachblättern, wenn es um die Straffreiheit der Selbsttötung geht. Senecas souveräner Abschiedsakt etwa wurde zuerst in Venedig verherrlicht, als um 1550 im Umkreis der Komponisten Claudio Monteverdi und Francesco Cavalli ein Grüppchen von kirchenfeindlichen Epikuräern Operngeschichte schrieb. Senecas Sterbeszene aus Monteverdis 'Incoronazione di Poppea' zählt zu den bewegendsten Momenten einer erwachenden Freiheitskultur Europas."
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Geschichte

In der SZ liest Lothar Müller aus gegebenem Anlass noch einmal Daniel Defoes Journal über die Pest in London 1665. Dabei lässt sich sehr schön nachverfolgen, meint Müller, wie die Pest anfangs noch als Geißel Gottes gedeutet wird, eine Erklärung, die dann abgelöst wird von moderner Nachrichtentechnologie: "'Foreign news' und 'domestic news' durchdrangen einander. Die Nachrichten von Seuchen verbanden beide Sphären. In ihnen verdichtete sich ein Grundelement moderner Gegenwartserfahrung, in der die Zeitgenossenschaft zugleich Raumgenossenschaft ist. Der wichtigste Effekt dieser Konstellation ist, dass moderne Gesellschaften von Seuchen schon nachhaltig erfasst werden, wenn die physischen Infektionsketten sie noch gar nicht erreicht haben. Die Nachrichtenzirkulation bestimmt - nicht erst im Internetzeitalter, sondern schon in Defoes 'Print 2.0'- Welt -, wann Präventionsmaßnahmen beginnen. Im Idealfall bewirkt sie, dass die Quarantäne-Verordnung in London schon in Kraft tritt, bevor das in Marseille ausgelaufene Schiff die Themse erreicht hat."

In der taz wenden sich Stephan Lehnstaedt und Kamil Majchrzak gegen eine europäische Geschichtspolitik, die eine gemeinsame Leidensgeschichte des Kontinent unter dem Totalitarismus postuliert. Einst von Dissidenten stark gemacht, diene heute die Totalitarismustheorie vor allem osteuropäischen Regierungen: "Eine Geschichtsgemeinschaft unter diesem Paradigma verzerrt jedoch die unterschiedlichen Erfahrungen der Verfolgung und Erinnerung an die deutsche Besatzungsherrschaft in Nord-, Ost-, Süd- und Westeuropa. Außerdem banalisiert sie die singulären deutschen Menschheitsverbrechen an den europäischen Juden sowie Sinti und Roma. Dies gilt insbesondere für Gesellschaften, die den deutschen Antikommunismus teilten und mit dem deutschen Antisemitismus sympathisierten."

Die finnische Schriftstellerin Sofi Oksanen erinnert sich in der FAZ an ihre Verwandtenbesuche im sowjetischen Estland, wo sie nach dem Gau von Tschernobyl bemerkte, wie jahrzehntelange Propaganda gewirkt hatte: "Bis dahin hatte ich mir eingebildet, dass die Esten trotz der jahrzehntelangen massiven Propaganda wussten, wie die Dinge wirklich lagen. Niemand glaubte den Lügen des sowjetischen Fernsehens. Aber man ließ die Kinder ukrainische Fruchtsäfte trinken, obwohl zu derselben Zeit den Apotheken schon das Jod ausgegangen war. Genau so war die Glasnost hinter dem Eisernen Vorhang. Die Perestroika."
Archiv: Geschichte