9punkt - Die Debattenrundschau

Faktisch gibt es also einen Notausschalter

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.03.2020. In der NZZ hält der Historiker und Extremismusforscher Eckhard Jesse überhaupt nichts davon, die Hufeisentheorie zu beerdigen. Für die Ostdeutschen wäre eine Verfassung für ganz Deutschland nach 1989 mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen, meint Ilko-Sascha Kowalczuk in der SZ.  hpd.de hat gute Nachrichten für die Katholische Kirche: Sie hat dicke genug Geld, um Entschädigungen an Opfer sexuellen Missbrauchs zu zahlen. Und das Berliner Kulturleben geht weiter wie gewohnt, auch wenn Spucke fliegt!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2020 finden Sie hier

Europa

In der NZZ hält der Historiker und Extremismusforscher Eckhard Jesse überhaupt nichts davon, die Hufeisentheorie zu beerdigen: "Die Aussage, zurzeit sei in Deutschland der gewalttätige Extremismus von rechts stärker als der von links, verstößt keineswegs gegen das Gebot der Äquidistanz, sprechen die Zahlen doch eine deutliche Sprache. Wogegen die Position der Äquidistanz freilich aufbegehrt: einer linksextremistischen Position eine prinzipiell größere Nähe zum demokratischen Verfassungsstaat zu attestieren als einer rechtsextremistischen, weil in diesem Fall der 'gute Zweck' die weniger guten Mittel heilige. Aber weicher und harter Extremismus findet sich auf beiden Seiten des politischen Spektrums", und blickt dabei auch auf das Grundsatzprogramm der Linken von 2011. Dort heiße es "klipp und klar: 'Wir kämpfen für einen Systemwechsel', wobei dieser Terminus auf die 'gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse' zielt, nicht bloß auf die Wirtschaft." In Kassel meinte gerade eine Genossin der Linken, das bestätigen zu müssen.

Leider ist es in Deutschland ausgerechnet die Polizei, die ein Problem mit Rechtsextremismus hat, berichtet Konrad Litschko in der taz: "In Brandenburg mussten zuletzt gleich neun Polizisten versetzt werden, weil sie sich vor einem rechten Graffito fotografieren ließen - und beim Entfernen des Schriftzugs ausgerechnet zwei Buchstaben mit der Szenelosung 'DC' für 'Defend Cottbus' zurückließen. Dazu kämen aktuell vier weitere rechtsextreme Vorfälle, so das märkische Innenministerium. NRW wiederum entdeckte vier Reichsbürger bei der Polizei. In Niedersachsen verschickte ein Beamter verfassungsfeindliche Bilder und spielte ein Lied der Hitlerjugend ab. In Sachsen verweigerte ein Polizist einer Kopftuchträgerin, die eine Anzeige erstatten wollte, Zutritt zu seinem Büro." Polizisten müssen sich zur Verfassung bekennen. Wer zum Beispiel zu AfD-"Flügel"-Anhängern gehört, könnte also demnächst Probleme bekommen, so Litschko. Ein zweiter Artikel widmet sich dem nicht weniger traurigen Bundeswehrkapitel.

Wichtiger als "Hassrede" ist Extremisten "gefährliche Rede" zur Legitimierung der Gewalt, schreiben der Soziologe Holger Marcks und die Politologin Janina Pawelz mit Blick auf die Rhetorik der AfD bei geschichtedergegenwart.ch: "Gefährliche Rede findet etwa dann statt, wenn einer Gruppe besondere Grausamkeit zugeschrieben wird. Wo ihr unterstellt wird, sie bedrohe Existenz der Adressierten, erscheint es diesen opportun, drastisch gegen sie vorzugehen. Es geht immerhin ums Überleben. Und Notwehr ist bekanntermaßen der einzige Grund, aus dem Tötungen unbestritten erlaubt sind... Für die Legitimation von Gewalt eignet sich daher kaum etwas besser als der 'Spiegelungsvorwurf': Die Dehumanisierung des Anderen rechtfertigt die Brutalisierung des Selbst."

Deutschland hat keine Verfassung, nur ein Provisorium, meint der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk. Das hätte eigentlich 1989 schon geändert werden müssen, aber es noch nicht zu spät, schreibt er in der SZ. "Für die Ostdeutschen wäre es vor allem mental und kulturell das Zeichen für einen gemeinsamen Neubeginn gewesen. Und die Westdeutschen hätten erfahren, dass auch die alte Bundesrepublik, das Nachkriegsprovisorium, in eine neue Zeit überführt werden musste." Das wäre vor allem "integrationsfördernd gewesen", meint Kowalczuk. (Schon möglich, aber will man ausgerechnet jetzt beispielsweise das Grundrecht auf Asyl zur Debatte stellen?)

Michael Meyer-Resende von der Politikberatungsagentur "Democracy Reporting International" sucht in der FAZ Wege aus der Polarisierung. Einer besteht paradoxer Weise darin, dass die gemäßigten Parteien mehr Streit miteinander suchen: "Die demokratischen Parteien sollten sich vor mehr Polarisierung untereinander nicht scheuen. Es gibt keinen Grund, der CDU/CSU zu verübeln, dass sie prinzipiell nicht mit der Linken zusammenarbeiten will, weil sie in zu vielen Themen andere Positionen vertritt. Die übrigen Parteien sollten keine Angst vor lautem Streit haben und ihre eigenen Akzente setzen. Wenn sie sich untereinander nicht auseinandersetzen, dominiert der ewige Streit mit der AfD."
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Wissenschaft

In der NZZ stellt Adrian Lobe den amerikanischen Evolutionsbiologen Peter Turchin vor, der Geschichte als Naturwissenschaft betrachtet und überzeugt ist, dass man aus gewissen Regelmäßigkeiten historischer Abläufe Prognosen für die Zukunft stellen kann. "Der Biologe argumentiert, dass sich mit mathematischen Modellen der allgemeine Verlauf und 'Aggregatszustand' der Gesellschaft prognostizieren lasse: soziale, konjunkturelle und politische Krisen, Kriege, Konflikte, Katastrophen. ... Den Einwand, soziale Systeme seien zu komplex, als dass sie mit mathematischen Modellen beschrieben werden könnten, entkräftet Turchin mit dem Gegenargument, gerade die Komplexität mache mathematische Modelle notwendig."
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Religion

Gute Nachrichten für die Katholische Kirche! Sie hat dicke genug Geld, um eine Milliardenentschädigung an die Opfer sexuellen Missbrauchs zu zahlen, hat bei hpd.de Matthias Krause herausgefunden. "Die Auswertung der Bistumsbilanzen zeigt: Die Bistümer könnten - zumindest gemeinsam, die meisten aber auch alleine - die Milliarden-Entschädigung für die Missbrauchsopfer völlig ohne Probleme schultern. Allein in den Jahren seit Bekanntwerden des Missbrauchsskandals haben die Bistümer Milliardenüberschüsse erwirtschaftet - Geld, das eingenommen, aber nicht ausgegeben wurde, und daher sofort für die Entschädigungen verwendet werden könnte, ohne dass das Leben in den Bistümern dadurch beeinträchtigt würde."
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Kulturmarkt

Die Absage der Buchmesse ist ein Schlag ins Kontor der Stadt Leipzig, kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Die 260.000 bis 270.000 Besucher, die Jahr für Jahr nach Leipzig zur Buchmesse kommen, lassen einiges an Geld in der Stadt und sorgen für eine fast hundertprozentige Hotelauslastung in den vier Messetagen. Gleich nach der Absage formulierte es der Chef der Leipziger Tourismus und Marketing GmbH, Volker Bremer, so: 'Leipzig hat keine andere Veranstaltung mit vergleichbarer Strahlkraft und Außenwirkung, auch international. Das ist schwer zu verkraften.'" Mehr bei dlf kultur. Die London Book Fair und die lit.Cologne halten laut Börsenblatt bisher noch an ihren Terminen fest. In der SZ kommentiert Lothar Müller: "Geist ohne Körper gibt es hier nicht. Schade, dass sie eben deshalb abgesagt werden musste."

Auch Richard Kämmerlings fürchtet in der Welt die Auswirkungen des Coronavirus auf den Kulturbetrieb: "Kunst, Kultur, Literatur werden gerade zu einer sehr einsamen Angelegenheit vor dem Rechner. Als einziger Ausweg bleibt, an die Stelle der physischen Präsenz Fernkommunikation und virtuelle Kunsterfahrung zu setzen. Aber ist das eigentlich schlimm? Liegt es nicht im Trend? Gerade hat der global perfekt vernetzte Kurator Hans Ulrich Obrist in der Zeit ein grundsätzliches Umdenken in der Kunstwelt gefordert - vor allem aus Gründen des Klimaschutzes." Aber, davon ist Kämmerlings überzeugt: "Digitale Communitys können ein gemeinschaftsstiftendes Erlebnis nicht ersetzen."

Das Berliner Kulturleben lässt sich vom Coronavirus jedenfalls nicht beängstigen, beobachtet Hannah Bethke in der FAZ. Theater, Museen, alle machen weiter: "Ein ähnliches Bild liefert der Rundfunkchor Berlin. Wo gesungen wird, fliegt mitunter Spucke, was die Ausbreitung des Virus begünstigen könnte. Aber das ist zurzeit wohl doch noch zu hypothetisch: Der Chorbetrieb laufe ganz normal weiter, solange nichts Relevantes vorliege."

Hier singt er Brahms' Schicksalslied (nach Hölderlin): "Es schwinden, es fallen / die leidenden Menschen / Blindlings von einer / Stunde zur anderen / Wie Wasser von Klippe / zu Klippe geworfen / Jahrelang ins Ungewisse hinab."

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Internet

Immer häufiger schalten Staaten in missliebigen Situationen schlicht das Internet ab, berichtet Patrick Wagner in der taz unter Bezug auf eine Studie der Organisation #KeepItOn, die sich für ein offenes Internet einsetzt: "Tatsächlich ist es denkbar einfach, ein ganzes Land vom Internet abzukapseln. Damit Telekommunikationsanbieter in einem Land operieren dürfen, benötigen sie eine Lizenz. Aus Angst, diese zu verlieren, wehren sich Internetanbieter nicht gegen staatliche Eingriffe, erklärt Berhan Taye, die Koordinatorin von #KeepItOn, gegenüber der taz. Faktisch gibt es also einen Notausschalter, mit dem Staaten den Internetzugang im eigenen Land nach Belieben an- und ausschalten können, ganz egal, ob sie dafür eine rechtliche Grundlage haben oder nicht."
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Kulturpolitik

Im Gespräch mit FAZ-Redakteuren Patrick Bahners und Andreas Kilb streiten die Ethnologin Nanette Snoep und Hermann Parzinger von der Preußen-Stiftung über die Frage der Rückgabe. Soep sagt: "Kolonialismus ist ein Unrecht, und solange man die Kolonialzeit tatsächlich als Unrecht betrachtet, ist jeder Erwerb in einem Kontext von ungleichen Machtverhältnissen passiert." Parzinger antwortet: "Ich sehe keinen Gegensatz darin, zu sagen, der Kolonialismus war Unrecht, und zugleich festzustellen, dass Restitutionen nicht die einzige Lösung sind. Oft erkennen wir erst in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften, was in den Objekten eigentlich steckt. Wenn man dann begreift, wie bedeutend diese Dinge für Communities sind, kann man auch an Rückgaben denken."
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Gesellschaft

Das Coronavirus erwischt uns in Zeiten, wo Gesundheit ohnehin immer stärker moralisiert wird, notiert in der taz der Philosoph Thomas Schramme, der sich mit medizinethischen fragen befassst: "Die Moralisierung des Rauchens und der Ernährung sind nur der Anfang. In einigen Jahren werden wir uns gegenseitig moralische Vorwürfe machen, wenn wir unsere Hände nicht regelmäßig waschen oder uns mit einem Schnupfen auf die Straße wagen. Das Gesundheitsrisiko für andere zu minimieren, wird dann zur individuellen Bürgerpflicht. Ob wir damit eine bessere und gerechtere Gesellschaft erreichen - also unser eigentliches politisches Ziel -, daran würde ich stark zweifeln."

Wenn es irgendwo echte Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen geben müsste, dann doch wohl bei den NGOs. Ist aber nicht so, erklärt Helene Wolf auf Zeit online mit Verweis auf eine Studie des neu gegründeten Vereins Fair Share of Women Leaders e. V., dessen Vorsitzende sie ist. "Die Ergebnisse sind ernüchternd: In den untersuchten 83 Organisationen bestehen die Belegschaften im Durchschnitt zu etwa 70 Prozent aus Frauen, Geschäftsführungs- und Kontrollgremiumsposten sind jedoch zu fast 70 Prozent mit Männern besetzt. Nur 21 Organisationen haben eine Frau als Geschäftsführerin, lediglich 17 haben eine weibliche Vorsitzende des Kontrollgremiums. Derzeit hat ein Mann durchschnittlich fast sechsmal so hohe Chancen, eine Führungsposition in diesem Sektor zu erreichen, wie eine Frau."
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