04.04.2020. In der SZ wundert sich Juli Zeh, warum eigentlich niemand über Bewegungsfreiheit oder Schulpflicht diskutieren will. In Tel Aviv funktioniert das Prinzip Dafka nicht mehr, erzählt Sarah Stricker. Christoph Höhtker fragt in der NZZ, wer jetzt noch die Schweiz beneidet. Annie Ernaux auf France Inter und Georg Kremnitz im Standard beklagen den Rückbau der Gesundheitssysteme, der Spanien, Italien und Frankreich im Zuge der Austerität abverlangt wurde.
Europa, 04.04.2020
Der in Genf lebende
Schriftsteller Christoph Höhtker blickt für die
NZZ aus seiner Quarantäne auf Europa, und erkennt durchaus gesellschaftliche Unterschiede: "
Beispiel Schweiz: Vielfacher
Infektionsratenweltmeister,
Gesichtsmaskennotstandsgebiet, irgendetwas muss schiefgelaufen sein in den letzten Wochen, schon weit davor. Dennoch allenthalben Zufriedenheit. Bewunderung der eigenen Stärken, der Organisation, der heiteren Disziplin. Die Schweiz hätte allen Grund, den Nachbarn Österreich zu beneiden, aber nichts da. Man ist
gewohnt, beneidet zu werden. Und weil das ausnahmsweise einmal nicht geschieht, beneidet man eben sich selber. Ganz anders Frankreich. Dort streitet man sich
engagiert Richtung Mittelalter. Wallfahrten zu einem
Hippie-Professor in Marseille, einem Zauberer mit grausträhnigem Langhaar, der an Gläubige eine Wundertablette verteilt. In den Fernsehstudios dagegen Business as usual. Lebhafte Debatten. Lebhafte Nervenzusammenbrüche. Und wie immer ist die Regierung an allem schuld."
Apropos: Der
Atlas der Globalisierung übersetzt den Brief, den
Annie Ernaux via
France Inter an Präsident Emanuel Macron
richtete: "Seit Sie an der Spitze Frankreichs stehen, haben Sie den
Alarmrufen aus dem Gesundheitssektor allerdings kein Gehör geschenkt, und die Parole, die man bei einer Demonstration im letzten November auf einem Transparent lesen konnte - 'Der Staat zählt sein Geld, wir werden die Toten zählen' - hat heute einen tragischen Beiklang. Doch Sie wollten lieber auf diejenigen hören, die für einen Rückzug des Staates warben und eine Optimierung der Ressourcen, eine Regulierung der Ströme empfahlen, dieser ganze
fleischlose Technokratenjargon, der nur von der Wirklichkeit ablenken soll."
Im
Standard-Interview mit Ronald Pohl
verteidigt der Romanist
Georg Kremnitz die EU, die in der
Coronakrise kaum Kompetenzen besitzt, nicht aber die
Austeritätspolitik der vergangenen Jahre. Es sei kein Wunder, dass besonders
Italien und Spanien von der Pandemie betroffen seien: "Beide Länder wurden von der Krise 2008 stark getroffen, dabei ist viel kaputtgegangen. Danach wurden ihnen empfindliche Spar- und Privatisierungskurse aufgezwungen. Die führten zum Abbau von Strukturen - das gilt übrigens genauso für Frankreich, wo
Tausende von Spitalsbetten abgeschafft wurden ... Von 30 privaten Kliniken in Madrid zum Beispiel haben sieben geschlossen. Es sei, so die Begründung, nicht die 'richtige Klientel' erschienen. Das wirft die Frage auf, ob die Privatisierung von Strukturen, die für die Allgemeinheit vorgesehen sind, der richtige Weg sein kann. Ob man sie dem Gewinnstreben unterwerfen darf."
Politik, 04.04.2020
Die
Juristin und Autorin Juli Zeh, die in ihrem Roman
"Corpus Delicti" schon vor zehn Jahren eine Gesundheitsdikatur ausmalte, wünscht sich im
SZ-Interview mit Jan Heidtmann ein bisschen Diskussion: Warum werden die Bürger mit Schuldgefühlen unter Druck gesetzt? Wie einfach werden Grundrechte außer Kraft gesetzt? Bleiben wir bei den mildest möglichen Einschänkungen? "Immerhin kann man positiv bemerken: In Bezug auf das
Tracking gibt es jetzt erstmals seit Beginn der Krise eine richtige öffentliche Debatte, die eine geplante Maßnahme
kritisch von allen Seiten beleuchtet. Der Einwand von Datenschützern hat dazu geführt, dass das Handy-Tracking keinen Platz im erneuerten Infektionsschutzgesetz gefunden hat. Erstaunlich eigentlich, dass den Menschen ihr Handy wichtiger ist als ihre Bewegungsfreiheit oder die Schulpflicht der Kinder. Aber trotzdem gut, dass es jetzt etwas gibt, über das wir kontrovers reden."
Die
Schriftstellerin Sarah Stricker schickt in der
FAZ einen Lagebericht aus
Tel Aviv, wo das trotzige
Dafka - "Jetzt erst recht" - nicht mehr funktioniert. Die Menschen dürfen sich nicht mehr als hundert Meter von ihrer Wohnung bewegen: "Es sind Schlagzeilen, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie lesen würde. Genauso wenig wie diese hier. Die beiden Oberrabbiner Israels appellieren an die ultraorthodoxe Gemeinde:
Lasst eure Handys am Schabbat an! Oder: Der Geheimdienst
Mossad schleust aus einem nicht genannten Golfstaat
100.000 Corona-Testkits ins Land. Aber auch: Die Epidemie verbindet - israelische und palästinensische Behörden arbeiten im Kampf gegen das Virus enger zusammen denn je. Eine Näherei im Gazastreifen produziert Gasmasken für Israel. Israelische Ärzte geben Online-Tutorials für palästinensische Kollegen."
Wissenschaft, 04.04.2020
Der Zürcher Psychoanalytiker
Peter Schneider räumt in einem sehr erfrischen
taz-Interview mit Tania Martini eine ganze Reihe von Weisheiten vom Tisch, die gerade gern verbreitet werden: Das Bemühen der "Urängste" sei "ahistorischer Quark", das Boccaccio-Landhaus-Seuchen-Story-Telling geht ihm auch gegen den Strich. Überhaupt könne man gar nicht sagen, wie der Mensch auf Krisen reagiere: "Ich kann nichts über den Menschen sagen.
Manche lernen etwas, manche nicht. Es ist außerdem sehr unterschiedlich, was man lernt, sogar widersprüchlich. Krisen richten Gesellschaften nicht in eine Richtung aus
wie ein Magnetfeld. Es ist nicht hilfreich, die Zeiten 'danach' in der Fantasie mit zu viel Optimismus oder Pessimismus aufzuladen."
In der
FR zieht der Medizinhistoriker
Harald Salfellner im Interview mit Joachim Frank den Vergleich mit der
Spanischen Grippe, die es 1918 auf kaum mehr als kurze Zeitungsmeldungen brachte: "Die Spanische Grippe fiel in eine Zeit der politischen Auflösung und Anarchie. Noch während der ersten Hauptwelle endete der Erste Weltkrieg, in Deutschland und in Österreich-Ungarn kam es zu einem Umsturz der politischen Verhältnisse. So bildete die Spanische Grippe eine Art
Puffer zwischen den Zeiten. Eine irgendwie nennenswerte Regierungsgewalt gab es nicht mehr, die sich als Bändiger der Katastrophe hätte betätigen können. Die Menschen mussten sehen, dass sie irgendwie allein klarkommen. Man hat die Grippe - hart gesagt -
einfach wüten lassen. Im Wissen, irgendwann ist es vorbei."
Weiteres: Der Strafrechtler und Rechtsethiker
Reinhard Merkel antwortet in der
FAZ auf einen Artikel der Medizinethikerin
Bettina Schöne-Seifert zum ethischen
Dilemma der Triage, also der Frage, wann ein Mediziner einen Patienten sterben lassen kann oder muss, um einen anderen zu behandeln: "Die behandelnden Ärzte in ihrer Gewissensnot alleinzulassen ist jedoch nicht akzeptabel. Und ihre Entscheidungen undeutlichen oder zweifelhaften Richtlinien anheimzugeben ist, um das Mindeste zu sagen, ein Problem. Auch deshalb mag sich der Gesetzgeber des Notstands demnächst mit der Forderung nach rechtlichen Regeln konfrontiert sehen."
Überwachung, 04.04.2020
In mehrerlei Hinsicht unheimlich ist, was ein Rechercheteam der
New York Times über die Auswertung von Mobilfunkdaten in den USA
berichtet: Demnach ist es ein Luxus, in Zeiten von Corona zu Hause bleiben zu können: "Although people in all income groups are moving less than they did before the crisis,
wealthier people are staying home the most, especially during the workweek. Not only that, but in nearly every state, they began doing so days before the poor, giving them a head start on social distancing as the virus spread, according to aggregated data from the location analysis company Cuebiq, which tracks about 15 million cellphone users nationwide daily."
Internet, 04.04.2020
Auf
ZeitOnline informieren Meike Laaff und Lisa Hegemann über die Sicherheitslücken, die sich beim derzeit so beliebten Videodienst
Zoom auftun. Am gravierendsten ist, dass Zoom keine
End-zu-End-Verschlüsselung benutzt: "Bei dieser Form der Verschlüsselung wären die Daten nur für die Kommunikationspartner einsehbar, auf Firmenservern lägen sie lediglich verschlüsselt vor. Genau das hatte Zoom in seinem
White Paper versprochen. In solchen Veröffentlichungen erklären Unternehmen die Funktionsweise ihrer Software. Stattdessen nutzt Zoom laut The Intercept ein Verschlüsselungsprotokoll namens Transport Layer Security, kurz
TLS. Das verschlüsselt Daten zwar auch, aber, wie der Name schon verrät, nur während des Transports. Das bedeutet, dass Zoom-Meetings zwar nicht von jemandem
mitgehört werden können, der sich ins WLAN eingehackt hat, sehr wohl aber, theoretisch,
von Zoom-Mitarbeitern."
Geschichte, 04.04.2020

Der Historiker
Brendan Simms hat den vielen Hitler-Biografien, die es schon gibt,
eine weitere hinzugefügt. Im
taz-Interview mit Andreas Fanizadeh
betont er wie auch in seinem Buch
Hitlers Hassliebe gegenüber Engländern und Amerikaner. Zur aktuellen Frage um das Verhältnis der Hohenzollern zum Nationalsozialismus hält er sich bedeckt: Was heiße schon erheblicher Vorschub? "Sicherlich haben viele Hohenzollern, insbesondere der Kronprinz, ihren Einfluss zur Machtergreifung der NSDAP geltend gemacht, den Aufstieg der Nazis unterstützt. Das sehen wir auch symbolisch am Tag von Potsdam. Aber dass die Nazis ohne diese Unterstützung nicht an die Macht gekommen wären, das würde ich bezweifeln. Sicherlich haben die Hohenzollern versucht, einen erheblichen Vorschub zur Machtergreifung der Nazis zu leisten. Ob ihnen das gelang, ist aber eine andere Frage."
Weiteres:
Hubertus Knabe erzählt in der
NZZ die Geschichte des Häftlingsarztes Wolfgang Dorr im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen.