9punkt - Die Debattenrundschau

Neue Normalität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.03.2020. Notmaßnahmen sind in der Corona-Krise notwendig. Aber sie sollten provisorisch bleiben, warnt Soziologe Richard Sennett im Tagesspiegel - die Krise darf nicht zum Ausbau von Machtpositionen genutzt werden. In vielen Branchen, auch in der Kultur wird deutlich, wie existenziell die Corona-Krise auch wirtschaftlich ist - die Zeitungen berichten ausführlich. Zugleich ist die Corona-Krise auch ein Krieg der Propaganda gegen die Information. Während China investigative Journalisten ausweist, wehren sich chinesische Internetnutzer mit subversiven Tricks.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 19.03.2020 finden Sie hier

Politik

Schwerpunkt Corona-Krise: Die Information und der Propagandakrieg

Tun deutsche Zeitungen das eigentlich auch? Die New York Times macht ihre Berichterstattung über die Corona-Krise online frei zugänglich: "Wir bieten freien Zugang zu den wichtigsten Nachrichten und nützliche Hinweise zum Ausbruch des Coronavirus, um den Lesern das Verständnis der Pandemie zu erleichtern." Auf dieser Seite können sich Leser registrieren.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wandte sich in ihrer gestrigen Ansprache noch an den Gemeinschaftssinn der Bürger, ließ aber durchblicken, dass auch härtere Maßnahmen wie eine Ausgangssperre möglich seien. Nicht nur in Ländern wie China könnte die Notsituation dazu genutzt werden, dass die Versammlungsfreiheit dauerhaft eingeschränkt bleibt, sagt der Soziologe Richard Sennett im Gespräch mit Christiane Peitz (Tagesspiegel). Auch in den angelsächsischen Ländern könnten Maßnahmen wie mehr Überwachung über die Krise hinaus ausgeweitet werden, befürchtet er: "Die Situation erinnert mich an 9/11 und die Folgen. Auch da wurde das Versammlungsrecht in den USA eingeschränkt - und viele Beschränkungen wurden weit über die Zeit der unmittelbaren Gefahr hinaus aufrechterhalten. Das geht mir in diesen Tagen am meisten durch den Kopf: Wir müssen wachsam sein und jedem Versuch mit Misstrauen begegnen, der die Maßnahmen zur Eindämmung der Krise nutzt, um Machtpositionen auszubauen und zu verfestigen. Darin sehe ich die größte politische Gefahr von Corona. Der Ausnahmezustand darf nicht zur neuen Normalität werden."

China weist die Korrespondenten der führenden amerikanischen Tageszeitungen aus - insgesamt 13 Journalisten (unser Resümee). Für die Weltöffentlichkeit in Zeiten der Corona-Krise ist das fatal, meint Fabian Kretschmer in der taz: "Die großen amerikanischen Tageszeitungen zählen zu den wenigen Medien, die in China Büros mit ausreichend Journalisten für investigative Recherchen unterhalten. Gerade in den nächsten Monaten wäre ihre kritische Berichterstattung unerlässlich gewesen, etwa wenn es um die Rolle der Behörden und der Regierung beim Vertuschen des Virusausbruchs geht. Gleichzeitig nämlich startet China derzeit eine massive Propagandakampagne - sowohl an seine Bevölkerung als auch international -, um seinen Kampf gegen das Virus einzig als eine heroische Heldengeschichte darzustellen."

In der FAZ erzählt der in Deutschland lebende Student Miechell Yang (Name geändert), wie chinesische Internetnutzer ein Interview mit einer Ärztin aus Wuhan zirkulieren ließen, das die Vertuschungspolitik der chinesischen Regierung dokumentiert - die chinesischen Behörden hatten es natürlich zensiert: "In Windeseile stellten chinesische Nutzer das Interview in Sprachen und Verfremdungen von neuem ins Netz, um es so vor der Zensur zu retten. So tauchte es plötzlich nicht nur in den früher in ganz China gebräuchlichen Langzeichen auf, sondern auch in mehr als dreitausend Jahre alter Orakelknochenschrift sowie in den Umschriften aller möglichen chinesischen Dialekte auf. Es wurde ins Englische, Deutsche, Französische, Italienische, Japanische, Vietnamesische, Niederländische, Althebräische und sogar ins Klingonische übersetzt." Mehr zu diesem Thema in Buzzfeednews.com und hier bei quartz.com. Hier ein Link zur englischen Übersetzung.

Staatliche und staatsnahe russische Medien verbreiten Desinformationen über die Corona-Krise, berichtet Jennifer Rankin im Guardian unter Bezug auf einen Geheimbericht der EU zum Thema: "Anstatt selbst Desinformationen zu erfinden, verstärkten russische Quellen Theorien, die aus anderen Ländern wie China, dem Iran oder der extremen Rechten der USA stammten, so die Forscher. 'Mit dieser Taktik vermeiden sie den Vorwurf, selbst Desinformationen zu erstellen, und können stattdessen behaupten, dass sie lediglich über das berichten, was andere sagen', hieß es in dem Bericht." Auch Reuters berichtet.

Plötzlich redet in Italien niemand mehr von der "Rückeroberung der nationalen Souveränität", notiert der Philosoph Maurizio Ferraris in seiner Turiner Wohnung: "Dieselben, die bis vor kurzem dazu aufgefordert haben, die Migranten aus dem Land zu werfen, beklagen sich nun darüber, dass die Italiener wie Pestkranke behandelt werden. So ändern sich die Zeiten. In Wahrheit wollten die Souveränitätsapostel nicht die Souveränität, sondern bloß ihre (vermeintlichen) Privilegien sichern. Damit erweist sich der 'Sovranismo' (wie wir in Italien sagen) als das, was er eigentlich ist: Egoismus."

Weiteres: Viele Migranten der älteren Generation sprechen kaum Deutsch und können sich über die Maßnahmen gegen Corona in Deutschland kaum informieren, schreibt Cigdem Toprak in der Welt: "Wie vernetzt sind wir Menschen aus den migrantischen Communitys mit den Behörden, mit den Medien und mit der Mehrheitsgesellschaft? Diese Frage stellt sich mehr denn je in dieser Krise. Ich frage mich beispielsweise auch, ob die Behörden nicht nur Bars und Diskotheken im Blick haben, wenn sie Massenveranstaltungen absagen, sondern auch türkische, arabische und kurdische Hochzeitsäle?" Im FR-Interview mit Katja Thorwarth hält der Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery nicht viel von Ausgangssperren: "Gibt's jetzt Knöllchen von der Polizei fürs Spazierengehen? (...) Was wird denn in 30 Tagen so fundamental anders sein, dass man auf sie verzichten kann?"

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Der amerikanische Rückzug aus Afghanistan ist mehr oder weniger eine Kapitulation. Die ersten Opfer werden die Frauen sein, meint taz-Redakteur Sven Hansen. Aber auch vorher sei die westliche Intervention nicht bereit gewesen, "für afghanische Frauen einen Konflikt mit Warlords in- und außerhalb der Regierung zu riskieren. Vielmehr wurden Frauenrrechte nur als 'nice to have', also als notfalls zu opferndes Beiwerk behandelt. USA und Nato zogen in den Krieg, um den islamistischen Terrorismus zu bekämpfen - nicht für die postulierte Befreiung afghanischer Frauen von islamistischen Männern und archaischen und frauenverachtenden Traditionen." Mehr zum Rückzug aus Afghanistan in Richard Herzingers jünster Intervention für den Perlentaucher.
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Geschichte

Für die FR schreibt Arno Widmann eine kleine Kulturgeschichte der Seuchen: Er erinnert unter anderem an den die Pocken auslösenden Variolavirus, der in der Weltgeschichte immer wieder ganze Bevölkerungen auslöschte: "Nicht mit ihren überlegenen Kriegstechniken und Waffen rotteten die Spanier - so lauten manche natürlich mit größter Vorsicht zu betrachtende Schätzungen - bis zu 90 Prozent der Bevölkerung Lateinamerikas aus, sondern mit ihrem Verbündeten, dem Variolavirus, dem die Immunsysteme der Indianer nichts entgegenzusetzen hatten. Als die Eroberer das merkten, verschenkten sie verseuchte Wolldecken. Sie setzten sie, lange bevor es das Wort gab, als biologische Waffen ein."
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Europa

Wir haben keine Weimarer Verhältnisse, hält der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse in der NZZ fest: Die Linke und die AfD verfügen nicht mal ansatzweise über das "antidemokratische Potenzial" von KPD und NSDAP, behauptet er. Vielmehr sei unser Demokratieverständnis von "bräsigem Konsensdenken" geprägt: "Deutschland benötigt ernsthafte Diskussionen über Herausforderungen, die Bürger bewegen. Verschwörungstheorien ist so leichter der Boden zu entziehen. Eine einschüchternde Kultur des Verdachts kehrt Probleme unter den Tisch, ohne dass sie deswegen verschwinden. Mehr Konflikte, sofern sie nicht Ressentiments schüren, nützen der Demokratie."

Wo viele Nicht-EU-Ausländer leben, bleiben die Wahlergebnisse rechter Parteien eher "unterdurchschnittlich", schreibt der Politologe Oliviero Angeli in der Welt: "Vermutlich auch, weil Kontakte mit Ausländern Vorurteile abbauen. Dagegen schneidet die AfD vor allem in ethnisch homogenen Städten und Landkreisen gut ab, die in Deutschland vor allem im Osten des Landes zu finden sind. Zugleich hat die jüngste Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie auch einen anderen interessanten Zusammenhang aufgezeigt: Ein abrupter und starker Anstieg des Ausländeranteils - wie etwa nach 2015 - kommt der AfD durchaus zugute, und zwar vor allem dort, wo zuvor nur wenige Ausländer lebten."
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Medien

In Zeiten der Krise werden die Medien nicht müde zu betonen, wie toll es ist, dass man sich bei ihnen seriös informieren kann. Aber Georg Diez ist in dem Blog Ping eher skeptisch - etwa mit Blick auf die Kommunikation des Virologen Christian Drosten: "Auch Drosten kommuniziert sehr viel und sehr effektiv über Twitter, die Zahl seiner Follower ist explodiert, und für alle, die sich über den aktuellen Stand der Corona-Situation in Deutschland informieren wollen, macht es absolut keinen Sinn, darauf zu warten, was Journalist*innen vermelden, wenn sie sich direkt und dauernd bei Drosten den neusten Nachrichtenstand holen können. Bei ihm ist eine Verlässlichkeit und ein Vertrauen gegeben, das den traditionellen Medien, manchmal aus gutem Grund, inzwischen abgeht."
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Kulturpolitik

Für viele Branchen bedeutet die Corona-Krise einen Einnahmeausfall, der ihre Existenz in Frage stellt. Im VAN Magazin beschreibt Hannah Schmidt die Lage für Musiker: "Die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) hat vergangenen Freitag einen 'Leitfaden für Freischaffende' veröffentlicht. Darin heißt es unter anderem: 'Versuchen Sie, sich auf eine Verschiebung des Veranstaltungstermins zu einigen' und, falls das nicht gehe, 'vertraglich vereinbarte Ausfallhonorare geltend' zu machen oder 'diese nachträglich mit dem Veranstalter auf Kulanzbasis zu vereinbaren.' Das Problem: Häufig gibt es gar keine Verträge, in denen so eine Klausel stehen könnte, und falls doch, befinden sich viele Freie gar nicht in der Position, diese Verträge mit auszuhandeln."

Für die FAZ unterhält sich Thomas Schmoll mit der Konzertagentin Jutta Adler, die Kulturministerin Monika Grütters und den Berliner Kultursenator Klaus Lederer scharf kritisiert: "Wir haben vergangene Woche aus den Medien von den Absagen gehört. Das Orchestre National du Capitole de Toulouse wandte sich sofort an uns mit der Bitte, eine offizielle Absage des Senats vorzulegen, damit das Management in Frankreich gebuchte Flugtickets und Hotels stornieren kann... Wir haben an Kulturstaatsministerin Grütters und an Berlins Kultursenator Lederer geschrieben und die Lage erklärt. Immerhin bestätigten sie den Eingang. Mehr kam aber nicht."

Auch Sascha Lobo geht in einer Wutrede über eine jetzt grassierende "Vernunftpanik" bei Spiegel online auf die Lage der Freien ein - und erwähnt dankenswerter Weise, dass das Problem keineswegs nur die kulturelle oder Mediensphäre betrifft: "Es rächt sich, dass noch immer die deutschen Sozialsysteme auf die Festanstellung als Maß aller Dinge ausgerichtet sind. Nur leider rächt es sich faktisch nicht bei den Verantwortlichen, sondern bei den Solo-Selbstständigen, die von Veranstaltungen, Kunst, Kultur, Gastronomie und Arbeit in einer Vielzahl anderer, temporär stillgelegter Branchen leben. Nicht alle werden die Coronakrise überleben, das gilt auf bitterste Weise physisch wie wirtschaftlich." Nebenbei staunt Lobo, "wie schnell sogar sich als liberal bezeichnende Leute bereit sind, ausnahmslos jede Grundrechtseinschränkung klaglos hinzunehmen, wenn sie bloß glauben, es diene der größeren Sache".

Auch die Nachtkritik alarmiert: "Die Corona-Krise bringt die freie Kulturberichterstattung genauso in Not wie die freien Künstler*innen. Uns bricht derzeit mehr als die Hälfte unserer Einkünfte weg." In der Berliner Zeitung berichtet Annika Leister, dass der Berliner Senat unbürokratische Hilfe leisten wolle: 15.000 Euro pro Solo-Selbständigen.

Buchhandlungen sind weitgehend geschlossen, Klopapier hat Bücher bei Amazon als wichtigste Warengruppe abgelöst, Verlage schieben Titel auf, die im April erscheinen sollten, berichtet Felix Stephan in der SZ und befürchtet, dass sich die Krise vor allem auf kleine Buchhandlungen auswirken wird: "Die großen Buchhandelsketten könnten die insolventen unabhängigen Buchläden ohne größere Widerstände schlucken, ihre Vertriebsmacht gegenüber den Verlagen auf diese Weise weiter stärken, deren Margen weiter drücken".

Weitere Artikel: Für die SZ hat sich Peter Laudenbach in der freien Theaterszene umgehört, viele freie Bühnen fürchten um ihre Existenz und auch die Solidarität der Stadttheater mit ihren freien Mitarbeitern ist begrenzt, erfährt er: "Ein großes, hoch subventioniertes Stadttheater in Nordrhein-Westfalen beispielsweise wollte Gastschauspielern für Vorstellungen, die wegen der Schließung der Bühnen abgesagt wurden, nur die Hälfte der vertraglich vereinbarten Gage bezahlen." Ebenfalls in der SZ macht Catrin Lorch auf die Situation von in Berlin lebenden, ausländischen Künstlern aufmerksam: "Wer nicht aus Europa stammt, sondern beispielsweise aus Neuseeland oder Ghana, muss für die Aufenthaltserlaubnis ein Einkommen nachweisen". Michael Stallknecht schreibt zur Situation freier Musiker.
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