12.03.2020. Die Debatte um die Frage, ob Rowohlt Woody Allen publizieren soll, geht weiter. Die Zeit bringt ein Pro und Contra mit Texten von Kathrin Passig und Daniel Kehlmann. Pascal Bruckner findet in Le Point, dass die Kritik an Roman Polanski die Grenze zum Antisemitismus überschritten hat. Die Corona-Krise hat Italien auf paradoxe Weise vereint, beobachtet Thomas Schmid in der Welt. Die NZZ berichtet über Gewalt gegen Frauen in der Türkei.
Europa, 12.03.2020
Corona wird
Italien verändern,
glaubt Thomas Schmid in der
Welt: "Das Virus unterscheidet nicht mehr zwischen Rechts und Links, Oben und Unten. Nicht einmal die alte Nord-Süd-Polarisierung funktioniert mehr. Eben noch gab es die roten Gefahrenzonen im Norden, während der Süden des Landes sicher zu sein schien. Auch das ist nun vorbei. Contes Dekret, das ganz Italien zur roten Zone erklärt, hat das Land
auf paradoxe Weise vereint. Und es wird kein Zufall sein, dass die Werte von Lega-Chef Salvini sinken. Im Land des politischen Krawalls ist Krawall zumindest für einen Moment aus der Mode gekommen. Die Italiener erweisen sich auf einmal als
folgsam."
Der Mord an
Jan Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová hat eine neue Epoche in der Slowakei eingeleitet,
schreibt taz-Korrespondentin Alexandra Mostýn. Die neue Regierungskoalition um
Igor Matovič verspreche nun, das Land auf demokratischere Gleise zu bringen. Bisher kam ihr die Machtgeschichte der Slowakei mit ihren Autokraten, Mafiabossen und Auftragsmorden vor wie eine Fernsehserie: "
Dallas an der Donau, nur sind es nicht Ölbarone, sondern Finanzfürsten, die morgens mit dem Hubschrauber von ihrem Anwesen in den Weißen Karpaten zur Arbeit in den eigenen Bürotürmen gleich neben der Altstadt von Bratislava fliegen. Ein House of Cards, in dem sich das Spiel weniger um Politik als um Profit dreht."
Trotz der bereits 2012 verabschiedeten Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von
Gewalt gegen Frauen nehmen die Gewaltverbrechen gegen Frauen in der
Türkei weiter zu,
schreibt Constanze Letsch, die für die
NZZ mit türkischen Juristinnen und Frauenrechtlerinnen gesprochen hat. In der Gesellschaft herrsche nach wie vor ein traditionelles Frauenbild, auch bei vielen konservativen Politikern in der Türkei sitze ein
frauenfeindliches Bild tief, erfährt sie: "Seit Jahren drängt die AKP-Regierung Frauen dazu,
mindestens drei Kinder zu gebären. Laut einer türkischen Medienuntersuchung rät das türkische Religionsministerium Diyanet Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, 'Ruhe zu bewahren', den Täter zu besänftigen und, statt die Polizei zu rufen, lieber 'abends
etwas Schönes zu machen'."
In der
FAZ schildert der Historiker und stellvertretende Direktor des Warschauer Zentrums für Polnisch-Russischen Dialog und Verständigung
Lukasz Adamski die Mechanismen des
Geschichtsrevisionismus in vielen osteuropäischen Ländern. Dabei manipuliere niemand so systematisch wie
Russland, schreibt er: "Europäische Historiker, die Putins Regierung kritisieren, werden als Gefahr für die nationale Sicherheit angesehen. Als solche gelten außer mir selbst noch mindestens zwei polnische Historiker. Viele wichtige Dokumente über Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg werden weiterhin geheim gehalten."
Weitere Artikel: Im Aufmacher des
FAZ-Feuilletons fordern Jürgen Kaube und Joachim Müller-Jung außerdem einen staatlichen Eingriff in die
Pharmaindustrie.
Gesellschaft, 12.03.2020
Die
Zeit veranstaltet eines ihrer Üblichen
Pro und Contras zur Debatte, ob
Rowohlt die Memoiren von
Woody Allen veröffentlichen soll (unsere
Resümees). Adam Soboczynski erklärt nochmal den Hintergrund.
Kathrin Passig, eine der Autorinnen des Aufrufs gegen die Veröffentlichung, erinnert daran, "wie erdrückend die Beweislage in solchen Fällen sein muss und wie viel investigative Hartnäckigkeit und institutionelle Unterstützung nötig sind, wenn die Aussagen der von sexualisierter Gewalt Betroffenen nicht
immer wieder als unglaubhaft abgetan werden sollen." Von
Unschuldsvermutung will Passig nichts hören. Sie gelte "nicht nur für Woody Allen, sie gilt auch für Mia Farrow und führt daher nicht weiter".
Daniel Kehlmann verwahrt sich gegen das Klischee, dass nur böse Künstler gute Werke schaffen: "ich glaube vielmehr, dass sich die Persönlichkeit eines Künstlers in seinem Werk ausdrückt - und gerade in dieser Hinsicht ist es nicht egal, dass
Woody Allens Lebenswerk den tiefsten und wahrhaftigsten Humanismus ausdrückt. Und weil ich nun einmal den Eindruck habe, dass es nicht das Werk eines Mannes ist, der Kinder vergewaltigt, möchte ich wissen, was er selbst über sein Leben und über die Vorwürfe zu sagen hat."
Harvey Weinstein ist zu
23 Jahren Haft verurteilt worden. Gut so,
kommentiert Christiane Peitz im
Tagesspiegel, aber: "Das Gerichtsurteil ist das eine, das öffentliche Urteil das andere. Wenn beides zusammenfällt, stellt sich
Genugtuung ein. Ein schönes Gefühl, das Gefahren birgt. Der Sturz der Mächtigen wird gerne mit Jubel quittiert. Er übertönt jedoch, was Gewalt und Übergriffe so oft begünstigt: das
Schweigekartell der Umgebung; der Mitarbeiter und Kolleginnen, auch der Fans, die ihr Idol anhimmeln.
Machtmissbrauch ist Teamarbeit. Was die Täter kein bisschen entlastet."
In Paris wurde
Roman Polanski wegen einer tatsächlichen und einiger angeblicher Verfehlungen bei der "Césars"-Verleihung mit Gesten
äußerster Verachtung bedacht (er selbst war nicht anwesend).
Viriginie Despentes schrieb in
Libération, das Antisemitismus-Thema seines Films "J'Accuse" sei nur vorgeschoben, weil reiche Produzenten Polanski eine Ehrbarkeit hätten zurückgeben wollen. Für
Pascal Bruckner ist die Grenze zum Antisemitismus überschritten, wie er in
Le Point schreibt. "Wie können Schauspieler und Schauspielerinnen, Regisseure, die man bewundert, wohlhabende und anerkannte Schriftstellerinnen in diese
Wahnsinnslogik des Sündenbocks abgleiten? Hass hält warm und schweißt eine Gruppe zusammen."
Es sind nicht die Positionen zu verschiedenen Sachthemen, die der
AfD Wähler bringen, es ist der
Populismus der Partei,
meint der Politikwissenschaftler
Marcel Lewandowsky im
Tagesspiegel. Folglich werden es die Volksparteien schwer haben, Wähler zurückzugewinnen: "Populismus (..) ist die
Ablehnung des Status quo, weil man eine andere, unmittelbare, 'organische' Form des Regierens vorzieht. Populistisch eingestellt zu sein bedeutet, dass man glaubt, das 'Volk' habe über alles zu entscheiden, und zwar auch über die institutionellen Grenzen hinweg, die die liberale Verfassung garantiert."
"Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür,
Wutbürger in Watte zu packen", sagt
Jürgen Habermas im bereits im Oktober geführten, nun veröffentlichten 28-seitigen Interview mit der sozialwissenschaftlichen Vierteljahreszeitschrift
Leviathan, das man hier
als PDF herunterladen kann. Im
Tagesspiegel resümiert Christian Schröder das Gespräch: "Es habe viel zu lange gedauert, 'bis die Nazi-Aufmärsche, die antisemitischen Anschläge und sogar der Mord an einem Politiker eine auf
Antikommunismus und Islamophobie getrimmte Öffentlichkeit alarmiert und die Behörden zu einem Perspektivenwechsel von links nach rechts veranlasst haben'(…). Bis vor kurzem sei es für Politiker quasi unmöglich gewesen, 'ein
klares Wort gegen den rechten Mob zu riskieren, ohne reflexhaft - als müssten sie sich entschuldigen - auf die Symmetrie von Rechts- und Linksextremismus hinzuweisen'."
Nach sechzig Jahren und einem Shitstorm kündigt
Bahlsen an, seinen
Schokoladenkeks "
Afrika" umzubenennen, meldet Matthias Heine in der
Welt. Konsequenterweise müsste auch Afrika umbenannt werden, denn der Name wurde dem Kontinent vor 2200 Jahren von "
alten,
weißen"
Kolonialisten und Imperialisten "übergestülpt", sinniert Heine weiter: "Es bleibt dabei, dass Afrika ursprünglich ein
Sklavenname war, mit dem europäische Eindringlinge die in ihren Augen schmutzigen und primitiven Indigenen bezeichneten. ... Vielleicht ist es Zeit, den Kontinent von seinem Namen zu befreien und ihn damit auch
linguistisch zu
dekolonialisieren."
Kulturpolitik, 12.03.2020
Das
Coronavirus betrifft das
Kulturleben besonders hart. "Von der Diva bis zum Souffleur und hin zu den studentischen Kräften an der Garderobe wird es empfindliche Verdienstausfälle geben",
befürchtet Petra Kohse in der
Berliner Zeitung. Aber: "In allerschönster zuverlässigster Landesmuttermanier hat sich die Staatsministerin für Kultur und Medien
Monika Grütters (CDU) dazu jetzt auch schon geäußert: 'Künstler und Kultureinrichtungen können sich darauf verlassen, gerade mit Blick auf die Lebenssituationen und Produktionsbedingungen der Kultur-, Kreativ- und Medienbranche:
Ich lasse sie nicht im Stich!'"
Letztlich musste auch die
Lit.
Cologne nur wenige Stunden vor der Eröffnung abgesagt werden, auch die
Theater,
Opern und Konzerthäuser
schließen reihenweise,
meldet Peter Kümmel in der
Zeit und fragt ebenfalls: "Wie lang können sich Bühnen halten, die auf bezahlende Zuschauer angewiesen sind?" Einige Häuser haben sich derweil entschlossen, ihre Veranstaltungen zu
streamen,
meldet der
Tagesspiegel. Die Absage der
Leipziger Buchmesse ist für die kleinen Verlage eine "
Katastrophe",
meint Thomas Schmoll auf
Zeit Online, der mit kleinen Verlegern wie Björn Bedey, Geschäftsführer der Hamburger Verlagsgruppe Bedey Media gesprochen hat.
Hannah Bethke beobachtet indes in der
FAZ: "Diese Gesellschaft hat keine Erfahrung mit Mangel und
erzwungener Enthaltsamkeit. Und sie zeigt nicht gerade ihre besten Seiten, wenn sie auf die neue Situation mit Verschwörungstheorien, irrationaler Angst und egoistischen Hamsterkäufen reagiert. Der Umgang mit dem Coronavirus demonstriert mehr als jeder Massenansturm auf ein begehrtes Konsumobjekt, wie sehr die Gesellschaft den
Kapitalismus einverleibt und mit ihrer Identität verknüpft hat - und wie hilflos sie schon dasteht, wenn das System nur vorübergehend löchrig wird."
Medien, 12.03.2020
Journalisten werden in Deutschland vor allem von
Rechtsextremisten angegriffen, wesentlich weniger von Linksextremisten,
schreibt Volkan Ağar in der
taz unter Bezug auf eine
Studie des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit aus Leipzig. "Die dokumentierten Angriffe aus linken und rechten Spektren hätten zudem unterschiedliche Motive: Während im rechten Spektrum eine ideologisch verankerte
Medienfeindschaft verbreitet sei, die in der 'Lügenpresse'-Erzählung von Journalisten gründet, die im Sinne von Eliten gegen das 'Volk' schreiben würden, gebe es ein ähnliches Muster links nicht." Rechts gibt es also etwas und links nicht. Damit ist die Hufeistentheorie widerlegt!
Harry Nutt
schickt dem
Perlentaucher einen schönen Geburtstagsgruß aus der
Berliner Zeitung, und das obwohl wir vielen Kollegen immer auch mal wieder - und bestimmt ungerechter Weise -
wehgetan haben: "Nicht wenige fühlten sich vom
Perlentaucher schlecht behandelt oder falsch verstanden. Das ergab sich schon aus der Unabhängigkeit der Redaktion und deren Lust, sich
gegen Meinungsgleichklang zu positionieren." Und noch ein
Geburtstagsgruß von Michael Angele im
Freitag (unter einer witzigen Illustration): "Wichtiger noch als die Zeitungen
sind die Bücher. Ohne Bücher kann man sich den
Perlentaucher nicht vorstellen."
Der
Rundfunkbeitrag ist nicht mehr
zeitgemäß, meint im
Welt-Gespräch mit Christian Meier der Staatsrechtler
Christian Degenhart, der auch den Autovermieter Sixt bei dessen Klage gegen die Erhebung des Rundfunkbeitrags für betrieblich genutzte Fahrzeuge vertrat. Man könnte darüber nachdenken,
nur den Auftrag und nicht die Anstalten zu finanzieren. Zur Zeit allerdings gehe ein "erheblicher Teil des Budgets ... für
Altersrückstellungen drauf - bei
Altverträgen liegen die Bezüge deutlich über den Bezügen, auch im öffentlichen Dienst. Was nur beweist, dass die Anstalten vor allem früher das Geld mit vollen Händen ausgegeben haben. Bis 1984 gab es ja auch nur den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, und der konnte im Grunde machen, was er wollte, seine Intendanten haben sich oft geriert wie
Barockfürsten."
Politik, 12.03.2020
Nicht der
Islam ist das Problem der Ausgrenzung und
Verfolgung von Homosexuellen in arabischen Ländern, sagt
Khalid Abdel Hadi, der vor siebzehn Jahren mit
MyKali das erste LGBTQ-Magazin in der arabischen Welt gründete, im
SZ-Gespräch mit Anna Reuss: "Es gibt viele Schwule, die gläubige Muslime oder Christen sind.
Traditionen und Bräuche spielen eine weitaus größere Rolle. Wenn Ihre Familie erwartet, dass Sie heiraten und Kinder bekommen, ist es noch schwieriger, ein Coming-out als schwul oder transsexuell zu haben. Ein weiteres Klischee ist, dass die westlichen Medien 'LGBT+'-Menschen aus dem muslimisch geprägten Nahen Osten und aus Nordafrika als
Opfer ihrer Gesellschaft ansehen. Dass sie dort gequält werden und nach einem Leben im Westen als Paradies suchen. Meist ist das nicht der Fall. Wir
müssen nicht gerettet werden."
In der
NZZ schildert René Zeyer, wie das
Internet in Kuba für mehr Transparenz sorgt: Bisher "wurden negative Meldungen von den
Staatsmedien ignoriert. Unfälle auf den zunehmend zerfallenden Straßen, Pfusch, Quartiere ohne Wasser, ohne funktionierende Müllabfuhr oder Kanalisation, aufgelassene Baustellen, halbfertige Reparaturen,
leere Läden, lange Schlangen vor Tankstellen, das erbärmliche Angebot in den Abgabestellen, wo mit der Rationierungskarte eingekauft werden kann, Verbrechen - das wurde höchstens gelegentlich als Ausnahme von der Regel aufgegriffen, und Funktionäre versprachen jeweils sofortige Abhilfe. Womit das
Thema erledigt war, allerdings nicht das Problem."