9punkt - Die Debattenrundschau

Auf stumm geschaltet

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2020. Die FAZ rät den Frankfurter Bühnen, klug zu improvisieren, statt gleich alles abzureißen. Der Aufruf von Rowohlt-AutorInnen, Woody Allens Memoiren nicht zu veröffentlichen, stößt weithin auf Ablehnung. Die Financial Times erklärt anhand von Laschet, Röttgen & Merz, wie Elitenbildung in Deutschland funktioniert - auch Burschenschaften können da heute noch helfen. Die Coronakrise wird den chinesischen Staatsführer Xi Jinping nicht zu Fall bringen, meint in der NZZ die Sinologin Simona Grano. Die taz fragt: Und was ist mit Tibet?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.03.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Die Forderung, Rowohlt möge die Erinnerungen von Woody Allen nicht verlegen, ist bisher vor allem auf Kritik gestoßen (siehe unser 9punkt von gestern). Auch Edo Reents (FAZ) versteht den Aufruf einiger Rowohlt-Autoren nicht. "Es geht nicht darum, über 'Hexenjagden' zu klagen oder so zu tun, als dürften sich Genies alles erlauben; wer etwas getan hat, sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden, aber nur von der Justiz und nicht von Leuten, die sich auf ihrer moralisch richtigen Seite mit schon fast beneidenswerter Selbstgewissheit geborgen fühlen. Denn langsam wird das alles doch etwas geistfeindlich."

Auch Peter Truschner insistiert im Perlentaucher: "Die Unschuldsvermutung sowie die Freiheit der Rede und des gedruckten Worts sind viel zu kostbare, über die Jahrhunderte mühsam und mit vielen Opfern errungene Güter und Werte, um sie jenen zu überlassen, die  - egal, von welcher Seite des politischen Spektrums kommend - glauben, sie wüssten, was (für alle) richtig und was falsch ist."

In der Welt sekundiert Mara Delius: "Die  Entscheidung des amerikanischen  Verlags Ende vergangener Woche zeigte vor allem, dass man den Stein des Anstoßes, den angeblichen Missbrauch, so lange nicht für irritierend hielt, wie sich niemand öffentlich beschwerte und man mit dem Buch verdienen konnte. Was ist das für ein Signal?"

Auf Facebook spricht sich auch Rowohlt-Autor Ralf König deutlich gegen den Aufruf aus.

In Le Monde beharrt ein Kollektiv feministischer Anwältinnen mit Bezug auf neue Vorwürfe gegen Roman Polanski auf der prinzipiellen Bedeutung der Unschuldsvermutung: "Es ist dringend notwendig, die Regel und denn Respekt  der Unschuldsvermutung nicht länger als als ein Instrument der Straflosigkeit zu betrachten: In Wirklichkeit sind sie das einzige wirksame Bollwerk gegen eine Willkür, deren Opfer in diesen schädlichen Zeiten jederzeit jeder sein kann."
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Medien

Es gibt eine breite Bewegung von AfD und anderen Rechtsextremen gegen das Zahlen von Fernsehgebühren, berichtet Felix Huesmann bei buzzfeed.com. Maßgeblich betrieben wird die Kampagne von dem neurechten Blog Hallo Meinung, das Boykottmaßnahmen gegen die Sender befeuert: "Auch die rechtsextreme Identitäre Bewegung unterstützt die Kampagne. In Köln hängt eine Gruppe von Identitären ein Banner mit dem Aufruf 'GEZ sabotieren' an ein WDR-Gebäude. Der österreichische Identitären-Chef Martin Sellner sagt in einem Youtube-Video: 'Die IB hat sich damit mit der Aktion von Hallo Meinung solidarisch erklärt.' Das rechtsextreme Compact-Magazin macht den 'GEZ-Boykott' im Februar sogar zum Titelthema." Auch die Übermedien berichten über Hallo Meinung, der Artikel ist allerdings noch nicht frei online lesbar.
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Kulturpolitik

In Frankfurt streitet man weiter darüber, ob es wirklich richtig ist, die Frankfurter Bühnen, die renoviert werden müssten, gleich ganz abzureißen und an anderer Stelle neu zu bauen. Vielleicht sollten die Frankfurter mal nach Darmstadt gucken, schlägt Niklas Maak in der FAZ vor: "Dort hat die Ertüchtigung des Theaters nur siebzig Millionen Euro gekostet - nicht nur weil es kleiner ist, sondern weil der Architekt Arno Lederer klug improvisiert hat. Auch Lederer betont, dass man zur Erklärung der Kostenexplosion im Theaterbau nicht allein auf Bauvorschriften verweisen darf - sondern oft auch maßlose Anforderungen an die Bühnentechnologie die Sanierung von Theatern so kostspielig machten: Was man etwa in Stuttgart gerade versuche, sei so, als ob man einen dicken Sechszylinder in einen VW Käfer hineinstopfen wollte."
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Europa

Den besten Artikel über die deutsche Art der Elitenbildung, der die drei CDU-Kandidaten an ihre heutigen Positionen brachte, schreibt Constanze Stelzenmüller in der Financial Times: Sie haben nicht nur ihren Katholizismus gemeinsam, sondern auch dass sie Absolventen der juristischen Fakultät in Bonn sind. Und noch etwas: "Merz, Laschet und Röttgen waren bereits mit 18 Jahren in die CDU eingetreten. Merz leistete seinen Wehrdienst in der Panzerartillerie. Laschet lernte seine Frau im katholischen Kirchenchor kennen, gab eine Kirchenzeitung heraus und leitete einen Kirchenverlag. Sowohl Merz als auch Laschet waren Mitglieder von nicht schlagenden Burschenschaften: Merz gehörte zu Bavaria, Laschet zu Ripuaria. (Für Röttgen sind keine ähnlichen Mitgliedschaften verzeichnet.) Die Alumni-Listen von Bavaria und Ripuaria umfassen Kardinäle, Kabinettsminister, Professoren, Ärzte, Wirtschaftsführer und Rechtsanwälte."
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Stichwörter: Bavaria, Katholizismus

Politik

Wenn jemand im amerikanischen Wahlkampf eine Chance hat gegen Donald Trump, dann ist es Joe Biden, meint Niall Ferguson in der NZZ. Nicht nur habe er ein erstaunliches Comeback hingelegt (vor allem für einen Mann mit Gedächtnislücken): "Die andere wichtige Erkenntnis, die man aus der letzten Woche mitnehmen kann, ist die Tatsache, dass die Mehrheit der schwarzen Wähler Biden unterstützt hat - und das nicht nur in South Carolina. Der brillante junge afroamerikanische Autor Coleman Hughes schrieb [in einem Tweet]: 'Die Tatsache, dass schwarze Wähler sich überwiegend für Biden entschieden haben, ist nur eine Überraschung, wenn einem nicht klar ist, dass schwarze Wähler der Demokraten weit konservativer sind als ihre weißen Wähler. Die progressive aktivistische Klasse mag sich so vorkommen, als würde sie die Politik des schwarzen Amerika dirigieren, aber das ist nicht der Fall.'"

"Und was ist mit Tibet", fragt Sarah Schäfer von der "Tibet-Intiative" Deutschland in der taz:  Vor siebzig Jahren marschierten die Chinesen in Tibet ein. "Den Ruf nach einem Tibet, in dem Selbstbestimmung und Menschenrechte die siebzigjährige Unterdrückung ablösen, gibt es weiterhin - er wird vom chinesischen Staat bloß immer öfter auf 'stumm' geschaltet. Dabei helfen auch westliche Regierungen und Firmen, den Handelsbeziehungen zuliebe. Denn Tibet, mit seiner völlig anderen Sprache, Kultur und historisch ganz eigenen politischen Strukturen, sei ja schließlich ein Teil Chinas. Tibeter, die das nicht akzeptieren, 'verschwinden' gern mal."

Die Coronakrise wird den chinesischen Staatsführer Xi Jinping nicht zu Fall bringen, meint in der NZZ die Sinologin Simona Grano. Einmal habe er großen Rückhalt bei der Landbevölkerung, und zum anderen gebe es keine organisierte Opposition in China. Auch fordere heute kaum noch jemand einen Systemwechsel: "1989, mit der Demokratiebewegung, welche am 4. Juni brutal von der  Volksbefreiungsarmee niedergeschlagen wurde, geschah es zum ersten und letzten Mal, dass die Bevölkerung einen politischen Systemwechsel forderte, während die KP an der Macht war. In der Regel richten sich die Proteste gegen lokale Kader, die für eine Vielzahl von Problemen verantwortlich gemacht werden. Solange es der Partei gelingt, die Gesellschaft so zu fragmentieren, dass bevölkerungsgruppenübergreifende und territoriale Koalitionen schwierig sind, ist die Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften Herausforderung für die Kommunistische Partei gering."
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