9punkt - Die Debattenrundschau

Differenzierter Risikobegriff

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.04.2020. Corona-Bonds oder ESM? Eine EU ohne Großbritannien ist denkbar, aber eine ohne Italien nicht, mahnt Timothy Garton Ash im Guardian. Die SZ schlägt ein originelles Ausstiegsszenario aus der Kontaktsperre vor: Ladies first, denn sie sind ja weniger gefährdet. In der FR unterstützt Jürgen Habermas die Maßnahmen gegen die Corona-Krise. In der Welt erklärt Deborah Feldman, warum die gemäßigten Juden in Israel jetzt die Ultraorthodoxen überzeugen müssen, sich der Krise gemäß zu verhalten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.04.2020 finden Sie hier

Europa

Ganz Europa stürzt sich im Moment der Corona-Krise in wirtschaftspolitische Debatten, die mindestens genauso so schwer zu verstehen sind wie das Virus selbst. "Corona-Bonds" oder Europäischer Stabilitätsmechanismus (ESM)? Darüber beraten heute diie europäischen Finanzminister in äußerst nervöser Stimmung. "Im Detail gibt es Unterschiede", schreibt Ingo Arzt in der taz. "Der wichtigste ist, dass bei ESM-Krediten die Schuldenquote jener Länder steigen würde, die sie erhalten. Bonds könnte man so gestalten, dass sich die EU als Institution verschuldet und die einzelnen Staaten für diese Schulden haften - was am Gesamtschuldenstand einzelner Länder nichts ändert. Alles klar? Eben. Gefrickel. Es braucht deutlich höhere Garantien der finanziell starken Länder für die schwächeren, egal wie." Im Interview mit Stefan Reinecke plädiert SPD-Chef Norbert Walter-Borjans für Corona-Bonds, aber nicht sofort.

Im Guardian warnt Timothy Garton Ash: "Schon vor der Pandemie war Italien von einem der europafreundlichsten Länder der EU zu einem der euroskeptischsten geworden. Die Krise hat diese Gefühle noch verstärkt. In einer Anfang letzten Monats durchgeführten Umfrage sagten 88 Prozent der Italiener, dass Europa Italien nicht unterstützt, und erschütternde 67 Prozent gaben an, dass sie die EU-Mitgliedschaft als Nachteil sehen. Es gibt eine Europäische Union ohne Großbritannien. Es gibt keine Europäische Union ohne Italien." Alles, so TGA, kommt jetzt auf Deutschland an.

Außerdem: Susanne Güsten berichtet im Tagesspiegel, dass die türkische Folksängerin Helin Bölek nach 288 Tagen Hungerstreik gestorben ist - sie gehört der populären Grup Yorum an, die wiederum beschuldigt wird, die  linksextreme Terrorgruppe DHKP-C zu unterstützen.
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Ideen

Auch eine "nachmetaphysische Aneignung der Idee, dass alle Gläubigen eine universale und doch geschwisterliche Gemeinde bilden und dass jedes einzelne Mitglied unter Berücksichtigung seiner unvertretbaren und unverwechselbaren Individualität eine gerechte Behandlung verdient" kann bei der Bewältigung der Corona-Krise helfen, meint Jürgen Habermas im Interview mit der FR über sein Buch "Auch eine Geschichte der Philosophie". "Im bisherigen Verlauf der Krise konnte man und kann man in manchen Ländern Politiker beobachten, die zögern, ihre Strategie an dem Grundsatz auszurichten, dass die Anstrengung des Staates, jedes einzelne Menschenleben zu retten, absoluten Vorrang haben muss vor einer utilitaristischen Verrechnung mit den unerwünschten ökonomischen Kosten, die dieses Ziel zur Folge haben kann. Wenn der Staat der Epidemie freien Lauf ließe, um schnell eine hinreichende Immunität in der gesamten Bevölkerung zu erreichen, nähme er das vermeidbare Risiko des voraussehbaren Zusammenbruchs des Gesundheitssystems und damit einer relativ höheren Anteil an Toten billigend in Kauf. Meine 'Geschichte' wirft auch ein Licht auf den moralphilosophischen Hintergrund von aktuellen Strategien im Umgang mit solchen Krisen."

Kürzlich hat Juli Zeh im Interview mit der SZ die Maßnahmen der Bundesregierung gegen Corona als undemokratisch gegeißelt und ihre Durchsetzung als Mischung aus "Bestrafungstaktik" und moralischer Erpressung beschrieben (unser Resümee). Im Tagesspiegel legt jetzt der FDP-Vize Wolfgang Kubicki nach und kritisiert die Kontaktbeschränkungen als unverhältnismäßig oder jedenfalls nicht ausreichend begründet: "Je tiefer der Grundrechtseingriff, desto höher sind die Anforderungen an die Begründetheit und Begründung des Eingriffs. Ich kann nicht erkennen, dass dies von allen handelnden Akteuren bisher erkannt und vor allen Dingen verinnerlicht worden ist. 'Alles dient dem Gesundheitsschutz' ist als alleinige Erklärung jedenfalls wenig tragfähig."

In der NZZ fasst sich der Jurist Thomas Fischer angesichts solche Vorwürfe an den Kopf. Berechtigte Sorgen kann er nicht erkennen, nur einen "unangenehmen Alarmismus..., der seine Anknüpfung gerade nicht in objektiven, rational reflektierten Analysen von Risiken und Gefahren findet, sondern in einem postmodern hysterisierten Betroffenheitstheater, in welchem es vorwiegend darum geht, 'Opfer'-Positionen zu besetzen oder sich als deren Sachwalter in Stellung zu bringen. Das Gesetz vom 27. 3. 2020 hat weder die Demokratie abgeschafft noch die Gewaltenteilung; es stellt die beiden Grundsätze auch nicht infrage. Jede einzelne Maßnahme staatlicher Stellen kann mit Rechtsmitteln angegriffen und von unabhängigen Gerichten geprüft und gegebenenfalls aufgehoben werden (Art. 19 Abs. 4 GG); die Legislative kann die Feststellung einer Infektionslage nationaler Tragweite jederzeit zurücknehmen."

Auch für die Soziologie hat die Corona-Krise Auswirkungen, legt der Soziologe Rudolf Stichweh im Feuilletonaufmacher der FAZ dar: "Für die Corona-Krise ist eine soziologische Schlüsselfrage, ob und wie sie diese gesellschaftliche Ordnung der Moderne temporär in Frage stellt und was dies langfristig für die Entwicklung der Gesellschaft bedeuten könnte."
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Politik

In der SZ macht Felwine Sarr den Kapitalismus verantwortlich für die Corona-Epidemie und den Kolonialismus für die teils drakonischen Maßnahmen in einigen afrikanischen Staaten, Ausgangssperren durchzusetzen. Im übrigen findet er es unerhört, dass die WHO die afrikanischen Staaten vor einer Epidemie warnt: "Afrika ist der Kontinent, der am wenigsten betroffen ist, weil er am wenigsten Teil ist der globalen Mobilität. Dieses Mal kommt die Epidemie nicht von hier. Trotzdem verlangt die WHO, der Kontinent müsse aufwachen und sich für das Schlimmste wappnen, und Antonio Guterres, der UN-Generalsekretär, erklärt, es werde hier Millionen Tote geben. Immer die alte rassistische Herablassung, die sich nicht die Mühe macht, die Wirklichkeit wahrzunehmen."

In der NZZ staunt der Historiker Niall Ferguson, mit welcher Unverfrorenheit China versucht, die Corona-Krise jetzt in einen Propagandaerfolg umzuwandeln. Bevor er China zujubelt, hätte Ferguson ein paar Fragen an Xi Jinping. Eine davon: "Warum haben Sie, nachdem klargeworden war, dass sich von Wuhan aus eine voll ausgeprägte Epidemie in die übrige Provinz Hubei ausbreitete, den Verkehr von Hubei in das übrige China - am 23. Januar - eingestellt, aber nicht von Hubei in die Welt? Wegen des Feiertags zum Mond-Neujahr ist der Januar immer ein Spitzenmonat für Reisen von China nach Europa und Amerika. Soweit ich das nach den verfügbaren Berichten angeben kann, gab es den ganzen Januar hindurch und in einigen Fällen bis in den Februar hinein fortwährend direkte Linienflüge von Wuhan nach London, Paris, Rom, New York und San Francisco. Nun, da Covid-19 sich weltweit ausbreitet, haben Sie keine Zeit verloren und den internationalen Verkehr nach China eingeschränkt; Ihr Ansatz war auffallend anders, als Sie die Krankheit zu uns exportiert haben."

Der böse Clown Donald Trump hat doch immer noch eine Bananenschale für seine besten Freunde parat. Während seit gestern Abend die Meldung kursiert, dass Boris Johnson auf die Intensivstation verlegt wurde (hier in der BBC), bietet Trump laut Emma Anderson von politico.eu Hilfe an, um Boris Johnson im Krankenhaus zu behandeln. Er habe "'führende Firmen' gebeten, 'London sofort zu kontaktieren', um nach Lösungen zu suchen."

Außerdem: Bethan McKernan berichtet im Guardian, dass die UN-Organisation für das Verbot chemischer Waffen heute einen offiziellen Bericht herausbringt, der Baschar al-Assad des Einsatzes chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung beschuldigt.
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Gesellschaft

Inzwischen mehren sich die Vorschläge, wie die Kontaktsperren nach dem 20. April sukzessive gelockert werden könnten: Erst dürfen die Jungen, Gesunden und die raus, die den Virus schon gehabt haben. Oder: Erst dürfen die Frauen raus, wie Susan Vahabzadeh heute in der SZ mit der italienischen Virologin Ilaria Capua vorschlägt, denn "Covid-19 verläuft den meisten Statistiken zufolge für Männer wesentlich häufiger tödlich als für Frauen, dort ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern höher als zwischen den Infektionszahlen. Frauen könnten also, fand Capua, vielleicht öfter und früher als 'rote Ampeln' in der Gesellschaft fungieren - Menschen, die sich schon frei bewegen dürfen, weil sie die Erkrankung bereits überstanden haben und vorerst immun sind gegen eine weitere Ansteckung. Und vielleicht, scherzte Capua, würden dann nach der Krise 'manche Männer ihre Stühle besetzt vorfinden'."

Martin Schallbruch vom Digital Society Institute der ESMT Berlin hat eine andere Idee: Er plädiert für einen "differenzierteren Risikobegriff". Wer nachweisbar Maßnahmen ergreift, die eine Ansteckung verhindern oder zumindest erschweren, soll nicht weiter beschränkt werden dürfen: "Wer eine Maske trägt und zudem permanent eine App verwendet, die im Infektionsfall alle Kontakte alarmiert, stellt eine weit geringere Gefahr für die Allgemeinheit dar als jeder andere. Warum erlauben wir nicht denjenigen, die solche Schutzmaßnahmen ergreifen, wieder auf den Spielplatz zu gehen, ein Restaurant zu öffnen, ein Restaurant zu besuchen oder im Hotel zu übernachten? Warum bringen wir die Wirtschaft nicht dadurch wieder in Schwung, dass wir jedem Menschen unter solchen Auflagen die Rückkehr zum Alltag erlauben. Das wäre keine Pflicht zur Nutzung der App, sondern eine Auflage bei gefährlichem Tun, wie der Führerschein, der TÜV für das Auto oder der Waffenschein."
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Medien

Die Medien haben zwar Rekordzahlen, müssen aber teilweise - wie inzwischen die Zeit und der Spiegel - Kurzarbeit anmelden, berichtet Laura Hertreiter in der SZ: "Dass in Deutschland in diesen Tagen in nahezu jedem Verlagshaus über Hilfs- und Sparprogramme verhandelt wird, hat mit der Art und Weise zu tun, wie sich journalistische Angebote finanzieren. Das Geld, das von Lesern und Abonnentinnen kommt, macht meist nur eine von zwei bis drei tragenden Säulen aus: Die zweite, das Geschäft mit Anzeigen, bröckelt schon länger und bricht gerade massiv ein, auch bei der SZ."
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Geschichte

Über einen anhaltenden geschichtspolitischen Streit in Weißrussland berichtet Natalia Radina  in libmod.de. Es geht um die in Bürgerinitiative entstandene Gedenkstätte in Kuropaty, wo während des Zweiten Weltkriegs Massenerschießungen durch sowjetische Truppen erfolgten. "Unterschiedlichen Informationen zufolge wurden hier zwischen 100.000 und 250.000 Menschen ermordet und verscharrt. Als 1988 die Wahrheit über die Erschießungen in Kuropaty ans Licht kam, war dies der Auslöser für den Kampf der Weißrussen um Freiheit und Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Und gerade deshalb versucht das Lukaschenka-Regime immer wieder, diesen Ort zu zerstören." Bis heute, so Radina versucht das weißrussische Regime, die mit vielen Kreuzen markierte Gedenkstätte zu sabotieren.
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Religion

Christine Kensche redet in der Welt mit Deborah Feldman, deren Geschichte der Flucht aus einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in New York gerade in der Netflix-Serie "Unorthodox" erzählt wurde. Es geht auch um die Corona-Krise - die Hälfte aller Kranken in Israel sind Ultraorthodoxe, die sich nicht an die Regeln halten. Feldmann sagt dazu: "Von außen kann man sie nicht überzeugen. Die jüdische Glaubensgemeinschaft muss Verantwortung dafür übernehmen, dass die Ultraorthodoxen sich und andere schützen. Das wäre die einzige Lösung. Die Gemäßigten müssen mit den Strenggläubigen reden und versuchen, neue Kompromisse zu finden. Bisher war es so, dass die jüdische Welt mit ihren extremen Gruppierungen nichts zu tun haben wollte, weil sie ihr peinlich waren. Damit konfrontiert zu werden, was im Namen des Judentums alles passiert, ist für gemäßigte Orthodoxe sehr unangenehm."

Religiöse Gemeinschaften in der ganzen Welt - ob Schiiten im Iran oder Evangelikale in Südkorea oder Frankreich - haben sich als "Superspreader" erwiesen. Welt-Autor Alan Posener plädiert trotzdem dafür, dass Juden, Christen und Muslime ihre anstehenden Feiertage in ihren Gotteshäusern feiern sollen.
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