9punkt - Die Debattenrundschau

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Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.04.2020. Die taz begrüßt die ersten Schritte zur Lockerung in Deutschland, die FAZ erzählt, wie Frankreich auch bei der Lockerung an seinem Zentralismus scheitert. Bei den "großzügigen Hilfen" für Soloselbständige erweist sich so langsam die allerüblichste Bürokratie - besonders wenn es dann um Hartz IV geht, berichtet die SZ. In Tagesspiegel und SZ erklären Infektionsforscher, warum es Herdenimmunität erst in 25 Jahren geben wird. In der NZZ erzählt der Blogger Florian Ngimbis, wie in Kamerun gegen Corona gekämpft wird. Die Republik beleuchtet die wirtschaftliche Lage der NZZ.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.04.2020 finden Sie hier

Europa

Das Leben findet nach und nach zur Normalität zurück. Malte Kreutzfeldt begrüßt in der taz die Beschlüsse von Bund und Ländern zur Lockerung der Kontaktsperren: "Geschäfte und manche öffentlichen Einrichtungen dürfen schrittweise wieder öffnen, was vertretbar erscheint. Wenn Drogerien und Bäckereien mit Trennwänden und Abstandsregeln einen sicheren Einkauf gewährleisten können, müsste das auch in Kleidungsgeschäften und Bibliotheken möglich sein. Großveranstaltungen bleiben dagegen bis mindestens Ende August verboten, Restaurants und Clubs müssen zunächst ebenfalls dicht bleiben. Und auch die Schulen..."

Zur Eindämmung der Pest setzte Florenz vor 400 Jahren auf rigorose Quarantäne und führte gleichzeitig Fonds, ein Wohlfahrtssystem und einen "Catering-Service" ein, der die Bewohner mit Lebensmitteln versorgte, staunt Welt-Autor Thomas Schmid, um sich dann umso mehr über die Leopoldina-Empfehlungen zu ärgern: "Angenommen, die 'Lockerungen' kämen zu früh und dies würde die Ausbreitung des Virus noch weiter oder gar exponentiell beschleunigen - dann würde das vermutlich auf verheerende Weise das Vertrauen in Regierung, Politik und beratende Wissenschaft beschädigen."

Detlef Esslinger sekundiert in der SZ: "Jede Lockerung, jede Aufhebung eines Verbots werden die Menschen als Gewinn an Freiheit empfinden, jedes hingegen hastig wieder eingeführte Verbot als zermürbenden Verlust derselben; und womöglich auch als Indiz dafür, dass ihre gewählten Repräsentanten die Orientierung verloren haben."

Auf Zeit online erinnert Lenz Jacobsen die Kritiker der Regierung daran, dass der Corona-Kurs notgedrungen ein schwankender sein muss: "Die gesamte Krisenpolitik funktioniert nach dem Prinzip Versuch und Irrtum: Man probiert Dinge aus und sieht dann, was sie für den Verlauf der Pandemie bedeuten. Da kann es nicht schaden, wenn 16 Bundesländer 16 im Detail verschiedene Wege probieren und dann sehen, was am besten funktioniert."

In Frankreich hat die rigide Top-Down-Politik, die das Land so oft so ineffizient macht, wieder zugeschlagen, schreibt die FAZ-Korrespondentin Michaele Wiegel im Leitartikel: "Der französische Zentralismus erweist sich als Hindernis für eine schnellere, regional abgefederte Exit-Strategie. So müssen die Franzosen, die an den Ausläufern der Cevennen leben, genauso strikte Ausgangssperren beachten wie die Pariser. Dabei hat das Département Lozère keinen einzigen Covid-19-Toten zu beklagen, während in der Hauptstadtregion mehr als 3.800 Personen an der Viruserkrankung gestorben sind. Alle Versuche lokaler Entscheidungsträger, Wege aus der zentral verfügten Zwangsabschottung aufzuzeigen, werden vereitelt."

Der wirtschaftliche Niedergang Italiens setzte mit der Teilhabe am Euro ein, schreibt Thomas Steinfeld im Aufmacher des SZ-Feuilletons: "Vorbei waren die Zeiten, in denen man dem Export durch eine Abwertung der Lira aufhelfen konnte. In diesem Wettbewerb setzten sich, wie nicht anders zu erwarten war, die größeren Kapitalien gegen die kleineren durch, die Großserienproduktion gegen die Manufakturen, eine effiziente Bürokratie gegen ein kompliziertes Regelsystem, das voller Abgründe, aber auch voller Möglichkeiten steckt."
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Politik

Zunächst saßen die Kameruner auf "Logenplätzen" und lachten über das "Theater in China", im Glauben, man bliebe verschont, schreibt der kamerunische Autor und Blogger Florian Ngimbis in der NZZ. Nun hat die Regierung ein paar lasche Maßnahmen ergriffen, Homeoffice kann sich kaum jemand leisten, getestet wird wenig und einige Politiker lassen sich "Prostituierte aufs Zimmer bringen", um sich die Zeit der Isolation zu verkürzen. Aber: "Die Rolle des Sündenbocks ist bereits zugeteilt. Sie geht an die kamerunische Diaspora, auf die man nun ganz offiziell mit Fingern zeigen und über die man sagen darf: Die sind aus dem heimgesuchten Europa abgehauen und haben das Virus in die Heimat eingeschleppt. Wobei man aber diskret verschweigen muss, dass die meisten dieser Rückkehrer Geschäftsleute, Staatsangestellte oder Personen aus dem Umfeld des Präsidentenpalasts waren."

In Ägypten wird das Coronavirus als "Schandmal" betrachtet, schreibt der ägyptische Schriftsteller Khlaled al-Khamissi in der SZ: "In Kairo hinderten Hausbewohner einen Arzt an der Rückkehr in seine Wohnung. Sie fürchteten, er könnte das Virus einschleppen. In Alexandria schlossen sich die Bewohner einer Straße zusammen, um einen Arzt von seiner Wohnung fernzuhalten. Sie verlangten, dass er ins Krankenhaus ziehen solle."
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Medien

Daniel Ryser liefert für das Online-Magazin Republik ein ausuferndes Porträt über den Chefredakteur der NZZ, Eric Gujer, inklusive Gespräch. Er wirft ihm vor allem die Expansion nach Deutschland vor - wo Gujer mit AfD-nahen Positionen kokettiere. Zur Sache geht's beim Thema wirtschaftliche Lage der Zeitung - und da ist die Frage des Interviewers dann fast interessanter als die Antwort Gujers, der vom Zuwachs bei den Digitalabos schwärmt: "Wenn Sie vom Zuwachs sprechen, können Sie diesen Zuwachs aufschlüsseln: Die Digital-Abos in Deutschland sind zum Schnäppchenpreis zu haben. 10 Euro im Monat in Deutschland. 100 Euro im Jahr. Den ersten Monat gibt es sogar ab 1 Euro. In der Schweiz wiederum kostet ein Digital-Abo 240 Franken. Wenn dann sogar Print und Deutschland-Digital im selben Topf aufgeführt ist: Kann ein 1-Euro-Abo ein 814-Franken-Abo aufrechnen?" Natürlich hat die NZZ kein 1 Euro-Abo, das ist nur ein Probepreis für den ersten Monat. Gujers Antwort auf Rysers Frage zu den Digitalabos: "Sie müssen mehr verkaufen, aber die Kosten sind dafür auch niedriger. Sie haben keine Distribution. Sie müssen nicht drucken." Interessant zu dem Beitrag auch der Kommentar der ehemaligen NZZ-Autorin Sieglinde Geisel.
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Kulturmarkt

Soloselbstständige, die auf Grundsicherung angewiesen sind und nicht in Berlin, Hamburg oder NRW leben, erwartet nach wie vor ein Martyrium, stellt Till Briegleb in der SZ haareraufend fest: "Wer die peinlichen Verhörmethoden der Hartz-IV-Bürokratie mit ihren zahllosen Nachforderungen absurder Belege und der nach wie vor praktizierten Vermögensprüfung auf sich nimmt, kann noch nach Wochen des Wartens abschlägig beschieden werden, wie es verbitterte Antragsteller vielfach berichten. Denn Personen, die für sich und ihre Mitbewohner mehr als 9.000 Euro in Werten wahrheitsgemäß angegeben haben, gelten weiterhin als 'erheblich vermögend' und erhalten keine Grundsicherung, selbst wenn diese 'Werte' aus einer privaten Altersversorgung, einer Berufsunfähigkeitsversicherung oder berufsnotwendigen Objekten wie einem Auto oder einer Geige bestehen. Die, so berichten Kulturschaffende aus allen Bundesländern, sollen bitte erst aufgelöst oder verkauft werden. Dagegen darf man immerhin Widerspruch einlegen."
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Wissenschaft

Erst in einigen Wochen sollten die Einschränkungen schrittweise aufgehoben werden, sagt im Gespräch mit Gunnar Göpel (Tagesspiegel) der Infektionsforscher Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum: "Wenn wir das Virus nicht austrocknen, kann es nur durch Herdenimmunität oder einen Impfstoff beseitigt werden. Den Impfstoff haben wir hoffentlich nächstes Jahr. Die Herdenimmunität wird man unter Einhaltung der Kapazitäten des Gesundheitssystems erst in vielen Jahren erreichen. Eine einfache Rechnung dazu: Gestern gab es 2.500 neue Fälle, das sind eine Million im Jahr, mit Dunkelziffer vielleicht zwei Millionen. Herdenimmunität ist bei 50 Millionen Infizierten erreicht. Also grob in 25 Jahren."

Die Idee der Herdenimmunität ist nicht zu Ende gedacht, meint auch der Infektiologe Gerd Fätkenheuer im SZ-Gespräch mit Kathrin Zinkant. Er schlägt vor, Masken zu tragen, "bis ein Medikament oder besser noch ein Impfstoff verfügbar ist. Oder bis alle sich angesteckt haben. Je länger wir das hinauszögern können, desto weniger Menschen sterben, bevor ein Impfstoff verfügbar ist."
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Ideen

Neu ist nicht die Pandemie, schreibt John Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung im Aufmacher des FAZ-Feuilletons. Neu sind "unsere stupenden Möglichkeiten der Seuchenbekämpfung. Dies gilt zweifelsohne für die hochentwickelten Industrieländer (inklusive China), aber - mit den offenkundigen Einschränkungen - sogar für den globalen Süden. Denn trotz aller nationalpopulistischer Entgleisungen rückt die Menschheit im Anthropozän unaufhaltsam weiter zusammen und teilt unzählige Innovationen. Warum nicht auch ein rettendes Medikament?" Schellnhuber hofft, dass die Erfahrung der globalen Krisenbekämpfung auch im Kampf gegen den Klimawandel inspirieren möge.

Außerdem: Die Geistestitanen Herfried Münkler, Hauke Brunkhorst und Armin Nassehi beweisen im Gespräch mit Thomas Assheuer von der Zeit, dass sie bei der Beurteilung der Corona-Krise auch nur im Nebel stochern können.
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Gesellschaft

Wer im Internet Pornos gucken will, soll künftig etwa durch Vorlage seines Personalausweises im Postident-Verfahren beweisen, dass er über 18 ist, berichtet Marie Bröckling bei Netzpolitik. Solche Maßnahmen hat Tobias Schmid von der Landesanstalt für Medien NRW jüngst angekündigt. Bröckling findet das eher fragwürdig: "In Großbritannien ist ein ähnliches Vorhaben letztes Jahr gescheitert. Bürgerrechtsgruppen hatten gewarnt, dass die Klarnamen und Geburtsdaten von Nutzer:innen mit höchst sensiblen Angaben über ihre sexuelle Vorlieben verknüpft werden könnten. Zudem wurde befürchtet, dass der Einfluss des MindGeek-Konzerns, zu dem Youporn, Pornhub und Redtube gehören, dadurch weiter wachsen könnte. (...) Schmid gibt sich zuversichtlich zur Akzeptanz in der Bevölkerung: 'Die Bereitschaft, persönlich Daten für den Porno-Konsum zu teilen, scheint bei vielen Menschen durchaus zu bestehen. Viele Portale finanzieren sich über ihren bezahlten Content und dafür müssen Nutzer ihre Kreditkarten hinterlegen.'"

Nutzen wir die Corona-Krise um über Zeitpolitik nachzudenken, schlägt der Gesellschaftswissenschaftler Hans-Jürgen Burchardt in der FR vor, denn auch Zeit ist Wohlstand: "Der Staat kann die Phase des massiven Home Office nutzen, über den normsetzenden öffentlichen Dienst zeitpolitische Maßnahmen breitenwirksam in die Arbeitswelt einzuführen. Vorschläge sind die 'kurze Vollzeit für Alle', 'Lebensarbeitszeit-Konten', die mit Blick auf Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch zu wenig ausgereizten 'Teilzeitgesetze' oder Rechte auf temporäre Freistellungen. Studien aus Deutschland belegen, dass bereits heute viele Arbeitnehmer statt mehr Geld mehr freie Zeit als Leistungsanreiz bevorzugen.
Archiv: Gesellschaft