9punkt - Die Debattenrundschau

Die Tauben sind schwach

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.04.2020. "Die Auswirkungen von Corona sind nicht banal, sondern im Guten wie im Schlechten ein Spiegelbild unserer engen Vernetzung und Abhängigkeit ", sagt der Historiker Andreas Möller in der NZZ. Die taz setzt uns anlässlich eines Prozesses gegen zwei syrische Folterknechte über das "Weltrechtsprinzip" in Kenntnis. Die Islamwissenschaftlerin Susanne Schröter nimmt in der FAZ  das Feindbild des "alten weißen Mannes" auseinander. Im Tagesspiegel schreibt die Historikerin Susanne Spahn über russische Desinformation in der Corona-Krise. Le Monde recherchiert zu den Tausenden von Toten in französischen Pflegeheimen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.04.2020 finden Sie hier

Europa

Deutschland ist in der Coronakrise der Musterschüler, die Türkei der "Lausbub", schreibt Can Dündar in seiner Zeit-Online-Kolumne. Denn abgesehen davon, dass sich viele Türken das Zuhausebleiben nicht leisten können und das Coronavirus nicht zuletzt dank der in den vergangenen 25 Jahren "stark geförderten religiösen Erziehung" als gerechter "Zorn Allahs" betrachtet wird, liege dem Mangel an Folgsamkeit auch ein Mangel an Vertrauen zugrunde: "In nichtdemokratischen Gesellschaften werden die meisten Regeln zum Schutz nicht der Bevölkerung, sondern der Regierung aufgestellt; Verbote kaschieren entweder einen Makel der Herrschenden oder verhindern Proteste. So wuchs meine Generation mit der Maxime 'Verbote sind da, um umgangen zu werden' auf. Wird eine Nachricht zensiert, heißt es 'veröffentlichen'. Wird eine Demonstration verboten, heißt es 'marschieren'. Wird eine Ausgangssperre verhängt, geht man sofort auf die Straße."

Manche Skandale im Zusammenhang mit der Coronakrise haben das Zeug, die Öffentlichkeit noch über Jahre zu beschäftigen. In Le Monde berichtet ein Investigativteam über die Tausenden von Toten in französischen  Pflegeheimen, über die zunächst kaum kommuniziert wurde, weder öffentlich noch mit den Verwandten. Viele Fälle sind jetzt gerichtsanhängig. Mit im Spiel sind private Pflegeheime des auch in Deutschland tätigen Anbieters Korian. "Diese Kaskade an lückenhafter Information hat Klagende dazu gebracht, 'Verantwortliche' für den Tod ihrer Verwandten zu suchen. 'Ich habe sowohl Kritik am Staat, der die Krise schlecht gemanagt hat, als auch an der Leitung von Korian', sagt Arnaud, der Enkel von Odette Noyer, der erst durchs Bestattungsinstitut erfuhr, dass seine Großmutter an Covid-19 gestorben war. Am Tag ihres Todes hatte das Pflegeheim ihm noch versichert, dass es ihr gut gehe, auch wenn man sie an den Sauerstoff angeschlossen habe..."
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Politik

In Koblenz hat erstmals ein Prozess gegen zwei Folterknechte des syrischen Regimes begonnen. Zwei Angeklagten wird Folter und Mord in 58 Fällen vorgeworfen. Sabine am Orde erläutert in der taz den rechtlichen Hintergrund: "Bislang blieben Kriegsverbrechen des syrischen Regime unbestraft. Wegen des russischen Vetos im Weltsicherheitsrat können sie weder vor den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag noch vor ein Sondertribunal gebracht werden. So bleibt derzeit nur die Verfolgung nach dem Völkerstrafrecht auf nationaler Ebene. In Deutschland ist dies möglich, weil hier seit 2002 das sogenannte Weltrechtsprinzip im deutschen Völkerrechtsstrafgesetz verankert ist. Seitdem kann die Justiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann verfolgen, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind."

In der NZZ warnt Pauline Voss vor der Vermischung von Wissenschaft und Politik: "Die Vermischung ökonomischer Interessen und medizinischer Erkenntnisse findet längst Eingang in die Empfehlungen der WHO. Als Grundlage politischer Entscheidungen dienen also Experteneinschätzungen, die sich ihrerseits auf Studien stützen, die von politischen Interessen maßgeblich geprägt werden."
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Ideen

Die Ethnologin Susanne Schröter nimmt in der FAZ (schon am Mittwoch, wir reichen nach) das Feindbild des "alten weißen Mannes" auseinander, der auch in der Coronakrise prima funktioniert, indem sie es in seine Bestandteile zerlegt. Unter anderem entlarvt sie damit heutige Diskursstrategien: "Der Gestus der Anklage wird zusätzlich durch ein Subjektivitätsgebot verstärkt, das äußere Attribute zum Zugangskriterium einer Teilnahme an Debatten erhebt. Schon in der frühen Frauenbewegung vertraten einige Wissenschaftlerinnen die Ansicht, dass weibliche Erfahrung eine notwendige methodische Bedingung für die gerade entstehende Frauenforschung sei. Wer das 'falsche' Geschlecht besaß, war von vorneherein aus der Diskursgemeinschaft ausgeschlossen."

Im Welt-Interview mit Tomasz Kurianowicz spricht der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl über die derzeitige "Diskursexplosion", antike Seuchenbekämpfung, befürwortet Corona-Bonds und warnt vor dem Eingriff in die Grundrechte in Osteuropa: "So hat die politische Schäbigkeit hier und dort, in Ungarn oder Polen, schon die Grundfesten für dauerhafte Ausnahmeregimes und Diktaturen gelegt. ... Und von Brüssel oder Berlin aus schaut man sorgenvoll zu."

Außerdem: Dass Achille Mbembe die Israelboykott-Bewegung BDS unterstützt, liegt für Patrick Bahners in der FAZ auf der Hand: Das zeige schon ein Aufsatzband "der gemäß dem Vorwort der Herausgeber den Zweck verfolgte, die akademische Welt für die Sache des BDS zu gewinnen", und für den Mbembe immerhin den ersten Text schrieb (unser Resümee). Philip Schwarz legt in 54books dar, warum er beansprucht, Kunst auch moralisch zu beurteilen. In der NZZ beklagt sich Leopold Federmair darüber, dass er nicht mehr "Zigeuner" oder "Tschechei" sagen darf, sich dafür aber "schnäuzen" muss.
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Medien

Russland hat die Krise im Griff, während Deutschland und andere Staaten, Frankreich oder Israel etwa, zu "dystopischen" und "repressiven" Maßnahmen greifen - so lauten die Meldungen, die Russland über RT Deutsch und Sputnik verbreiten lässt, berichtet die Osteuropa-Historikerin Susanne Spahn im Tagesspiegel: "In Deutschland will die russische Führung ihren Einfluss ausdehnen. RT Deutsch hat aktuell bei Facebook 469000 Abonnenten, Sputnik 238000. RT Deutsch hat damit das deutsche Portal der Deutschen Welle mit 450000 Abonnenten überholt. Doch auch der englisch-, spanisch- und arabischsprachige Dienst von RT wird in Deutschland konsumiert. RT international in englischer Sprache ist bei fast jedem Kabel-Anbieter im Paket. Neben Deutschland gehört die EU zu den Lieblingszielen der Kreml-Sprachrohre RT und Sputnik."

Apropos repressive Maßnahmen: Auch die Redaktion des liberalen russischen Wirtschaftsmagazins Wedomosti kämpft um ihre Unabhängigkeit, seit sie von dem kremlfreundlichen Chefredakteur Andrej Schmarow geleitet wird, meldet Clara Lipkowski in der SZ: "Er habe mündlich mit Kündigung gedroht, sollten Autoren Meinungsumfragen zitieren, die das angesehene unabhängige russische Forschungsinstitut Lewada herausgibt, sagt Bolezkaja. Wer negativ über die Verfassungsreform von Präsident Wladimir Putin berichtet, dem drohe ebenfalls der Rauswurf. Der Online-Zeitung Meduza zufolge, soll Schmarow auf Anordnung der Präsidialverwaltung handeln."

Außerdem: In der FAZ erklärt Michael Hanfeld, warum er fürchtet, dass die EU den deutschen Medienstaatsvertrag kippt.
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Überwachung

Ein überraschendes Problem bei der Realiserung der kommenden Corona-Tracing-App benennt Hanno Böck in einem Hintergrundartikel bei golem.de. Die Technologie beruht auf der Bluetooth-Technologie, die aber bei gesperrten Handys wegen Energieverbrauchs standardmäßig ausgeschaltet ist. Die Regierung braucht also die technische Unterstützung von Google und Apple. Aber es gibt einen Haken: "Google und Apple, die zusammen nahezu den gesamten Smartphone-Markt dominieren, haben bereits angekündigt, eine entsprechende Funktion bereitzustellen. Doch der in Deutschland entwickelten App wird das möglicherweise nicht weiterhelfen. Denn die Schnittstelle, die die beiden Techkonzerne bereitstellen wollen, orientiert sich am dezentralen Ansatz, der beispielsweise in der Schweiz zum Einsatz kommen soll. Die Bundesregierung hatte zwar zuletzt noch erklärt, dass sie zentrale und dezentrale Ansätze prüft, aber die Entwicklung einer App mit dem zentralen Ansatz läuft hinter den Kulissen bereits seit mehreren Wochen." Die dezentrale Lösung gilt als die datenschutzrechtlich unbedenklichere.

Außerdem: Alexander Fanta fürchtet in Netzpolitik, dass im Europäischen Parlament Uploadfilter zur Bekämfpung terroristischer Propaganda durchgepaukt werden, die viele für überzogen halten.
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Urheberrecht

Zum "Welttag des Buches", der offenbar auch ein Welttag des Urheberrechts ist, fordert die " Initiative Urheberrecht" in einem im Buchreport dokumentierten Text eine schnelle Umsetzung der europäischen Urheberrechtsreform in Deutschland. Den Autoren geht es vor allem um Plattformen wie Youtube, die Urheber durch Lizenzen an ihren Gewinnen beteiligen sollen: "Diese Lizenzen schließen auch die im 'User Uploaded Content' verwendeten Werke oder Werkteile ein; auch dafür sollen Vergütungen gezahlt und die Urheber fair entschädigt werden - aber nicht von den Uploadern, sondern von den Plattformen. Der Erwerb der Rechte, die Schöpfer neuer und eigenständiger Kreationen - Memes oder zulässiger Werkaneignungen wie Pastiches - eventuell benötigen, ist von den Lizenzverträgen der Verwertungsgesellschaften umfasst, niemand braucht ihre Unterdrückung zu fürchten. In Zweifelsfällen werden Schiedsstellen tätig werden müssen."
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Gesellschaft

Ziemlich präzise beschreibt Timo Feldhaus im Freitag die stillen Tage der Coronakrise in Berlin: "Berlin Alexanderplatz, ein paar Jungs kicken einen Fußball in hohem Bogen über die riesige, menschenleere Betonplatte. An den Wohnhäuserwänden stehen Pappkartons mit Aussortiertem, die Leute misten aus, von dem sie sich lange nicht trennen konnten, jetzt zu verschenken. Auf der Straße achten alle aufeinander. Choreografiert und artifiziell wirken ihre Bewegungen, wie in einem Film von Jacques Tati. Es ist so irre still, die Luft riecht frisch und gut. Ein Rabe sitzt auf einer noch zuckenden Taube und isst ihren Kopf. Die Tauben sind schwach. Wir geben nichts mehr."

Im NZZ-Gespräch mit Jörg Scheller erklärt der Historiker Andreas Möller, weshalb uns die Krise derart aus der Bahn wirft - auch wenn Pandemien erwartbar sind: "Die Auswirkungen von Corona sind nicht banal, sondern im Guten wie im Schlechten ein Spiegelbild unserer engen Vernetzung und Abhängigkeit von globalen Wertschöpfungsketten. Wir registrieren plötzlich Stellschrauben im System, die wir sonst kaum wahrnehmen, beispielsweise das Fehlen von Erntehelfern. Für die Alltagswahrnehmung der Bevölkerung dürften die Bilder leerer Regale in Discountern, aber auch die täglichen Nachrichten über Infizierte oder Verstorbene ebenso bedeutend sein - der permanente Kontrast von Nah- und Fernhorizont."

Michael Wuliger fragt in seiner Kolumne in der Jüdischen Allgemeinen, warum der Begriff des "Philosemitismus" so negativ besetzt ist: "Interessanterweise findet man diese Herabwürdigung von Sympathie auch nur, wenn es um Juden geht. Frankophile, die jedes Jahr in die Dordogne fahren, Georges Brassens hören und ausschließlich französischen Wein im Keller haben, werden vielleicht wegen ihrer Marotte belächelt. Auf die Idee, sie ideologisch oder psychologisch zu hinterfragen, gar zu brandmarken, käme keiner."
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Geschichte

In einem dringenden Appell an europäische Solidarität erinnert die Historikerin Ulrike von Hirschhausen im Tagesspiegel daran, wie  französische Ärzte gegen den Willen ihrer Regierung 1831 quer durch Europa reisten, um gegen die von russischen Soldaten eingeschleppte Cholera in Polen zu bekämpfen: "Das Schicksal Polen ist nicht die Sache einer Nation, sondern Sache der ganzen Menschheit: Mit dieser Botschaft wollte das 1830 in Paris gegründete französisch-polnische Komitee die Politik der europäischen Mächte umgehen, die nicht das geringste Interesse hatten, ihr Verhältnis zu Russland durch Hilfe für polnische Revolutionäre zu gefährden."

Außerdem: In der SZ nimmt der Historiker Norbert Frei die Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren und den Wiederaufbau Deutschlands zum Anlass, um Euro-Bonds zu fordern. Nochmalss im Tagesspiegel rät auch der Historiker Martin Sabrow zum Blick in die Geschichte - bei der Spanischen Grippe 1918 gab es in der zweiten Welle mehr Tote als in der ersten.
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