Schwerpunkt Corona-Krise Was wird in der
Corona-Krise aus Europa,
fragt Anja Krüger in der
taz: "Es ist atemraubend, wie die Grenzen in Europa im Zuge der Corona-Krise hochgezogen werden, sich ein Staat nach dem anderen abschottet. Die Pandemie zeigt,
wie fragil die Europäische Union ist. Ist diese Abschottung wirklich so alternativlos, wie es scheint? Viren scheren sich nicht um Grenzen, das ist eine Binsenweisheit. Die Reaktion, Grenzen zu schließen, folgt in vielen Ländern dem Wunsch, sich durch Isolieren zu schützen. Das funktioniert gebietsweise, aber eben nicht in
nationalen Grenzen."
Auch Ulrich Ladurner ist unglücklich über die geschlossenen Grenzen. Was ist denn nun mit Europa,
fragt er auf
Zeit online. "In diesen Tagen sehen wir mit wachsendem Entsetzten, dass
Europa schwach ist. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bittet schon fast verzweifelt um das eigentlich Selbstverständliche: Dass medizinische
Schutzausrüstung unter den Europäern geteilt wird, dass man sich koordinieren und die Grenzen offenhalten müsse, um produzieren zu können, was in dieser Krise notwendig sei. Was heute in Italien gebraucht werde, das könne morgen in Deutschland benötigt werden, und übermorgen in Frankreich, Spanien oder Österreich. Das ist richtig. Nur, stehen da jetzt Schlagbäume im Weg."
Im
Interview mit der
Zeit erklärt der Mailänder Virologe
Roberto Burioni, warum
gerade Italien so heftig von der Corona-Krise betroffen sein könnte: "Es sieht so aus, als sei der Erreger hier
einfach früher angekommen als in anderen europäischen Ländern. Und möglicherweise gab es Veranstaltungen, bei denen sich Sars-CoV-2 ausbreiten konnte. Vielleicht über sogenannte
Superspreader, also Individuen, die besonders viele Kontakte pflegen. Aber bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir etwas gegen die hohen Fallzahlen tun." Den
Deutschen (und allen anderen) rät er, "
möglichst frühzeitig sehr strenge und entschlossene Maßnahmen zu treffen. Die Bemühungen, die
ganz zu Beginn eines Ausbruchs erbracht werden, liefern später die besten Ergebnisse."
In
Le Monde zitieren Chloé Hecketsweiler et Cédric Pietralungat aus einer Studie, die der französischen Regierung vorliegt und die die Zahl der Opfer des Coronavirus in Frankreich auf 300.000 bis 500.000 hochrechnet,
falls keine Maßnahmen ergriffen werden. Allerdings geht "dieses Szenario von der höchsten angenommen Übertragbarkeit und Sterberate aus und rechnet die bereits ergriffenen
Maßnahmen zur Eindämmung nicht ein. In diesem Szenario wären zwischen 30.000 und 100.000 Intensivbetten erforderlich, um Patienten auf dem Höhepunkt der Epidemie unterzubringen. Diese Modellrechnung wurde von dem
Epidemiologen Neil Ferguson vom Imperial College in London durchgeführt. Sein Team wurde von mehreren europäischen Regierungen gebeten,
verschiedene Szenarien für das Fortschreiten der Epidemie zu erstellen." Der Elysées-Palast nennt die Zahlen nach Nachfrage von
Le Monde weit übertrieben.
In
Le Monde gibt es dann auch schon ein
apokalyptisches Tremolo, das sich in Frankreich offenbar leichter Bahn bricht als hierzulande. Dies sei zwar nicht das Ende der Welt,
schreibt der ehemalige Grünen-Poliiker
Noël Mamère, aber "einer" Welt. Die Globaliserung habe uns für globale Risiken anfällig gemacht. "Es musste nach der Finanzkrise erst dieses Coronavirus kommen, um uns die Frage
unserer Zerbrechlichkeit und der Abhängigkeit von den andern Menschen und dem 'Nicht-Menschlichen', das heißt der Welt der Lebewesen zu stellen. Wie in
Steven Soderberghs Film 'Contagion' ist dieses Virus
von einem Tier ausgegangen, das das Virus zuerst in sich trug. Je mehr wir die Wildnis attackieren, je mehr wir ihre Lebenswelt zerstören, desto näher wird sie uns kommen und seine Viren übertragen, die für Menschen ansteckend sind."
Im
Standard unterhält sich Katharina Rustler mit der "Kulturvirologin"
Susanne Ristow, die sich mit dem Thema
Viren und Viralität in Kunst und Medien beschäftigt und einen durchaus sorgenvollen Blick auf die jetzt getroffenen drakonischen Entscheidungen wirft: "Es ist
ein Probelauf. Wie weit kann man gehen, wenn es um die
Reglementierung der Zivilgesellschaft geht? Was macht das mit den zwischenmenschlichen Beziehungen? Wenn ich das Gefühl habe, der Andere sei eine permanente Gefahr für mich, kann ich ihm nicht mehr mit dem Vertrauen begegnen, das für eine offene Gesellschaft aber notwendig ist. Aktuell erleben wir einen Kulturschock des Soziallebens, der fatale Folgen für unser zukünftiges Zusammenleben haben wird."
Der Schriftsteller
Giorgio Fontana schickt der
NZZ einen Brief aus dem stillen
Mailand. Er findet Trost bei
Augustinus: "'Da
alles Leblose ohne Furcht ist und uns keiner jemals raten wird, wir sollten auf das Leben verzichten, um furchtlos sein zu können, muss man wünschen, ohne Furcht zu leben. Da aber anderseits ein furchtloses Leben ohne Verstand nicht erstrebenswert ist, muss nach einem verständigen Leben ohne Furcht getrachtet werden.' Oder vielleicht, so denke ich, müssten wir die Furcht akzeptieren und trotzdem
intelligent leben. Wir versuchen es."
=============== FAS-Korrespondent Jochen Buchsteiner schildert erbitterte Diskussionen in der immer noch
corbynistischen Labour-Partei um moralische Reinheit: "Die Labour Party ist zur Stimme der sogenannten '
Woke Culture' geworden, aber
Antisemitismus wird nur formal zu den Diskriminierungen gezählt, gegenüber denen man wach ('woke') sein soll. Im Weltbild der 'Woke'-Anhänger werden Juden nicht als eine Minderheit betrachtet, der derselbe Schutzstatus zusteht wie etwa Muslimen. Israel gilt unter vielen linken Labour-Mitgliedern als Unterdrückungsstaat und obendrein als Repräsentant des globalen Kapitalismus. Zur schutzwürdigsten Gruppe wurden die
Transgender ausgerufen, was aber aus Sicht vieler Feministinnen auf Kosten ihrer eigenen Interessen geht." von den vier Kandidaten für den Vorsitz der Partei, so Buchsteiner, haben drei eine Erklärung unterzeichnet, die Transgender-Frauen eindeutig zum weiblichen Geschlecht zählt.
Zu alldem passen
László F. Földényis Meditationen aus seiner Rede für den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Unsere Zivilisation ist zu selbstsicher geworden, meint Földenyi. Der
Melancholiker habe es stets besser gewusst: "Der Melancholiker teilt diese universelle Selbstsicherheit nicht. Für ihn ist
das Unbekannte nicht etwas, was sich bei entsprechenden Kenntnissen früher oder später entschleiern lassen wird, sondern das
innerste Zentrum des menschlichen Daseins und Denkens. Und was ist dieses Unbekannte? Etwas, worin jedes Leben eingebettet ist. Niemals sind wir vollständig Herr unseres Lebens; es gibt etwas, was stets über uns hinausgeht."
In der
NZZ macht der Sozialpsychologe
Jonathan Haidt die sozialen Medien verantwortlich für
Depressionen und letztlich die
Tribalisierung unserer Gesellschaft, die sich an Universitäten besonders deutlich zeige: Studenten würden andere Standpunkte zunehmend "als Angriff auf ihre Persönlichkeit wahrnehmen. Als Psychologe habe ich mich in die Forschung zu Depression, Angstzuständen und Sozialen Netzwerken vertieft. Das Resultat: Leute mit Jahrgang 1996 oder später sind grundsätzlich anders als ältere Jahrgänge, weil die Generation Z schon ab der sechsten Klasse auf sozialen Netzwerken aktiv wird, wenn ihre
Gehirne noch überaus plastisch sind. Das unterscheidet sie von Millennials mit 1980er Jahrgängen, die erst an der Uni auf Social Media aktiv wurden. Die Gen Z ist viel fragiler, ängstlicher, verletzlicher und
empfindlicher gegenüber Worten."