9punkt - Die Debattenrundschau

Symptomfreie Spreader

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.04.2020. Natürlich gibt es auch heute so gut wie kein anderes Thema: Eugen Ruge verhaftet in Zeit online die üblichen Verdächtigen, die Globalisierung und den Kapitalismus. In der taz kritisiert der Politologe Martin Unfried anderseits gerade die lokale Reaktion auf ein Phänomen, das global ist. Die EU hat versagt, konstatiert politico.eu. Aber einer weiß zum Glück Bescheid, und das ist Giorgio Agamben in der NZZ: "Man muss wohl sagen, dass die Menschen an nichts mehr glauben - außer an das nackte biologische Leben, das es um jeden Preis zu retten gilt."
Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2020 finden Sie hier

Europa

Europa hat versagt, konstatieren David M. Herszenhorn and Sarah Wheaton in politico.eu: "Um politische Panik zu verhindern, erstarrten Politiker in Untätigkeit - sie versäumten es, in den zwei Monaten nach dem Auftauchen des Virus in China schnelle Testkapazitäten aufzubauen oder medizinische Vorräte zu horten. Als die Bedrohung offensichtlich wurde, reagierten die EU-Staaten trotz ihres Versprechens einer immer engeren Union egoistisch und chaotisch. Die Gesundheitsminister - vier von ihnen sind während der Krise zurückgetreten oder wurden entlassen - zankten sich. Die Regierungen täuschten Brüssel in Bezug auf den Grad ihrer Vorbereitung , horteten dann wichtige Ausrüstung, schlossen dann planlos ihre Grenzen, so dass der Handel zum Stillstand kam und Bürger strandeten." In der Debatte um Corona-Bonds hat sich die EU nach dem gestrigen Verhandlungsmarathon ergebnislos vertagt, meldet unter anderem Spiegel online.

Der Nutzen der Grenzschließungen in Europa (und in Deutschland sogar auf Länder-Ebene) ist unklar. Die Schließungen zeigen eher ein Problem: Dass die Politik im Moment einer globalen Krise aufs Lokale und Nationale zurückfällt, während die EU hilflos dasteht, schreibt der Politologe Martin Unfried in der taz: "Dieser Fehler im System der Europäischen Union hat maßgeblich zu einer 'Rette sich wer kann'-Mentalität beigetragen in Sachen medizinisches Material, Testkapazitäten und Intensivbetten. Strukturelle Solidarität mit Italien und Spanien hätte anders aussehen müssen. In der Krise hat die zwischenstaatliche 'freiwillige' Abstimmung nicht überzeugt. Es hilft auch nicht, der europäischen Kommission Vorwürfe zu machen. Es fehlen schlicht die Kompetenzen."

Auch der israelische Historiker Yuval Noah Harari plädiert im Gespräch mit Maria Sterkl von Zeit online eindringlich für europäische Kooperation bei der Bekämpfung der Corona-Krise: "Es kann jetzt in zwei Richtungen gehen. Die Menschen könnten sagen: Okay, dieser ganze Wahnsinn ist doch nur eine Folge von Globalisierung, also schließen wir lieber die Grenzen und kümmern uns nur um uns selbst. Das Problem ist aber: Aus der Sicht des Virus gibt es weder Italiener noch Deutsche. Für das Virus sind wir alle gleich, wir sind alle Beute. Das müssen wir verstehen: Um das deutsche Gesundheitssystem langfristig erhalten zu können, brauchen wir ein gutes Gesundheitssystem in Italien."

In der Welt mahnt Richard Herzinger: "Auch im aktuellen globalen Ausnahmezustand führt Russland seine Aggression gegen die Ukraine unvermindert fort. Von der Waffenruhe, die beim Gipfeltreffen im Normandie-Format, bestehend aus Frankreich, Deutschland, der Ukraine und Russland, im Dezember in Paris vereinbart wurde, ist das Kriegsgebiet im Osten des Landes weit entfernt."
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Kulturpolitik

Im Interview mit der SZ erklärt Kulturstaatsministerin Monika Grütters, warum es völlig okay ist, dass die Kultur aus dem großen Fördertopf mitbedacht wird und keinen eigenen Topf bekommt: "Hätten wir die Kultur nicht an dem großen 50-Milliarden-Topf teilhaben lassen, sondern einen eigenen Kreativ-Titel geschaffen, wäre für diesen deutlich weniger Geld rausgekommen. Es gibt einen großen Ehrgeiz, das Kulturmilieu nicht beschädigt aus dieser Krise hervorgehen zu lassen. ... Ich muss zwei Dinge klarstellen: Erstens sind die Rettungspakete nicht für lange Zeiträume gedacht, sondern für die akute Krisensituation. Zweitens gibt es aus meiner Sicht gesamtgesellschaftlich keine Hierarchisierung nach dem Muster: Wer ist wichtiger, der Kioskbesitzer oder der Kinobetreiber? Sie alle benötigen jetzt Hilfe. Es geht um gesellschaftliche Solidarität."
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Politik

Die Zeit übernimmt Arundhati Roys Text über Corona in Indien aus der Financial Times (hier das Original, das die FT sogar online gestellt hat): "Während eine entsetzte Welt zuschaute, offenbarte sich Indien in seiner ganzen Schande - seiner brutalen strukturellen, sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheit, seiner Gefühllosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber Leid. Der Lockdown funktionierte wie ein chemisches Experiment, bei dem Verborgenes plötzlich sichtbar wird. Geschäfte, Lokale, Fabriken und der Bausektor wurden geschlossen, und während sich Wohlhabende und Mittelschichten in ihre geschlossenen Wohnanlagen zurückzogen, fingen unsere Städte und Megastädte an, ihre Einwohner aus der Arbeiterschicht, die Wanderarbeiter, auszustoßen wie unerwünschte Substanzen."

In der SZ schreibt der in Kalkutta lebende Lehrer V. Ramaswamy über Indien im Lockdown am Beispiel eines Orts bei Kalkutta. "Nach der Schließung der Jute-Fabriken, wo die meisten Männer arbeiteten, sind heute fast alle in Priya Manna informelle Arbeiter - Rikschafahrer, Pförtner, Dienstmädchen, Ladeninhaber, Lieferanten. Sie müssen arbeiten, um zu überleben. Sie haben keine Reserven. Und zu Hause, das ist oft nur ein Platz von gerade mal neun Quadratmetern, die sich mindestens fünf Leute teilen. Was bedeutet der Lockdown für sie? Kann jemand wie ich das je wissen?"

Auf Zeit online macht der Schriftsteller Eugen Ruge den Kapitalismus und die "Oberklasse" verantwortlich für alles Leid der Welt, auch für die Corona-Krise: "Die große Flüchtlingskrise von 2015 war ein Vorschein dessen, was die Welt in der Zukunft erwarten könnte. Covid-19 ist eine kleine Erweiterung dieser Perspektive. Die Kosten der Globalisierung haben bisher immer die Ärmsten getragen. Die Katastrophen fanden immer woanders statt. Dass die Folgen unserer Wirtschaftsweise nun allmählich und, seien wir ehrlich, in noch abgemilderter Form auf uns zurückkommen, ist nur folgerichtig." Ruge wünscht sich "ein Leben ohne Wachstumszwang".

Dass es gerade die Globalisierung ist, die vielen Menschen in den Entwicklungsländern ein Einkommen beschert hat, merkt man jetzt, wo die Handelsketten zusammenbrechen. Corona wird die Entwicklungsländer besonders hart treffen, meint Achim Steiner, Leiter des UN-Entwicklungsprogramms, im Interview mit auf Zeit online. Er fordert daher einen Schuldenerlass und weitere Hilfen: "Durch die Globalisierung haben wir eine Welt aufgebaut, deren vielfältige Möglichkeiten auf gegenseitiger Abhängigkeit und dem Gedanken des komparativen Vorteils beruhen. Aber wenn diese Weltwirtschaft plötzlich unterbrochen wird, dann brechen Märkte, Lieferketten und Strukturen an vielen Orten zusammen. ... Der Shutdown in vielen Teilen der Welt kann Hunderte Millionen Menschen in absolute Armut zurückwerfen."

Ähnlich sieht das auch Entwicklungshilfeminister Gerd Müller in der Welt: "Es liegt in unserem Eigeninteresse, dass wir das Virus auch in diesen Ländern wirksam bekämpfen. Denn sonst wird es in Wellen immer wieder zu uns nach Europa zurückkehren. Corona besiegen wir nur gemeinsam in der Welt - oder gar nicht. Dazu müssen wir Gesundheitssofortmaßnahmen mit sozialen und wirtschaftlichen Stabilisierungsmaßnahmen verbinden." Er plädiert für einen "UN-Weltkrisenstab, der alle internationalen Krisen- und Stabilisierungsmaßnahmen der UN, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds wirksam koordiniert und zügig umsetzt."
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Kulturmarkt

"Die Situation auf dem Buchmarkt und im Literaturbetrieb ist so ernst wie nie zuvor", warnt der Verleger und Autor Rainer Moritz in der NZZ. "Ja, es gibt Sofortmaßnahmen der Regierungen, den Selbständigen, also auch den frei schwebenden Künstlern, beizustehen. Nina George, die Präsidentin des European Writers' Council, hat in diesen Tagen einen verdienstvollen 'Handzettel für Autoren' veröffentlicht, der die bereitgestellten Hilfsgelder auflistet. Das alles darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ohnehin schwer absehbaren Folgen der Corona-Einschränkungen Autorinnen und Autoren nicht nur vorübergehend belasten werden."
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Ideen

Im Gespräch mit Zeit-Redakteur Adam Soboczynski mäandert Peter Sloterdijk gewohnt einfallsreich, manchmal platt und manchmal zynisch durch die Corona-Krise: "Das alte Gesetz, dass nach einer Krise etwas immer bleibt, bleibt in Kraft. Wir entwickeln derzeit ein heikles, leicht unheimliches Gegenseitigkeitsbewusstsein. Der Mitmensch erscheint wie ein Umkehrbild des Vampirs, er saugt nicht ab, er flößt etwas ein: Der Nächste könnte unbewusst ein Virenträger sein. Mit Corona wird der symptomfreie spreader zu einer bleibenden Figur werden. In Amerika deutet sich das übrigens seit Längerem an, wo bestimmte Leute als toxic persons bezeichnet werden. Da bricht der Puritanismus als Hygienismus durch. Ein Schritt weiter, und wir landen bei der toxischen Männlichkeit und entsprechenden Detox-Kuren."

In Europa sind inzwischen zwar 50.000 Leute gestorben, aber Giorgio Agamben analysiert die Angelegenheit in der NZZ nach wie vor als Diskursphänomen: "Wie konnte es so weit kommen, dass angesichts einer Krankheit, deren Schwere ich nicht beurteilen kann, die aber bestimmt keine Pest ist, eine ganze Gesellschaft das Bedürfnis verspürte, sich verpestet oder verseucht zu fühlen?" Schlimm findet Agamben auch dies: "Man muss wohl sagen, dass die Menschen an nichts mehr glauben - außer an das nackte biologische Leben, das es um jeden Preis zu retten gilt."
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Gesellschaft

Es gibt doch ein Unbehagen der Meinungsbranche, dass sie im Moment grad nicht so gefragt ist. In seinen "Corona-Aperçus" schreibt Welt-Autor Thomas Schmid: "Für alle aber, die Politik von der antiken Polis her denken und die Debatte für das Königsmedium einer guten Gesellschaft halten, stellen das gegenwärtige Quasi-Regiment des Robert-Koch-Instituts und die Aussetzung zentraler bürgerlicher Freiheitsrechte eine gewaltige Provokation dar." In der Zeit fordert der Medienwissenschafttler Bernhard Pörksen: "Es geht in dieser zweiten Phase jetzt darum, die gesellschaftspolitische Debatte zu öffnen. Es braucht Ökonomen, Soziologen, Psychologen, Philosophen und Juristen. " Und in der taz zitiert Stefan Reinecke fromm die Theologen vom Ethikrat.

Es war ja nur eine Frage der Zeit, wann die Diskussion über die Atemmasken in den Kontext der Diskussion über das Kopftuch gezogen wird. Hinter dem Argument, die Maske entspreche nicht europäischen Vorstellungen davon, dass das Gesicht Ausdruck einer freien Person sei, steht für Julia Hauser, Professorin für "Global History" nur das altbekannte "Othering" des imperialistischen Zeitalters. In geschichtedergegenwart.ch schreibt sie: Schon "Reisende des 19. Jahrhunderts .. nahmen die Verschleierung überwiegend negativ wahr, und zwar nicht nur, weil sie mit ihr einen Mangel an Lebendigkeit und an Freiheit assoziierten. Wie die Geschlechterforscherin Meyda Yegenoglu argumentiert, irritierte sie westliche Beobachter*innen ebenfalls aus zwei anderen Gründen. Zum einen erlaubte sie es der Trägerin ihre vermeintlich wahre Natur zu verbergen. Zum anderen ermöglichte sie es ihr, zu sehen ohne gesehen zu werden - und verlieh ihr damit Macht." Das eigentliche Geheimnis der Burka ist also, dass die Frauen unter ihnen die Macht haben!

Aaron Thomas hat im Guardian noch ein anderes Argument gegen Atemschutzmasken: "I'm a black man in America. Entering a shop with a face mask might get me killed."
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