9punkt - Die Debattenrundschau

Diskurs und Realität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.03.2020. China weist die Reporter der New York Times, der Washington Post und des Wall Street Journal aus - die Zeitungen protestieren. Auch wenn die Bundesregierung es gerne wollte: Auch in Zeiten des Cornoavirus können die Medien nicht ihr Sprachrohr sein, warnt Übermedien. Einen hat das Virus wenigstens schon hingerafft, freut sich Heinz Bude in der Berliner Zeitung, und das ist der Neoliberalismus. Epidemien machen nicht unbedingt frommer, bemerkt der Historiker Volker Reinhardt in der NZZ. In geschichtedergegenwart.ch untersucht die Slawistin Sylvia Sasse die Metapher der "Ansteckung" bei Tolstoi, Agamben und Zizek. Und wenigstens ein Politiker fordert im Tagesspiegel Solidarität mit Italien.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.03.2020 finden Sie hier

Europa

Es ist nur eine kurze Meldung im Tagesspiegel, aber eine wichtige, finden wir. Hier denkt jemand auch in der Krise noch europäisch: "Der Arzt und Gesundheitspolitiker Peter Liese (CDU) hat gefordert, dass Deutschland und andere Nachbarstaaten Italien Corona-Patienten abnehmen oder mit medizinischem Gerät aushelfen. Bislang sei jedes Land nur mit sich selbst beschäftigt, auch wenn es den Höhepunkt der Corona-Krise noch nicht erreicht habe, sagte der Europaabgeordnete im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). 'Ich hielte es für richtig, solidarischer zu sein.'"

Die Bundesregierung will gegen "Fake News" einschreiten, dabei hat sie selbst (wohl wissentlich) Fake News verbreitet - nämlich die Fake News, man plane keine weiteren drakonischen Maßnahmen vor Samstag, die schon ein paar Tage später durch eben diese Maßnahmen dementiert wurde, schreibt Andrej Reisin bei den Übermedien. Die Medien könnten sich trotz der Notlage und trotz der notwendigen Vermeidung von Spekulationen und Übertreibungen nicht zu Sprachrohren der Regierung machen lassen: "Es fehlt zum Beispiel eine breite Diskussion der Frage, warum Südkorea das Virus erfolgreich bekämpfen konnte, den Shutdown des öffentlichen Lebens aber weitgehend vermieden hat. Südkorea setzte auf Massentests in extra eingerichteten Drive-Through-Testcentern, auf Social Distancing und auf radikale Transparenz, unter anderem durch eine App, die den Aufenthaltsort von Infizierten kennzeichnet. Die Washington Post wertet diese Maßnahmen nach detaillierter Analyse als Vorbild für alle Demokratien im Umgang mit der Krise. Zwar wäre einiges mit dem deutschen Datenschutz unvereinbar, aber gerade deshalb wäre die Diskussion wichtig."

Wenn so viele Menschen krank werden, dass nicht mehr alle behandelt werden können, muss das medizinische Personal unter Umständen als Arzt unschöne Entscheidungen treffen, was sehr belastend sei, erklärt der Mediziner Rainer Erlinger in der SZ. Seine Bitte: "Sollte die Situation so weit kommen, könnten von einem möglichst breiten Konsens getragene Empfehlungen oder Leitlinien hier für Entlastung sorgen."

Die Flüchtlinge an der griechischen Grenze, darunter auch besonders die Afghanen, sind Opfer der westlichen und europäischen Politik des Rückzugs, die sich Europa nun durch Abschottung vom Leibe halten will, schreibt Richard Herzinger im Perlentaucher. Leider stehen auch jene, die sich über die westliche Flüchtlingspolitik empören, für diese Politik des Rückzugs: "Diejenigen - meist links positionierten - Kräfte, die eine unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen fordern, sind oft die Ersten, die gegen militärische Interventionen zur Befriedung mörderischer Konflikte oder zur Verhinderung von Genoziden Sturm laufen. Aber auch andere Formen westlicher Einflussnahme, etwa mittels Sanktionen, werden von ihnen schnell als 'imperialistische Einmischung' denunziert."
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Medien

China weist die Journalisten der New York Times, der Washington Post und des Wall Street Journal aus, meldet unter anderem Meedia in einem dpa-Ticker. Die Journalisten sollen ihre Pressekarten binnen zehn Tagen abgeben. Das amerikanische Außenministerium und die Zeitungen protestieren scharf: "Das Wall Street Journal sprach von einem 'Angriff auf die Pressefreiheit', der zur Zeit einer globalen Krise passiere. Chefredakteur Matt Murray erklärte: 'Vertrauenswürdige Nachrichten aus und über China waren nie wichtiger.' Auch der Chef der Washington Post, Marty Barron, erklärte, Chinas Vorgehen im gegenwärtigen Kontext werde 'die Lage nur verschlimmern'."

China reagiert mit der Maßnahme auf eine Begrenzung der Zahl der Mitarbeiter von chinesischen Staatsmedien in den USA durch die Trump-Regierung, erläutert die New York Times in einem Editoral. Aber die Redaktion der Times stimmt in diesem Fall Außenminister Mike Pompeo zu, der sagte, man könne nicht Äpfel mit Birnen vergleichen: "Auch wenn westliche Medien aufgrund gegenseitiger Abkommen in einem autoritär regierten Land arbeiten, kann man diese Medien nicht mit Organisationen der kommunistischen Regimes vergleichen, weder in der alten Sowjetunion noch im heutigen China."
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Überwachung

Die Telekom gibt Handydaten an das Robert-Koch-Institut weiter, berichtet Michael Linden bei golem.de. Es handele sich allerdings um komplett anonymisierte Daten, die Bewegungsprofile ermöglichen sollen: "Die Daten liefern Informationen, wann ein Handy eine Verbindung aufbaute, und welcher Mobilfunkmast dafür verantwortlich war. Solche Daten verkaufte die Telekom anonymisiert bereits über ihr Startup Motionlogic, weil Bewegungsströme unter anderem für die Städteplanung nützlich sind. Die notwendigen Anonymisierungsmaßnahmen sind dem Unternehmen zufolge mit den Datenschutzbehörden abgestimmt."

Nicht überall scheint allerdings ein solcher Datenschutz zu herrschen, wie Tanja Tricarico in einem taz-Kommentar anmerkt: "Weil es so einfach ist, kommt die flächendeckende Speicherung und Auswertung privater Daten ins Spiel. China, Südkorea oder Israel machen es derzeit vor, indem sie positiv Getestete per Handy orten und ihre Bewegung im öffentlichen Raum sichtbar machen. Zweifelhaft ist allerdings, wie sinnhaft eine solche Auswertung ist."
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Ideen

Die Slawistin Sylvia Sasse reagiert in geschichtedergegenwart.ch mit einem Text über die "Tolstoi und die Ansteckung" hochkomplex (und leider nicht immer ganz nachvollziehabar) auf eine Intervention Giorgio Agambens zur Corona-Krise und auf eine Antwort Slavoj Zizeks darauf. Giorgio Agamben hat in einer Kolumne für die Zeitschrift Quodlibet von der "Erfindung einer Epidemie" gesprochen, die im Grunde nur darauf aus sei, den Ausnahmezustand herzustellen. Slavoj Zizek wirft Agamben in der NZZ vom 13. März mit einsichtigen Argumenten vor, dass er hier Diskurs und Realität verwechselt und kommt dann auf die Metapher der "Ansteckung" bei Tolstoi zu sprechen, womit er Sasses Widerspruch erregt. Der Mensch sei eben nicht autonom, schließt Zizek. Und hier wirft Sasse ein, dass Zizek fast den selben Fehler macht wie Agamben: "Banal gesagt, die komplexen physischen Prozesse einer Ansteckung mit Corona werden wir nicht mit Konzepten geistiger Ansteckung interpretieren können, das könnte schlimmstenfalls selbst die physische Ansteckung befördern."

Die Corona-Krise verläuft nicht wie andere Pandemien in früheren Jahrhunderten, meint in der NZZ der Historiker Volker Reinhardt. Vergleichen könne man aber dennoch mit Gewinn: schon um zu sehen, was seitdem besser geworden sei. Diejenigen, die jetzt davon träumen, die einschränkenden Maßnahmen nach dem Ende der Epidemie für die Umwelt einfach weiterlaufen zu lassen, erinnert Reinhardt daran, dass die Menschen nach der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts nicht frommer wurden. Im Gegenteil: "Ein Menschenalter nach der ersten großen Epidemie meißelt Donatello seinen David und den heiligen Georg, malt Masaccio die ersten dreidimensionalen Fresken. Das waren Werke, die den Menschen in einer ganz neuen Größe, Würde und Unverwechselbarkeit zeigen ... Mit anderen Worten: Die künstlerische und intellektuelle Elite münzte die Epidemie in einen Hymnus auf das Leben und den Lebensgenuss um."

Na bitte, der Neoliberalismus ist in Zeiten von Corona am Ende, statt dessen ist Solidarität gefragt, triumphiert der Soziologe Heinz Bude im Gespräch mit der Berliner Zeitung: "Wir erleben gerade den Schlussstrich unter einer Periode, in der der starke Einzelne gerühmt, der Staat belächelt und an die vernetzte Welt geglaubt wurde. Die Bewusstsein einer relativ klassenindifferenten Vulnerabilität, also Verletzlichkeit, belebt die Suche nach neuen Formen der Solidarität, die Anerkenntnis der Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft ernüchtert den fröhlichen Geist zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, und die Einsicht in die dunklen Seiten der Vernetzung stärkt den Bedarf nach den kleinen Lebenskreisen, in denen man sich wechselseitig hilft und aufeinander achtet. ... Das Pendel wird von der Seite der Freiheit zur Seite des Schutzes schwingen."
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Internet

Und wo wären wir jetzt ohne Internet, fragt in der Welt Dagmar Rosenfelder all die sonst omnipräsenten Internetkritiker, die jetzt sehr still geworden sind: "Die Beschränkungen, zu denen das Virus uns zwingt, als Chance zu sehen, von dem Höher-schneller-weiter runterzukommen, dem die Gesellschaft verfallen sei, ist dumm. In Deutschland zeigt sich gerade jetzt, dass es gar nicht zu hoch, zu schnell, zu weit gehen kann. In der Digitalisierung zum Beispiel ist das Land weder effizient noch ambitioniert gewesen. Nun, wo alle, deren Beruf es zulässt, von zu Hause arbeiten, sämtliche Schulen geschlossen sind und Unterricht nur noch online stattfinden kann, macht sich das bemerkbar."

In der NZZ schlägt Tobias Sedlmaier vor, die Corona-Krise auch als Chance für Veränderungen im Kulturmarkt zu begreifen. Kulturereignisse würde inzwischen viel zu schematisch und formelhaft durchgeführt: "Warum nicht mehr Autoren auf Youtube vorlesen lassen? ... Warum nicht mehr Filme von Filmfesten streamen und anschließend via Skype-Call gemeinsam diskutieren lassen?"
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