9punkt - Die Debattenrundschau

Deutlich mehr Toilettenpapier

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2020. Wenn Solidarität ausbleibt, wäre es das Ende der EU, schreibt die in Italien lebende Schriftstellerin Helena Janeczek in der SZ. Immerhin scheint sich in der EU einiges zu regen, notiert die taz. In Zeit online erläutert der Staatsrechtler Tonio Walter das kaum zu lösende Dilemma der "Triage". Laut Guardian fürchten in Ungarn Journalisten, die zu Corona recherchieren, ins Gefängnis gesteckt zu werden.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2020 finden Sie hier

Wissenschaft

Heute ist der Tag, an dem die Zahl der bestätigten Corona-Infektionen auf über eine Million gestiegen ist (hier die berühmte Weltkarte der Johns-Hopkins-Universität). Für Deutschland werden 84.000 Fälle gemeldet. Die Maßnahmen gegen die Krise nähern sich noch keineswegs dem Ende, mahnt Gereon Asmuth in der taz: "Es stimmt, das große Ziel, die Kurve flachzuhalten, wurde erreicht. Doch weil sie anfangs extrem steil war, ist sie trotz aller Fortschritte bei Weitem noch nicht flach genug. Es stimmt auch, dass niemand genau sagen kann, wie viele Infizierte es tatsächlich gibt. Das Problem ist nur: Experten gehen davon aus, dass die reale Fallzahl sogar drei- bis zehnmal höher ist."

(Via turi2) Einen interessanten Blick auf die Statistiken zu Corona wirft der Daten-Analytiker und Medienjournalist Jens Schröder in seinem Blog. Die bestätigten Infektionszahlen in den einzelnen Ländern lassen sich kaum vergleichen, so Schröder, weil in den Ländern unterschiedlich intensiv getestet wird (so liegen in Portugal 8,8 Prozent der Getesteten im Krankenhaus, in Spanien fast 50 Prozent, was heißt, dass in Portugal wesentlich mehr getestet wird). Schröder schlägt vor, für ein objektiveres Bild der Lage die Patienten auf Intensivstationen zu zählen: "hier gibt es keine Dunkelziffer. Wenn jemand so krank ist, dass er auf eine Intensivstation muss, dann wird er auch dort landen. Zumindest so lang, wie die Stationen nicht überlastet sind. Die Dunkelziffer von schwer Erkrankten wird also klein oder sehr klein sein." In Deutschland werden diese Zahlen hier gepflegt - und geben laut Schröder immer noch ein sehr beruhigendes Bild.
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Politik

Im Tagesspiegel spielt der Zukunftsforscher Daniel Dettling zwei Szenarien für die Zeit nach der Pandemie durch. Entweder steht uns das Ende der Globalisierung und ein Neo-Nationalismus bevor, fürchtet er. Im Bestfall erwarte uns eine "Glokalisierung": "Eine neue Synthese zwischen Staat und Markt, nationaler und lokaler Ebene entsteht. Die Soziale Marktwirtschaft erlebt ein Revival und erweitert sich zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Globalisierung wird zur Glokalisierung. Dieser aus den Worten 'lokal' und 'Globalisierung' zusammengesetzte Begriff meint die Verbindung von der Globalisierung von Arbeit, Wirtschaft und Lebensstil bei zunehmender Rückbesinnung auf regionale und lokale Traditionen, Werte und Eigenarten. Märkte und Wertschöpfungsketten werden autonomer und regionaler, gleichzeitig kooperieren die Staaten untereinander stärker in Fragen der Gesundheit und des Klimaschutzes. Saubere Luft und weniger Treibhausemissionen reduzieren Viren und Epidemien." Und auch der Impfstoff gegen Corona wird nur mit einer globalen Anstrengung schnell gefunden werden.

"In diesen Tagen kann Afrika wie in Zeitlupe dabei zusehen, wie die Gesundheitssysteme von Ländern zusammenbrechen, die immer als das Paradies galten", schreibt Bernd Dörries ebenfalls in der SZ: "Dort, in den Industrienationen ließen sich ihre korrupten Präsidenten gerne behandeln, nachdem sie die Krankenhäuser in der Heimat zugrunde gerichtet hatten. Es sind Tage und Wochen, in denen Millionen Afrikaner Zeit haben, sich zu überlegen, wie schlimm es denn kommen könnte. Der Virologe Christian Drosten warnt, bald werde es in ärmeren Ländern 'Szenen geben, die wir uns heute noch nicht vorstellen können'. Bill Gates geht von bis zu zehn Millionen Toten in Afrika aus."

Ohne Kommentar: Die Arbeitslosenstatistik in den USA als animiertes gif.
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Gesellschaft

"Lasst das Los entscheiden!" fordert der Staatsrechtler Tonio Walter in einem Gastbeitrag auf Zeit Online mit Blick auf das Triagieren. Den Ärzten darf man eine solche Entscheidung nicht zumuten, fährt er fort und nimmt den Staat in die Pflicht - bei Stimmengleichheit in einer Bürgermeisterwahl entscheide auch das Los: "Schon die Prämisse (ist) falsch, das Grundgesetz verbiete es, einem Leben Vorrang vor einem anderen einzuräumen. Wäre es so, dürfte es nicht erlaubt sein, einen Angreifer in Notwehr zu töten. Denn das räumt dem Leben des Angegriffenen Vorrang ein gegenüber dem des Angreifers. ... Was das Grundgesetz tatsächlich verbietet, das sind bestimmte Begründungen dafür, einem Leben Vorrang vor einem anderen einzuräumen. Klares Beispiel einer solchen verbotenen Begründung ist das Alter eines Menschen - das die medizinischen Fachgesellschaften daher verfassungsrechtlich zutreffend als Vorrangkriterium ausschließen." 

Nach einer gesellschaftlichen Phase der Ohnmacht, die durch die Politik und Aufklärung gemeistert wurde, treten wir nun ein in die Phase der Polarisierung, sagt der Psychologe Stephan Grünewald im FR-Gespräch mit Bascha Mika: "Für die Politik wird es nun sehr viel schwieriger, den Prozess zu steuern. Denn viele Menschen stellen sich die Frage: Muss das überhaupt alles sein? Sind die Maßnahmen angemessen? Wie lange soll der Zustand noch dauern? Die über alle politischen Parteien hinweg beschworene Einheit wird in den kommenden Tagen und Wochen Risse bekommen - und die im Netz kursierenden Verschwörungstheorien neue Nahrung."

Warum haben Europäer Probleme mit dem Tragen der Maske, fragt bei Zeit Online der Philosoph und Sinologe Kai Marchal mit Blick auf die Geschichte des Maskentragens in asiatischen Ländern: "Offenbar beschwört er bei vielen Menschen in Europa, nach all den Debatten um den Islam und die Verschleierung, tiefere Ängste herauf. Durch das Gesicht offenbart sich im öffentlichen Raum meine Authentizität, meine Freiheit, und die möchte ich mir nicht nehmen lassen. Doch so wird eine Maske plötzlich zum Objekt kultureller Kämpfe. In Europa und den USA sind Chinesen oder chinesisch aussehende Menschen schon körperlich angegriffen worden, weil sie einen Atemschutz getragen haben; und in Ostasien werden die Europäer jetzt für ihren verantwortungslosen, unmaskierten Individualismus moralisch gebrandmarkt."

Die Toilettenpapier-Panikkäufe waren gar keine, sondern haben eine völlig simple Erklärung (die sich sicher auch auf die leeren Nudelregale übertragen lässt), schreibt der Blogger Will Oremus in einem viel retweeteten Artikel auf Medium: "Die Toilettenpapierindustrie ist in zwei weitgehend getrennte Märkte aufgeteilt: den gewerblichen und den Verbrauchermarkt. Die Pandemie hat den Löwenanteil der Nachfrage auf letzteren verlagert. Die Menschen müssen während der Pandemie tatsächlich deutlich mehr Toilettenpapier kaufen - nicht, weil sie mehr zur Toilette gehen, sondern weil sie mehr davon zu Hause kaufen." In Amerika etwa seien drei Viertel aller Menschen zu Hause, eine völlig untypische Zahl.

Weitere Artikel: Im NZZ-Gespräch mit Marie-Joelle Eschmann sinniert der Soziologe Hartmut Rosa über die Chancen von Kontrollverlust und Entschleunigung, befürchtet zugleich aber Massenarbeitslosigkeit und eine Spaltung der Generationen.
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Überwachung

Frankreich führt eine Überwachung der Bürger per Handy ein. Wer trotz der strengen Ausgangssperre unterwegs ist, musste bisher eine Bescheinigung vorlegen. Nun muss man sich per Handy ausweisen, indem man die Genehmigung online einholt und dann einen QR-Code bekommt, den man Poilizisten vorzeigen kann. Im Interview mit dem Parisien sagt der französische Innenminister Christophe Castaner: "Dieses System soll auch Betrug bekämpfen: Man muss die Zeit angeben, zu der man das Haus verlässt, und die Zeit, zu der Sie die Genehmigung beantragt haben, ist für die Polizei einzusehen. So kann vermieden werden, dass die Bescheinigung erst vor einer Polizeikontrolle eingeholt wird. Und dank des QR-Codes müssen die Polizisten das Telefon nicht in die Hand nehmen."
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Stichwörter: Frankreich, Coronakrise

Kulturpolitik

Im Zeit-Online-Telefonat mit Tobi Müller beschwört Monika Grütters die Zusammenarbeit von Bund und Ländern, erklärt die Hilfsmaßnahmen für Kulturschaffende und glaubt an Chancen für den Buchhandel in der Krise: "Die können jetzt ihren Onlineshop ausbauen, über Telefon, Mails und soziale Medien ihre Kunden beraten und dort ihr Wissen voll ausspielen."
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Medien

Der Spiegel plant wegen der Corona-Krise und des zu erwartenden Einbruchs bei den Anzeigen Kurzarbeit, berichtet Gregory Lipinski bei Meedia. Um die Kosten zu senken, prüfen Chefredakteur Steffen Klusmann und Verlagschef Thomas Hass "aber wohl auch Arbeitsplätze abzubauen. Sie erwägen nach Meedia-Informationen, Mitarbeiter in den Vorruhestand zu schicken. Den Schritt könnten sie ihnen über geeignete Regelungen und attraktive Abfindungen schmackhaft machen, heißt es in Firmenkreisen. Eine Entscheidung hierzu ist aber nicht gefallen, da derzeit alles auf dem Prüfstand" stehe.

In Ungarn sind Notstandsverordnungen erlassen worden, die einer Diktatur ähneln. Journalisten fürchten, ins Gefängnis gesteckt oder mit Klagen in die Pleite getrieben zu werden, wenn sie zu Corona recherchieren, berichtet Shaun Walker im Guardian. Die Regierung beteuere zwar, dass sie so "Desinformation" bekämpfen wolle: "Aber die Regierung hat wenig getan, um klarzumachen, dass dies nicht auch für unabhängige Journalisten gilt, zumal sie ihnen häufig vorwirft, im Rahmen eines politischen Rachefeldzuges gegen Orbán Fehlinformationen zu verbreiten. In einer Telefonkonferenz mit ausländischen Reportern sagte Ungarns Justizministerin Judit Varga letzte Woche, die gesetzliche Regelung sei 'sowohl angemessen als auch notwendig, um böswillige Desinformationskampagnen zu bekämpfen'. Sie betonte, dass die Bestimmung für alle, auch für Journalisten, gelte."
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Europa

In den europäischen Diskussionen scheint sich etwas zu regen. Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verspricht ein europäisches Kurzarbeitergeld, das europäisch finanziert wäre und also von Coronabonds nicht so weit enfernt wäre, wie Ulrike Herrmann in der taz erläutert. Ebenfalls in der taz wehrt sich die  SPD-Politikern Katarina Barley im Gespräch mit Stefan Reinecke gegen Kritik an der EU: "Die EU hat in den entscheidenden Bereichen - Gesundheit, innere Sicherheit und Sozialversicherungssystem - keine Kompetenzen. Man kann von der EU nicht verlangen, was sie gar nicht darf, etwa Krankenversorgung zentral zu organisieren. Jene, die jetzt sagen, die EU tauge nichts, sind genau die, die sonst verhindern wollen, dass die EU mehr tun darf. Das ist bigott."

Täglich fürchtet die in Italien lebende Schriftstellerin Helena Janeczek um das Leben von Corona-Infizierten in ihrem Bekanntenkreis, wie sie in der SZ in einem sehr bewegenden Bericht schreibt. Deshalb hofft sie auf europäische Solidarität: "Natürlich haben die Menschen in Deutschland jetzt Angst um ihre Gesundheit und ihre Zukunft. Wenn aber nicht auch den Bürgern der anderen EU-Staaten signalisiert wird, und zwar sehr deutlich, dass ihr Leben und ihre Zukunft genauso wertvoll und rettungswürdig sind, wäre das, angesichts des Ausmaßes von Tod und Elend, das wir in Italien und Spanien erleben, das Ende der Europäischen Union. Wie würde die Verteidigung unseres Kontinents aussehen, sollten die Mittelmeerländer aus der EU ausscheiden und sich Russland und China anvertrauen, die in Italien bereits eine Show als Retter in der Not aufgeführt haben?"

Lange wurde die Corona-Epidemie in Russland als "Panikmache" abgetan, in der russischen Elite herrschen überwiegend "Aberglauben und Pseudowissenschaften", berichtet der russische Autor Nikolai Klimeniouk in der NZZ. Jahrelang hat Putin die Autorität der Wissenschaften untergraben, schreibt er: "Seit Jahren decken zivilgesellschaftliche Aktivisten Plagiate und unrechtmäßige Verleihungen von Doktortiteln auf. Die 2013 gegründete Initiative Dissernet listet auf ihrer Website allein 139 Direktoren und Vizedirektoren wissenschaftlicher Forschungsinstitute und 149 Rektoren von Hochschulen und Universitäten, die ihre Titel unrechtmäßig erworben haben sollen. Die sind aber nicht nur Profiteure, sondern auch Ermöglicher und Betreiber des Handels mit gefälschten Doktorarbeiten, einer Krankheit, an der alle Wissenschaftsbereiche in Russland leiden. Die Medizin ist leider keine Ausnahme."

Weitere Artikel: Europa muss auch die Maghrebstaaten unterstützen - auch im Hinblick auf eine künftige Zusammenarbeit in Migrationsfragen, schreibt Beat Stauffer in der NZZ.
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