9punkt - Die Debattenrundschau

Wie der Dieb in der Nacht

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2020. Im historischen Kontext von Pest-Epidemien und anderen Seuchen geht es uns mit dem Corona-Virus noch gut, meint der Kulturwissenschaftler Thomas Macho im Gespräch mit den Van Magazin. Er erlebt zum ersten Mal Geschichte, schreibt Szczepan Twardoch in der Welt, alles vorher waren nur Ereignisse. Die Bundesregierung sollte ihr Handeln von Forschung begleiten lassen, mahnt die taz. Und wenigstens eine verdient bei alle dem kostenlosen Streaming, notiert die Berliner Zeitung: die Gema.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.03.2020 finden Sie hier

Wissenschaft

Heute ist der Tag, an dem die Corona-Fallzahlen in den USA die Hunderttausender-Marke überschritten haben (amerikanisches Blut klebe an den Händen Donald Trumps, schreibt Jonathan Freedland im Guardian) und an dem Angela Merkels Kanzleramtschef laut Tagesspiegel ankündigt, dass alle geltenden Coronavirus-Maßnahmen bis zum 20. April bestehen bleiben.

Um zu beurteilen, ob die Regierung mit ihren Maßnahmen richtig gehandelt hat, brauchen wir begleitende Forschung, die die Regierung nur langsam (unser Resümee) zu akzeptieren scheint, schreibt Heike Haarhoff in der taz: "Diese Daten werden nicht nur benötigt, um festzustellen, wie wirksam etwa Schulschließungen überhaupt sind, sondern auch, wann ein guter Zeitpunkt wäre, sie zu beenden. Ähnlich zaghaft setzt sich die Einsicht durch, die Bewertung der Konsequenzen des öffentlichen Handelns im Kampf gegen Corona nicht ausschließlich der (unbestritten! ungeheuer! klugen!) virologischen Expertenwelt zu überlassen, sondern die Perspektive zu weiten und hieran auch Sozial- und Geisteswissenschaftler, Ökonomen und Juristen zu beteiligen."

Der Virologe Alexander Kekulé, der sich in der NZZ, moderiert von Hansjörg Müller, mit dem Wirtschaftswissenschafter Jens Südekum unterhält, kritisiert, dass sich die Politik zu stark von der Wissenschaft abhängig mache: "Wir agieren in Deutschland eigentlich gar nicht mehr politisch, sondern hängen am Faden der Wissenschaft. Ich glaube, es ist falsch, dass dieses sehr komplexe, vielschichtige Problem beinahe ausschließlich aus der Perspektive der Virologie betrachtet wird. Die Sicht der Virologen kann immer nur ein Aspekt von vielen sein." (Ist es nicht ein bisschen zu früh, die medizinischen Experten zur Seite zu schieben?)

Einen Schnelltest für das Coronavirus zu entwickeln, ist alles andere als banal, wie man in einem Heise-Artikel von Andreas Stiller nachlesen kann, eine lohnende Lektüre, auch wenn man als Laie immer mal wieder aussteigt. Ein Auszug: "Da mit dem PCR-Verfahren nur DNA vervielfältigt werden kann, ist für den Nachweis von Viren mit RNA-basiertem Erbgut (dazu gehört auch SARS-CoV-2) zuvor eine Umwandlung von RNA in die entsprechende DNA notwendig. Das wird durch ein Enzym namens Reverse Transkriptase (RT) bewerkstelligt. Das Verfahren, kurz RT-PCR genannt, ist sehr anspruchsvoll."
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Ideen

Im historischen Vergleich mit Pest-Epidemien und anderen Seuchen geht es uns mit dem Corona-Virus noch gut, meint der Kulturwissenschaftler Thomas Macho im Gespräch mit dem Van Magazin: "Wir sind schon ungeheuer schnell. Als 1918 die 'Spanische Grippe' durch die noch vom Ersten Weltkrieg erschöpften Länder Europas zog, starben wohl innerhalb von zwei Jahren bis zu 50 Millionen Menschen. Und man wusste damals eben nicht, dass Grippe sich viral entwickelt. Man fahndete nach allen möglichen Bakterien - kannte aber noch nicht die Dynamik von Viren! Das war eine vollkommen andere Situation. Die 'Spanische Grippe' ist tatsächlich so etwas wie ein kollektives Trauma, das erst 2018 - also exakt einhundert Jahre danach - genauer wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Historiker*innen hatten bis dahin erstaunlich wenig darüber geforscht."

Er ist vierzig Jahre alt und hat bisher noch nicht Geschichte erlebt, nur Ereignisse, schreibt der polnische Autor Szczepan Twardoch ("Der Boxer") in der Literarischen Welt. Die Geschichte breche ein in Form einer Katastrophe, die das angenehme Zeitgefüge und die Rituale, in denen wir lebten, empfindlich durcheinander bringt: "Ja, ich bin vierzig Jahre alt und war auf die Geschichte nicht vorbereitet. Lieber würde ich das Leben im archaischen Zyklus des sich erneuernden Jahres verbringen, in der Welt der kapitalistischen Rituale der Postmoderne, doch die Geschichte kommt immer wie der Dieb in der Nacht, sie trifft uns immer unvorbereitet." Ebernfalls in der Literarischen Welt empfiehlt Sahra Wagenknecht das neue Buch von Thomas Piketty (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Andrian Kreye feiert den Wohltäter Bill Gates in der SZ als Visionär, der schon lange vor Pandemien gewarnt habe: "Bill Gates' Fähigkeit, als einer der wichtigsten Architekten der digitalen Welt in Netzwerken zu denken, ist sein offensichtlichster intellektueller Vorteil. Für Pandemieforscher ist ein Ausbruch zunächst einmal ein Netzwerk, dessen Eigenschaften sie so schnell wie möglich festlegen müssen." Dagegen könnte man natürlich einwenden, dass Gates alles andere als der Erfinder des Netzes ist - und dass seine Software besonders gern von Viren heimgesucht wird.
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Medien

Die Rundfunkräte der öffentlich-rechtlichen Sender sollten um einiges transparenter werden, meint der Medienwissenschaftler Leonhard Dobusch, der selbst im Fernsehrat des ZDF sitzt und schließt sich in Netzpolitik einem Papier des DGB (hier als PDF-Dokument) zum Thema an. Das trifft besonders auch den Bereich der Beteiligungen von Sendern an privatwirtschaftlichen Betrieben: "Obwohl Unternehmen wie ZDF Enterprises oder ZDF Digital zunehmend wichtiger für die Angebote öffentlich-rechtlicher Anstalten werden, spielen sie im Alltag der Rundfunkaufsicht kaum eine Rolle. Damit zusammen hängt auch mangelnde Transparenz bei Tarifstrukturen, die nicht alle Beteiligungen in gleicher Weise erfasst."

Auch in amerikanischen Medien wird die Corona-Krise spürbar - erste Journalisten werden entlassen, Free Lancer stehen ohne Krankenversicherung da, berichtet Kerry Flynn in CNN Business.
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Kulturmarkt

Isabella Caldart hatte für 54books über die boomende Independent-Buchhändlerszene in Amerika und besonders New York schreiben wollen - nun muss sie darüber schreiben, dass diese Szene tot ist: "Dass die USA in jeder Hinsicht instabilere Sozialsysteme haben, wissen wir. Und so kam es, wie es kommen musste; die Buchhandlungen, die wegen Corona schließen mussten, entließen von einem Tag auf den nächsten reihenweise ihre Mitarbeiter*innen, es blieb ihnen gar nichts anderes übrig. Schrecklich für die Entlassenen, die zumeist nur bis zum Ende der jeweiligen Woche bezahlt werden."

Im Welt-Gespräch mit Richard Kämmerlings äußert sich Klett-Cotta-Verleger Tom Kraushaar noch recht gelassen über die Lage: "Solange die Buchhandlungen geschlossen bleiben, wird es sicherlich ein schwieriges Geschäft, Bücher zu verkaufen, aber für den Herbst planen wir normal weiter. Natürlich müssen wir die Situation beobachten und nötigenfalls reagieren."

Wenn jemand kostenlos ein Konzert auf seiner eigenen Website streamt, um dem Corona-geschädigte Publikum etwas Gutes zu tun, sollte er mit der Gema rechnen, falls Komponisten oder Texter sich von ihr vertreten lassen, berichtet Birgit Walter in der Berliner Zeitung. Die Gema vertritt zwar einerseits Urheber, aber eine sympathische Veranstaltung ist sie deshalb nicht: "Die Gema bevorzugt in der Verteilung ganz einseitig die Spitzenverdiener unter den Mitgliedern. Schlimmer, das System ist so aufgebaut, dass auch nur diese 6.000 ordentlichen Mitglieder über die Ausschüttungen an die insgesamt 78.000 Gema-Mitglieder entscheiden können, also auch über den strittigen Verteilungsschlüssel. Oder über die exorbitanten Ausgaben für die Verwaltung. Die Gema-Einnahmen stiegen im letzten Jahrzehnt von gut 800 Millionen auf über eine Milliarde Euro, davon fließen 150 Millionen in die Verwaltung."
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Europa

Ingo Arzt hat für die taz mit einigen Ökonomen gesprochen, die Deutschland in der Krise unsolidarisch nennen, weil es keine Eurobonds will, die es etwa Italien ermöglichen würden, Schulden zu niedrigeren Zinsen aufzunehmen: "Während Deutschland 600 Milliarden Euro an Krediten, Hilfen und Bürgschaften für Unternehmen und 156 Milliarden Euro Neuverschuldung für sonstige Maßnahmen, etwa für Freiberufler und das Gesundheitssystem mobilisiert, sind es in Italien gerade mal 24 Milliarden", denn Italien ist hochhverschuldet: "Nicht umsonst steht auch die EZB hinter gemeinsamen Schulden der Eurostaaten - und je länger die Krise andauert, desto unausweichlicher könnten sie werden." Mehr zu diesem Thema auch bei politico.eu.
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