9punkt - Die Debattenrundschau

Das Überschreiten der Artengrenze

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.04.2020. Heute beraten Bund und Länder über mögliche Lockerungen der Kontaktsperren. Es werden eine Menge Positionen in die Debatte geworfen: Die Riffreporter, eine wissenschaftsjournalistische Website, nehmen die Vorschläge des Virologen Hendrick Streeck zu einer Öffnung schon jetzt auseinander. Aber auch die vorsichtigeren Vorschläge der Leopoldina zu einer Öffnung, die mit den Schulen beginnt, stoßen auf Kritik: Was ist mit den Frauen, fragt Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin im Tagesspiegel. Übrigens war es gerade die Schließung der Schulen, nicht die Kontaktsperre, die etwas gebracht hat, wendet heise.de ein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 15.04.2020 finden Sie hier

Europa

Heute beraten Bund und Länder über mögliche zaghafte Schritte zur Öffnung nach den strengen Sperren der letzten Wochen. Christian Schwägerl und Joachim Budde von den RiffReportern, einer von vielen Stiftungen geförderten wissenschaftsjournalistischen Website, porträtieren in einem sehr viel in den sozialen Medien herumgereichten Text nochmal den Virologen Hendrik Streeck, der schon letzte Woche Vorergebnisse seiner Studie im stark betroffenen Heinsberg präsentierte und in einer Pressekonferenz mit NRW-Ministpräsident Laschet für Öffnung schon "jetzt" plädierte. Die Studie und, wie sie zustande kam, ist umstritten. Wie schon bei Florian Schumann und Dagny Lüdemann in Zeit online (hier) und Kathrin Zinkant in der SZ (hier) erscheint Streeck bei Schwägerl als leicht verantwortungsloser Hallodri, der die Krise anfangs unterschätzte, der anders als der vorsichtigere Christian Drosten oder jetzt die Leopoldina die Idee der "Herdenimmunität" vertritt und dabei das ultimative Verbrechen beging, mit der PR-Agentur "Storymachine" des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann zusammenzuarbeiten. Diese Agentur hatte übrigens laut Schwägerl schon mal eine unseriöse medizinische Sensation präsentiert. Schwägerl und Budde legen auch den Vorwurf des Geklüngels nahe: "Eigentlich hätte einen seriösen Virologen diese Vorgeschichte abschrecken müssen, das Angebot von StoryMachine, seine Studie zu begleiten, anzunehmen. Doch Michael Mronz, Mitgründer von StoryMachine, ist ein guter Bekannter von Streeck. Der Virologe und Mronz - langjähriger Partner und seit 2010 Ehemann des 2016 verstorbenen FDP-Politikers Guido Westerwelle - kennen sich über viele gemeinsame Freunde und Weggefährten. Auch mit Laschet ist Mronz, der beruflich neben seiner Rolle bei StoryMachine vor allem im von der Corona-Krise gebeutelten Event-Branche aktiv ist, in gutem Kontakt: Die beiden setzen sich gemeinsam dafür ein, dass die Olympischen Spiele im Jahr 2032 in der Region Rhein-Ruhr stattfinden."

Gleichzeitig werden die Vorschläge der Leopoldina diskutiert (unser Resümee). In der taz ruft Ralf Pauli "Lasst die Schulen zu!" Über die unterschiedlichen Positionen im politischen Streit zur Öffnung berichtet heute etwa Spiegel online.

Der finanzielle Kompromiss, den die EU letzte Woche gefunden hat, um Italien und Spanien zu unterstützten, wird nicht lange halten, vermutet taz-Italienkorrespondent Michael Braun. Ministerpräsident Giuseppe Conte fordert nach wie vor Eurobonds, und zwar in Höhe von 1,5 Billionen Euro für die ganze EU. Ihm im Nacken sitzen die Rechtsextremen, die ihn als Hochverräter beschimpfen: "Vielleicht kommen diese Töne der Regierung gar nicht so unrecht, machen sie doch womöglich Europa klar, in welche Richtung die öffentliche Meinung in Italien zu driften droht. Mittlerweile sind dort zwei Drittel der Bürger der Auffassung, die EU habe Italien auch in der Coronakrise mal wieder alleingelassen, und der rechte Parteienblock liegt in allen Umfragen bei etwa 50 Prozent - würde jetzt gewählt, so hieße Italiens Ministerpräsident Matteo Salvini." Ebenfalls in der taz beleuchtet Ambra Montanari, wie die Mafia die Corona-Krise in Italien ausnutzt.

Weiteres: Und nochmals in der taz berichtet Gabriele Lesser, das die polnische Regierung das Demonstrationsverbot während der Corona-Krise nutzt, um ein fast totales Abtreibungsverbot festzuschreiben.
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Wissenschaft

Andreas Stiller analysiert bei heise.de die neuesten Studien des Robert-Koch-Instituts zu den Corona-Fallzahlen (und zählt nebenbei alle Unwägbarkeiten, die diese Zahlen bieten, auf). Das Ergebnis aber ist überraschend: "Man sieht den starken Einfluss der Schulschließung am 16. März, jedoch so gut wie keinen Einfluss durch die Kontaktsperre am 23. März. Das vielleicht noch mal als Hinweis an die Experten der Leopoldina-Akademie, die als ersten Lockerungsschritt eingeschränkte Schulöffnungen vorschlagen."

Inzwischen haben sich außerdem vier Professoren der Helmholtz-Gemeinschaft in einem Gutachten gegen eine Lockerung der Kontaktsperren ausgesprochen - jedenfalls für die nächsten drei Wochen, berichtet Fabian Löhe im Tagesspiegel: "Die Maßnahmen hätten 'eine hohe Aufmerksamkeit für das Problem und ein hohes Maß an Solidarität erzeugt.' Sie empfehlen, die Infektionsrate soweit abzusenken, dass 'die Epidemie dauerhaft kontrollierbar wird.' Eine Unterbrechung der Maßnahmen berge ein großes Risiko. 'Eine spätere Wiederaufnahme der Maßnahmen wäre der Bevölkerung wahrscheinlich schwerer zu vermitteln als eine Fortführung heute', mahnen die vier Hauptautoren im Verbund mit 15 weiteren Forschenden."

Nach dem Virus ist vor dem Virus, warnen Christoph Rosol, Jürgen Renn und Robert Schlögl, Co-Autoren der Leopoldina-Stellungnahme, in der SZ. Denn die Corona-Krise ist nur eine Folge des Klimawandels und des immer mehr schrumpfenden Lebensraums für Wildtiere: "Tatsächlich schlummern noch Tausende weiterer, bisher unbekannter Viren in der Tierwelt und warten nur auf das Überschreiten der Artengrenze. Nach Sars-CoV-2 folgt möglicherweise Sars-CoV-3 und droht erneut Gesundheitssysteme zu überfordern und die Welt in ein wirtschaftliches Wachkoma zu versetzen. Biologen sehen daher die wirksamste Prophylaxe gegen Epidemien und Pandemien der Art, wie wir sie mit Corona gerade global durchleben, in einem konsequenten Schutz der natürlichen Vielfalt und dem Aufrechthalten räumlicher Barrieren zwischen Wirtstier und Mensch." Und genau dafür, sowie für den Aufbau einer "klimafreundlichen Wirtschaft", sollte jetzt Geld ausgegeben werden, fordern die Autoren.

Außerdem: In der Welt erklärt Tilman Krause, was die Leopoldina, die "nationale Akademie der Wissenschaften" in Halle, eigentlich genau macht. Libération präsentiert heute eine etwas andere, ziemlich beeindruckende Statistik: Sie vergleicht die Zahl der Toten pro 100.000 Einwohnern in den verschiedenen Ländern: In Belgien sind es 34,2, in Deutschland 3,4.
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Geschichte

Ironie der Globalisierung: Die Historikerin Elife Bicer-Deveci schreibt bei geschichtedergegenwart.ch über die Geschichte des Alkoholverbots in der Türkei und die Paradoxie, dass sich die Autoritäten in der Türkei auf den Koran berufen, während die "Forderung eines staatlichen Alkoholverbotes eigentlich aus dem Ideenkatalog der westlichen Moderne" komme: "Bis zum frühen 20. Jahrhundert beschäftigte das 'Alkoholproblem' die osmanische Öffentlichkeit .. kaum, ganz im Gegensatz zu Europa und den USA, wo Alkohol in jener Zeit als Grundübel aller sozialen Probleme hingestellt wurde. Mit dem Erstarken der internationalen Antialkoholbewegung begannen auch in der osmanischen Öffentlichkeit Diskussionen um die Schädlichkeit des Alkohols."
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Ideen

In seiner taz-Kolumne bekennt Georg Diez sein Erschrecken vor den Bildern des anonymen technisierten Sterbens, die die Corona-Krise liefert (Bilder, in denen man sieht, wie es ist, ohne diese Hilfe zu sterben, haben wir allerdings nicht gesehen). Wir haben zu wenig darüber gesprochen, meint Diez, "was die Prämissen des Todes sein sollten. Wie wollen wir sterben? Diese Diskussion ist nicht offen genug geführt worden, und wenn, dann sehr spezifisch im Kontext etwa des assistierten Suizids - und deshalb stehen wir nun da, und die einzige Form des Todes, die gerade praktiziert wird, so scheint es, ist die des medizinisch-industriellen Todes." Diez bezieht sich auf einen langen Essay des amerikanischen Philosophen Charles Eisenstein, der unter dem Titel "The Coronation" unseren "Krieg gegen den Tod" analysiert.

Im Interview mit der FR ermuntert der Philosoph Otfried Höffe die Kollegen in der NRW-Expertenkommission, es weiterhin mit Kant zu halten: "Da die Kommissionsmitglieder wie selbstverständlich Kants Begriff der Aufklärung beherzigen, nämlich Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, werden sie kaum meine Empfehlungen brauchen. Wenn aber doch, dann zwei: Geben wir den Grundrechten unseres freiheitlichen Staates das verfassungsrechtlich gebotene Gewicht und seien mit Freiheitseinschränkungen extrem vorsichtig. Geben wir der Hoffnung mehr Chancen als den Ängsten und der Panikmache."

Warum reden eigentlich die ganze Zeit fast nur Männer, fragt Jana Hensel auf Zeit online: Seit der Krise "hören wir wie gebannt all den männlichen Wissenschaftlern und ihren Zahlenanalysen zu. Wir schauen den männlichen Politikern bei uns und im Ausland zu, wie sie die Pandemie zu lösen und sich wie nebenbei zu profilieren versuchen. Und wenn uns das noch nicht reicht, können wir auch noch stapelweise Interviews und Texte von männlichen Soziologen, Philosophen, Ökonomen, Unternehmern, Schriftstellern und Therapeuten lesen, die uns erzählen, wie sie durch die Krise kommen oder auf welche Art wir anderen es versuchen sollten. Wären da nicht Angela Merkel, Juli Zeh und die Infektiologin Marylyn Addo, man könnte den Eindruck gewinnen, unser Land bestünde ausschließlich aus Männern. Aber, halt! Das ist ja auch so..."

Auch Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, vermisst im Interview mit dem Tagesspiegel die Frauen in der Debatte. Welche Folgen das hat, sehe man schon daran, dass die Mitglieder der Leopoldina bestimmte Gruppen bei ihren Empfehlungen kaum berücksichtigten, meint sie: "Zum einen liegt das Durchschnittsalter der Mitglieder der Leopoldina-Arbeitsgruppe bei über 60 Jahren. Zum anderen haben wir bei den 26 Mitgliedern nur zwei Frauen. Beides spiegelt wider, was die Ad hoc-Empfehlung ausspart. ... Es sind insbesondere alleinerziehende Frauen, junge Mütter und junge Familien, die mit der jetzigen Situation gar nicht zurechtkommen. Sie haben die Struktur in den Tag zu bringen, müssen Lehrerinnen und Lehrer spielen, die Musikschule, den Sportverein und die Freundeskreise ihrer Kinder ersetzen. Und dann müssen und wollen sie auch noch erwerbstätig sein. Wenn man von so einem Haushalt ausgeht und sich die Empfehlungen der Leopoldina anschaut, ist doch die Frage: Warum werden das familiäre Wohl und das Wohlergehen der Frauen eigentlich gar nicht adressiert? Wie soll das gehen, dass eine Frau und Mutter dann wieder teilerwerbstätig ist, und auf der anderen Seite Kindern unter neun Jahren keine Betreuung zukommt?"

Außerdem haben Kindergartenkinder eigene Bedürfnisse, die nicht berücksichtigt würden, wenn sie nach den Vorschlägen der Leopoldina weiter zu Hause bleiben müssen, kritisiert der Theologe Peter Dabrock im Tagesspiegel: "Ein Großteil emotionaler und sozialer Grundbedürfnisse entfaltet sich allein in der Begegnung mit anderen Kindern, in Freundschaften wie auch in Grenzerfahrungen in der Gruppe der Gleichaltrigen. Das Wegbrechen dieser entscheidenden Grundbedürfnisse wird in der Debatte völlig unberücksichtigt gelassen. Sollen sie ein halbes Jahr lang quasi weggesperrt werden? Ist für kleine Kinder diese Lebensdimensionen, ein halbes Jahr, das für sie eine halbe Ewigkeit ist, allen Ernstes verzichtbar? Ich vermisse Vorschläge, die signalisieren, dass diese Grundbedürfnisse derjenigen, die uns doch am Wichtigsten sein sollten, von Anfang an mitgedacht werden." Dabrock ist eher dafür, die Alten länger zu isolieren.

Außerdem: Im Interview mit Zeit online erklärt Martin Spiewak von der Leopoldina, wie man sich das mit der langsamen Aufnahme des Schulbetriebs vorgestellt hat.
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Gesellschaft

Es hat Papiere gegeben, die schon vor Jahren vor einer Pandemie warnten. Sie interessierten die Politik mäßig und die Öffentlichkeit gar nicht. Der Katastrophenforscher Martin Voss erkennt im Gespräch mit Georg Sturm von der taz auf kollektives Versagen: "Wie wichtig Krisenprävention ist und dass sich diese langfristig sogar ökonomisch rechnet, geht dabei unter. Paradoxerweise sieht man am Ende nicht unbedingt, ob es sich gelohnt hat. Die beste Krisenprävention hat nämlich zur Folge, dass die Katastrophe ausbleibt. Damit lassen sich keine Wahlen gewinnen. Zudem haben wir in der ganzen Welt kein adäquates Forschungszentrum, das sich mit solchen grundlegenden Risiken beschäftigt. Das ist für mich das größte Armutszeugnis. In dieser Hinsicht sind wir wirklich selbst verschuldet blind gewesen."
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