9punkt - Die Debattenrundschau

Können Sie die Sonne patentieren?

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2020. Welt und Tagesspiegel blicken auf das deutsch-italienische Verhältnis - und vor allem auf die Taubheit der deutschen Politik und Gesellschaft für die Stimmung in Italien. In der Zeit wird über die innerdeutschen Wirkungen der Corona-Politik gestritten. In der Washington Post ist Margaret Sullivan bestürzt, dass sich die großen amerikanischen Medien auch in der Coronakrise nicht aus dem Bann Donald Trumps lösen können. Die taz erzählt von einem bitteren Krieg innerhalb der queeren  Szene  in Marokko. Und in der Türkei macht der oberste Boss der Religionsbehörde laut Deniz Yücel in der Welt die Schwulen für Corona verantwortlich.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.04.2020 finden Sie hier

Gesellschaft

Streit um die Corona-Politik

Im vorderen Teil der Zeit konstatiert Mariam Lau mit Verwunderung, dass gerade die Erfolge der Corona-Politik der Bundesregierung ihre Sinnhaftigkeit in Frage stellen: "Erste Anzeichen für eine zweite Welle sehen Virologen wie der Charité-Professor Christian Drosten bereits. Das bisschen mehr Bewegung und Kontakt, das die Leute sich zu Ostern genehmigten - also bevor die ersten Lockerungsmaßnahmen der vergangenen Woche in Kraft traten - erhöhte die Ansteckungsrate in Deutschland auf einen Wert, der über dem Italiens lag. 'Wir verspielen unseren Vorsprung', fürchtet Drosten, der für seine Warnungen inzwischen Morddrohungen bekommt. ... Verblüfft stellte der Vizepräsident des Robert Koch-Instituts, Lars Schaade, bei einem morgendlichen Corona-Update fest: 'Die Tatsache, dass Deutschland vergleichsweise wenig Ansteckungen und Todesfälle im internationalen Vergleich hat, führt nun dazu, dass das Erreichte infrage gestellt wird.'"

Zum Beispiel im Aufmacher des Zeit-Feuilletons von Jens Jessen, der ein Problem mit der Tatsache hat, dass die föderalistische Bundesrepublik in der Coronakrise unterschiedliche Handlungsansätze hat. Dass das je nach Region und Betroffenheit sinnvoll sein kann, leuchtet ihm nicht ein, er möchte Übersichtlichkeit und ausziselierte Gleichheit. Darüber werde viel zu wenig debattiert, findet er, und beschuldigt Angela Merkel und die sie umgebenden Politiker der "moralischen Einschüchterung", etwa wenn es um die Frage gehe, Kontaktsperren für die Hochrisikogruppen der Älteren zugunsten der Jüngeren durchzusetzen: "Als würde Gerechtigkeit gebieten, dass Beschränkungen, die für den einen hilfreich oder lebensnotwendig sind, sofort und ausnahmslos allen anderen aufgezwungen werden - damit niemand besser dasteht? Darf, wenn einer auf den Rollstuhl angewiesen ist, niemand anders mehr zu Fuß gehen?" Nur, wenn die Lähmung ansteckend für Fußgänger ist.

In der SZ kritisiert Till Briegleb die Ungleichbehandlung von Freien und Angestellen in der Coronakrise: "Soll die Geigerin nun also ihren Ehering versetzen, während niemand von dem festangestellten Motordesigner verlangt, seinen Drittwagen zu verkaufen, bevor er Kurzarbeitergeld bekommen kann? Diese massive Ungleichbehandlung ist so offensichtlich, dass man sich wundert, warum es noch keine Klagewelle dagegen gibt." In der FAZ berichtet Jan Brachmann zugleich, dass Monika Grütters neue Hilfen für Künstler verspricht. Und der Theatermann Stefan Rosinski fordert Unterstützung für die freie Szene (mehr in efeu).

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Eine ziemlich irre Geschichte über einen Krieg innerhalb der "queeren" Szene Marokkos erzählt Mohamed Amjahid in der taz: Die "nichtbinäre" Youtube-Influencerin Sofia Taloni, offenbar zugleich eine Schwulenhasserin, rief ihre Gefolgschaft auf, sich mit falschen Identitäten in schwulen Dating-Apps einzuloggen, Köder auszulegen und Homosexuelle zu outen. Und ihre Followerinnen folgen ihr: "Eine Mehrheit der Täter*innen sind Frauen, die sich mit Klarnamen in sozialen Medien bewegen. Neben Bildern von ihren Kindern und Backrezepten erscheinen Screenshots von Grindr auf ihren Profilen. Die Frauen posten seit Tagen die privaten Daten ihrer Opfer, beleidigen sie queerfeindlich, drohen mit einer Anzeige, teilen ihre persönlichen Daten im Netz. Es ist ein Pranger mit potenziell dramatischen Folgen für die Einzelnen." Homosexualität ist in Marokko strafbar.

Und in der Türkei war es gleich Ali Erbas, der oberste Boss der Religonsbehörde Diyanet (die auch die hiesigen Ditib-Moscheen kontrolliert), der durch krasse homophobe Äußerungen auffiel und von Erdogan gleich in Schutz genommen wurde, berichtet Deniz Yücel Welt: "In seiner Predigt zu Beginn des Fastenmonats Ramadan hatte er am Freitag zunächst über den Kampf gegen das Coronavirus gesprochen und dann gesagt: 'Der Islam zählt Unzucht zu einer der größten Sünden, er verdammt die Homosexualität.' Diese führe zu Krankheiten und lasse 'Generationen verrotten'. Hunderttausende Menschen würden außereheliche Beziehungen pflegen und sich mit dem HI-Virus infizieren. Es sei 'wissenschaftlich erwiesen', dass 'dieser und ähnliche Viren' durch Schmutz verbreitet würden." Mehr in der taz von Jürgen Gottschlich.
Archiv: Gesellschaft

Medien

Ganz bitter kritisiert die Washington-Post-Kolumnistin Margaret Sullivan, dass sich die großen amerikanischen Medien nach wie vor nicht aus dem Bann Donald Trumps lösen können. Immer noch übertragen sie seine Pressekonferenzen zu Corona Tag für Tag live und bieten ihm im Wahlkampf eine permanente Bühne. Großartige Recherchen, die die Medien gleichzeitig bringen, fallen unter die Aufmerksamkeitsschwelle: "Eines Tages werden wir verstehen, wie die Presse zu diesem Schlamassel beigetragen hat - so wie wir jetzt auf die Berichterstattung im Vorfeld des Irak-Krieges zurückblicken können und deutlich die Sünden sehen, die damals vom Großteil des Big Journalism begangen wurden: der beschämende Mangel an Skepsis, die törichte Gewährung von Anonymität für trügerische und eigennützige Quellen. Wenn wir diese Distanz haben, werden wir wohl einen Kandidaten und Präsidenten erblicken, der sich der Medien wie ein Puppenspieler bediente und gleichzeitig das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Presse als demokratische Institution zutiefst beschädigte."
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Überwachung

Sehr kundig und für Laien nachvollziehbar zeichnet eine Autorengruppe der Humboldt-Uni bei Netzpolitik nochmal den Streit um eine Corona-Tracing-App nach - und macht auf die grundsätzliche Dimension dieses Streits aufmerksam: "Statt die technischen Details als Lappalie abzutun, sollten wir die Möglichkeit bedenken, dass Tracing-Apps womöglich keine temporäre Erscheinung sind, die wieder verschwindet, sobald die Pandemie unter Kontrolle gebracht ist. Tracing-Apps könnten sich als bewährtes Instrument der Gesundheitspolitik oder in anderen Bereichen verstetigen, und deshalb ist es so wichtig, dass sie unsere Freiheitsrechte respektieren und nicht unterlaufen." Sowohl das zentrale als auch das dezentrale Modell (das auch diese Gruppe wegen des besseren Datenschutzes vorzieht) funktionieren nicht ohne die Kooperation von Google und Apple. Darum ist es für die Forscher "essenziell, dass Google und Apple den Quellcode für ihre Erweiterungen offenlegen und damit unabhängigen Sicherheitsforschern die Möglichkeit einräumen zu überprüfen, dass keine zusätzlichen Funktionen eingebaut wurden".
Archiv: Überwachung

Europa

"Das Virus hat gravierende Defizite der EU ans Tageslicht gebracht", schreibt Welt-Autor Thomas Schmid in seinem Blog. Die Krise wurde fast überall nur auf nationaler Ebene bekämpft, es gab kaum Wahrnehmung für die Nachbarn. Auch beim Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren werden nationale Erinnerungen und Mythen gepflegt. Der 25. April, der Tag der Befreiung in Italien, interessiere in Deutschland niemanden: "Beide Länder teilen, in unterschiedlichen Ausformungen, eine totalitäre Geschichte. Doch trotz des großen Interesses vieler Italiener an Deutschland und trotz der noch immer lebendigen Italien-Sehnsucht vieler Deutscher: Es fehlt bis heute eine breite öffentliche Beschäftigung mit dieser Erfahrung. Wenn es diese deutsch-italienische Öffentlichkeit nicht gibt, wie soll es dann die oft beschworene europäische Öffentlichkeit geben können?"

Merken die Deutschen nicht, was in Italien vor sich geht?, fragt auch Peter von Becker im Tagesspiegel. Wie sich der Mangel an Solidarität und Empathie bei ihnen auswirkt? In ihren beiden großen Reden habe Angela Merkel Europa, Italien oder Frankreich mit keinem Wort erwähnt, erinnert Becker und lässt sich von italienischen Kulturgrößen berichten, wie schlecht die Italiener mittlerweile auf die Deutschen zu sprechen sind, etwa von Luigi Reitani: "'Überall in Italien gibt es schon Aufrufe, keine deutschen Waren mehr zu kaufen. Die Menschen, die anders als in Deutschland seit Monaten in ihren Wohnungen wirklich gefangen sind und nur eine Stunde am Tag einzeln Lebensmittel oder Arzneien einkaufen durften, sind verzweifelt. Keiner darf auf einer Wiese liegen, spazieren gehen oder draußen mit seinen Kindern Fahrrad fahren oder Ball spielen. Dazu wird jeder Fünfte arbeitslos. Dieser angestaute Frust braucht ein Ventil, er entlädt sich im ursprünglich wohl europafreundlichsten Land heute gegen Europa. Gegen die Führungsmacht Deutschland.'"

Prato, die unweit von Florenz gelegene Stadt mit der größten chinesischen Community in Italien, ist eine der Städte mit der geringsten Corona-Infektionsrate in ganz Italien - und das liegt daran, dass die Chinesen in der Stadt sehr frühzeitig von sich aus Maßnahmen ergriffen haben, berichtet Hannah Roberts bei politico.eu: "Die Selbstdisziplin der Chinesen in Prato habe sogar dazu beigetragen, die einheimischen Italiener auf die Gefahr aufmerksam zu machen, sagen Beamte, was der Stadt einen Vorsprung im Kampf gegen das Virus verschafft und einige der ethnischen Spannungen entschärft habe."

Und noch eine ermutigende Idee: Die litauische Hauptstadt Vilnius will einen großen Teil ihres öffentlichen Raums den Cafés der Stadt überlassen, um ihnen Verdienstmöglichkeiten bei gleichzeitiger Wahrung der Abstandsregeln zu geben, schreibt Jon Henley im Guardian.
Archiv: Europa

Ideen

Achille Mbembe zu Veranstaltungen einladen? Unbedingt, meint Ijoma Mangold in der Zeit. Ganz besonders wenn man nicht mit ihm übereinstimmt, denn der Streit sei produktiv, gerade die Postcolonial Studies hätten ihn angesichts ihrer Gleichmacherei bitter nötig. Für Mbembe etwa sei der heutige Finanzkapitalismus eine Art moderner Sklavenhandel: "Wie einst der Schwarze ein bewegliches Gut war, sind wir heute alle 'Arbeitsnomaden'. Wenn die Kapitalströme aber nur eine neue Form der globalen Zirkulation von Humankapital sind, dann verliert der transatlantische Sklavenhandel des 17. und 18. Jahrhunderts, um es vorsichtig zu formulieren: etwas von seiner Spezifik. Dann ist die Sklaverei dasselbe wie der Kolonialismus, der Kolonialismus dasselbe wie die Apartheid und die Apartheid nicht zu unterscheiden vom Neoliberalismus und der Demokratie, von der Mbembe sagt, sie trage 'die Kolonie tief in sich'."

Wenn eine Ideologie vom Virus hingestreckt wurde, dann der Neoliberalismus, diagnostiziert Ilija Trojanow in seiner taz-Kolumne: "Die Apologeten des freien Markts sind verstummt, denn wir haben im Belastungstest sein Versagen erlebt. Länder oder Regionen, die ihr Gesundheitssystem nach profitorientierten Kategorien umgebaut haben (Beispiel Lombardei), haben sich tödlich umstrukturiert. Und obwohl Pandemien regelmäßig auftreten, haben sie für diesen Fall nicht angemessen vorgesorgt, weil Gemeinwohl nicht profitabel ist. Dem freien Markt gelingt es nicht einmal, selbst Monate nach dem Ausbruch, Masken in ausreichender Zahl zu produzieren." Bei der Entwicklung eines Impfstoffs plädiert Trojanow gegen "Geistiges Eigentum": "Als Jonas Salk, der Erfinder des Polio-Impfstoffs, gefragt wurde, wer das Patent besitze, antwortete er: 'Alle Menschen. Es gibt kein Patent. Können Sie die Sonne patentieren?'"
Archiv: Ideen