9punkt - Die Debattenrundschau

Bedürfnis nach Panik

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.03.2020. Die Corona-Krise offenbart Anne Applebaum in Atlantic einige unheimliche Wahrheiten über die amerikanische Demokratie. In der Welt warnt Ralf Fücks davor, die jetzigen Notstandsmaßnahmen auf eine künftige Klimapolitik übertragen zu wollen. In der SZ fühlt sich René Schlott durch die Verordnungen an das Drehbuch einer rechtspopulistischen Machtübernahme erinnert. Die FR prangert das Versagen der UNO im Syrienkrieg an.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 17.03.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Der Atlantic-Kolumnistin Anne Applebaum offenbart die Corona-Krise ein paar Wahrheiten über den Zustand der amerikanischen Demokratie. Sie wirft der Trump-Regierung vor, auf ähnliche Weise gezögert, beschönigt, vertuscht und verhindert zu haben wie die chinesische Regierung in den Tagen, als das Virus im Umkreis eines Fisch- und Wildtiermarktes in Wuhan bekannt wurde. Das alles, weil Trump nichts von Krise hören wollte: "Auch ohne die Bedrohungen und die gewalt des chinesischen Systems haben wir die gleichen Ergebnisse: Wissenschaftler, die ihren Johb nicht erledigen dürfen; Beamte im Gesundheitswesen, die nicht für offensiv für Tests eintreten; verzögerte Vorbereitungen - und das alles, weil zu viele Menschen fürchteten, es könnte den politischen Aussichten des führenden Politikers schaden. Ich schreibe das nicht, um den chinesischen Kommunismus schönzureden. Beileibe nicht. Ich schreibe das, damit die Amerikaner verstehen, dass unsere Regierung dasselbe Verhalten an den Tag legt wie der chinesische Kommunismus. Es bedeutet, dass unser politisches System in weit schlimmerem Zustand ist, als wir bisher annahmen."

Welt
-Autor Thomas Schmid setzt seine Corona-Aperçus (Resümee der Folge 1) fort: "Auf Facebook hat die Zahl der Einträge drastisch abgenommen, deren Autoren an eine Hysterie oder eine Verschwörung oder ein ganz besonders perfides Manöver des 'Merkel-Regimes' glauben. Es wird verhaltener, persönlicher, man rät einander dies und das. Kammertöne. Selbst der Journalist, der sich für den schlauesten der Republik hält, hat seine Behauptung von vergangener Woche, die Welt verfalle in einen Corona-Wahn, stillschweigend kassiert und macht nun in seinem Morgenappell auch auf Bürgersinn und Neuentdeckung des gesellschaftlichen 'Zusammenhalts'."

Und tatsächlich, der von Schmid gemeinte Gabor Steingart schreibt in seinem Morning Briefing: "Was an den Börsen zu historischen Wertverlusten führt, könnte in unserem Inneren geradezu spiegelbildlich einen Substanzaufbau befördern. Lassen Sie uns die Einsamkeit durchbrechen und einen Club der Pioniere bilden."

Apropos China. Sven Hansen zitiert in der taz aus einer Studie der demografischen Forschungsgruppe "WorldPop" der britischen Universität Southampton: "Hätte China seine drastischen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus drei Wochen früher und damit kurz nach ersten Warnungen von Medizinern begonnen, hätten 95 Prozent der Infektionen verhindert werden können. Wäre dies zwei Wochen früher passiert, wären noch 86 Prozent ausgeblieben, bei einer Woche früher immerhin noch 66 Prozent."

Na also, geht doch, freut sich Kilian Jörg in der taz. Vor einem Jahr rief Greta Thunberg "I want you to panic!" Und jetzt: "In schier unmöglich gedachter Geschwindigkeit werden Reiseverbote erlassen, Grenzen, Universitäten, Schulen geschlossen, das öffentliche Leben beschnitten und die internationalen Produktionsketten unterbrochen. Flüge werden gestrichen, Fabriken heruntergefahren: Der globale CO2-Ausstoß ist in den letzten Wochen stark zurückgegangen - und das aufgrund einer Panik, die eigentlich nicht auf dem ökologischen Problem fußt. Abseits von virologischen Kalkülen und gesundheitspolitischen Rationalitäten sollte auch die Frage gestellt werden, inwieweit sich hier nicht auch gerade ein Bedürfnis nach Panik in unseren ökologisch katastrophalen Lebensweisen äußert."

Genau solche Fantasien von einer künftigen Klimapolitik, die sich am Kampf gegen die Corona-Krise orientiert, sind "zutiefst autoritär", ruft Ralf Fücks in der Welt. "Die Analogie zwischen Corona-Krise und Klimawandel ist auch in der Sache unhaltbar. Eine Virenpandemie ist monokausal. Dagegen ist der Klimawandel eine hochkomplexe Angelegenheit. Er speist sich aus vielen Quellen: Energieproduktion und Verkehr, Landwirtschaft und Industrie, Wohnen und Städtebau. Zu glauben, er ließe sich durch einige grobe ordnungsrechtliche Eingriffe aufhalten, ist bestenfalls naiv. Dazu kommt ein völlig unterschiedlicher Zeithorizont: Die Einschränkungen zur Bekämpfung der Virus-Pandemie sind temporär. ... Angewandt auf den Klimawandel müssten sie auf Dauer gestellt werden: nicht für Monate, sondern für immer. Wer das als mehrheitsfähige Vision verkaufen will, ist nicht von dieser Welt."

Auch René Schlott vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung sind die in diesen Tagen ergriffenen Zwangsmaßnahmen unheimlich. In der SZ schreibt er: "Das Procedere der letzten Tage liest sich wie das beängstigende Drehbuch einer rechtspopulistischen Machtübernahme. Nun, wo die Maßnahmen einmal in der Welt sind, das Exempel statuiert ist, wer will dann ausschließen, dass dieselben Einschränkungen der Grundrechte einmal im Namen einer anderen vermeintlichen Notsituation wieder aktiviert werden."

In Notzeiten wird Solidarität plötzlich wieder groß geschrieben. Wirklich? Einzelhandelskauffrau Farina Kerekes macht zur Zeit leider oft andere Erfahrungen, erzählt sie im Tagesspiegel: "Wenn ich einen Wunsch frei hätte: Leute, bitte hört auf zu hamstern! Es ist genug Ware da, wenn jeder für seinen normalen Bedarf einkauft. Sonst wird es ein Teufelskreis. ... Wenn ich den Kunden erkläre, dass sie bestimmte Waren nur in handelsüblichen Mengen kaufen dürfen, fangen sie an, mich zu beschimpfen. Es sei lächerlich oder unmöglich oder schlimmeres ... Das sind Erwachsene. Ich muss denen doch nicht beibringen, wie man teilt!"

Für einen hat die Sache aber auch ihr Gute, wie Heise.de meldet. "Coronavirus: Amazon schreibt 100.000 Stellen aus."
Archiv: Gesellschaft

Kulturmarkt

Freie Musiker gehören zu jenen beruflichen Kategorien, auf die sich die Corona-Krise unmittelbar wirtschaftlich auswirken. In der FAZ schildert Thomas Schmoll ihre Lage: "Die Künstler leben weitgehend von ihren Aufritten und Tourneen, einige von der Hand in den Mund. Die Absagen fallen noch dazu in eine absolute Hochzeit der Konzerttätigkeit: März und April sind - auch wegen Ostern - traditionell die Monate, in denen besonders viele Veranstaltungen über die Bühne gehen. Die damit verbundenen finanziellen Verluste sind so gravierend, dass ein Sterben unter den Ensembles droht." Mit Ausfallhonorar könnten die Musiker wegen "höherer Gewalt" nicht rechnen. Monika Grütters verspricht Hilfen. Und die Musiker setzen auf die Spendenbereitschaft der Bürger: "Unter dem Hashtag #ichwillkeingeldzurück werden Ticketbesitzer dazu aufgerufen, das Geld für bereits abgesagte Konzerte nicht zurückzuverlangen."

Ebenfalls in der FAZ: Karen Krüger unterhält sich mit der Verlegerin Selma Wels des auf türkische Literatur spezialisierten Binooki-Verlags - sie muss schließen, weil aus politischen Gründen sowohl die Türkei, als auch die EU die Übersetzungsförderung einstellen. Und auf der Medienseite berichtet Axel Weidemann über die folgen der Corona-Krise für die deutsche Filmindustrie.
Archiv: Kulturmarkt

Politik

Der Syrienkrieg hat bisher "Hunderttausende Tote, mehr als elf Millionen Kinder, Frauen und Männer auf der Flucht, kaputte Volkswirtschaften und eine gefährlich destabilisierte Region" hinterlassen. Das sagte der jetzige UN-Generalsekretär António Guterres schon 2013. Unternommen hat er seither nicht sehr viel, schreibt Jan Dirk Herbermann in der FR. Aber damit stehe er nicht allein: "Ganz oben auf der Liste des Versagens der UN im Syrienkonflikt steht ihr Sicherheitsrat - der soll die 'Hauptverantwortung' für die Beilegung von Konflikten übernehmen. Die Hauptverantwortung für seine Handlungsunfähigkeit hingegen trägt die Vetomacht Russland. Zwar stimmten die Russen einige Male mit den anderen Mitgliedern etwa für humanitäre Hilfen oder für den nie realisierten Friedensplan in Resolution 2254 von 2015. Ansonsten hält Russlands Präsident Wladimir Putins aber eisern zu seinem Schützling Baschar al-Assad. Initiativen westlicher Staaten wie der USA, den Despoten Assad mit Sanktionen oder Embargos zur Räson zu bringen, schmettern Putins Emissäre regelmäßig ab."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Auch die Soros Foundation will jetzt die Rückgabe "kolonialer Objekte" (ein Begriff, der sich sehr weit fassen lässt) finanziell unterstützen.  Davon, dass die europäischen Museen nicht entleert werden sollen, wie Benedicte Savoy noch behauptet hatte, ist keine Rede mehr. Im Gegenteil, erfährt man aus einem Interview der SZ mit dem Präsidenten der Stiftung, Patrick Gaspard, der mit Blick auf die Rückgabe der Säule von Cape Cross durch das DHM an Namibia erklärt: "Indem Deutschland diese Säule zurückgegeben hat, hat es gesagt: Hier ist Unrecht geschehen in deutschem Namen, und dieses Unrecht muss korrigiert werden. Damit ist ein Präzedenzfall geschaffen. Dieses eine Objekt steht in unmittelbarer Verbindung zu Tausenden anderen in den Kellern deutscher Museen. Bisher läuft der Prozess sehr langsam, aber wir werden solche Modelle nützen, um ihn auf Overdrive zu stellen."
Archiv: Kulturpolitik

Medien

Gergely Márton hat für die taz mit Redakteuren der gleichgeschalteten öffentlich-rechtlichen Sender in Ungarn gesprochen, die erzählen, dass sie nach strikten Vorgaben der Regierung berichten müssen: "Die Regeln widersprechen oft auch dem normalen Medienbetrieb. Sagt zum Beispiel ein deutscher Minister etwas Kritisches über Ungarn, wird darüber so lange nicht berichtet, bis ein Regierungsvertreter in Budapest alles zurückgewiesen hat. Und wenn endlich die Replik aufgenommen ist, dann wird der Beitrag in umgekehrter Reihenfolge geschnitten: Erst kommt die ungarische Richtigstellung, dann die deutsche Kritik."
Archiv: Medien