9punkt - Die Debattenrundschau

Vom katastrophalsten Datum ausgehen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.04.2020. Der Guardian erzählt, wie die Idee der "Herdenimmunität" die britische Regierung zunächst in die falsche Politik trieb. In Le Monde fordern Künstler Subventionen bis zum Herbst nächsten Jahres. In der taz schreibt der Politologe und Europa-Aktivist Alberto Alemanno: "Das große Hindernis für die Fähigkeit der EU, Probleme zu lösen, sind unsere nationalen politischen Systeme." In der SZ schreiben Khaled al-Khamissi und Orhan Pamuk über den Islam und die Viren. In Spiegel online fordert Tagesspiegel-Herausgeber Sebastian Turner Subventionen für die Lokalpresse.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.04.2020 finden Sie hier

Europa

Heute leugnet es die britische Regierung, aber der Guardian legt eine große Recherche vor, die laut dem Editorial der Zeitung beweist, dass die britische Regierung zunächst sehr wohl die Idee der "Herdenimmunität" verfolgte: Sie "war grundlegend für die Entscheidungsfindung der Regierung in den entscheidenden Monaten Februar und März, als die meisten anderen Länder der Welt einen anderen Weg einschlugen. Sie wurde erst aufgegeben, als klar wurde, dass der National Health Service völlig überfordert sein würde und Hunderttausende von Briten sterben könnten."

Oha, der französische Premierminister hat eine Rede gehalten und vergessen, den Kultursektor unter den betroffenen Bereichen der Gesellschaft zu erwähnen. Der antwortet jetzt in Le Monde mit einem geharnischten Offenen Brief an Emmanuel Macron, der unter anderem von Catherine Deneuve und Jeanne Balibar unterzeichnet wurde. Der Präsident möge das Ende der Krise im Herbst 2021 ansetzen und den Sektor bis dahin über Wasser halten: "Verlangen Sie also, dass das Kulturministerium vom katastrophalsten Datum ausgeht und ein Rettungssystem einrichtet, das bis zu diesem Datum reicht und das sich erst zurückzieht, sobald die Menschen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen können. Verlangen Sie, dass das Kulturministerium dem Kultursektor - und zwar allen Branchen und Berufen - und der Nation, deren Kultur wir zum Leben bringen, so bald wie möglich einen Plan vorlegt." Auch dieser offenen Brief ist es insofern nicht, als er hinter der Zahlschranke steht.
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Gesellschaft

Die taz bringt eine Sonderausgabe zum Ausgang aus der Coronakrise (der sich irgendwo hinter dem Licht am Ende des Tunnels befindet) - hier das Editorial.

Nicht die EU ist in Europa das Problem, nicht sie hat in erster Linie versagt, schreibt in diesem Dossier der Politologe und Europa-Aktivist Alberto Alemanno: "Das große Hindernis für die Fähigkeit der EU, Probleme zu lösen, sind unsere nationalen politischen Systeme - und die zugehörigen politischen Klassen. Die traditionelle Parteienpolitik täuscht weiterhin vor, von Migrationspolitik bis zum Klimawandel alles auf nationalem statt europäischem Level steuern zu können. Doch wie die europäische Antwort auf Covid-19 gezeigt hat, ist das pure Fiktion." Die Konsequenz ist für Alemanno klar stärkere europäische Integration: "Wer Entscheidungen mit grenzüberschreitender Bedeutung trifft, muss auch aus einem grenzüberschreitenden Wahlprozess hervorgehen."

Weiter hinten im taz-Dossier untersucht Andreas Fanizadeh die Bocksgesänge vorwiegend älterer Herren, die sich von Angela Merkel bevormundet fühlen, allen voran Frank Castorf, der in einem Spiegel-Interview das Händewaschen verweigerte und sich auf seine DDR-Erfahrung berief. Ihm gegenüber steht  Ferdinand von Schirach, der mit Alexander Kluge ein Gespräch zur Krise veröffentlichte: "Bei nur 6.000 Coronatoten in Deutschland und geschlossenem Bühnenbetrieb kann einer wie Castorf ganz schön pampig werden. Und sich fragen, ob Männer wie Trump oder Putin nicht doch die bessere Politik repräsentieren. Der Sound der Querfront. Von Schirach interpretiert die Kanzlerin entgegengesetzt. Er schätzt an ihr, dass 'sie als ehemalige Bürgerin der DDR weiß, was diese staatlichen Beschränkungen bedeuten'. Und er sieht 'ihr Ringen um das richtige Maß', hebt ihre Appelle an die Freiwilligkeit der BürgerInnen hervor."

Außerdem im Dossier: Es sind vor allem Frauen vom Virus benachteiligt, sagt Karin Nordmeyer vom UN Women Nationales Komitee Deutschland im Gespräch mit Patricia Hecht: "In Italien sind derzeit 66 Prozent der Infizierten im Gesundheitsbereich Frauen, in Spanien 72 Prozent."  Die kleine Ungerechtigkeit, dass fast doppelt so viele Männer an Covid-19 sterben wie Frauen (mehr hier) ist in dem Gespräch keine Erwähnung wert.

Darauf weist immerhin der UN-Generalsekretär Antonio Guterres in der FR hin. Das Coronavirus stellt zwar ein größeres Gesundheitsrisiko für Männer dar, Frauen leiden allerdings bereits unter den tödlichen Folgen von Abriegelungen und Quarantänen, schreibt er: "Diese Einschränkungen sind unerlässlich - aber sie erhöhen das Risiko von Gewalt gegen Frauen, die mit misshandelnden Partnern gefangen sind. In den letzten Wochen nahm häusliche Gewalt alarmierend zu. Die größte Hilfsorganisation in Großbritannien berichtete von einem Anstieg der Anrufe um 700 Prozent. Gleichzeitig sind Hilfsdienste für gefährdete Frauen mit Kürzungen und Schließungen konfrontiert."
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Politik

China wird die Pandemie nutzen, um seine Macht in Europa weiter auszubauen, schreibt der ehemalige dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen in der SZ und fordert deshalb staatliche Maßnahmen zum Schutz vor Investitionen: "Chinas Strategie basiert auf einem entscheidenden Vorteil: Lange vor dem Westen wird es den Gipfel dieser Pandemie überwunden haben und wieder handlungsfähig sein. Das Land könnte ein vorübergehender Zufluchtsort für ausländisches Kapital werden, und seine Fabriken werden bald die Produktion wieder ankurbeln und möglicherweise Produkte auf unsere Märkte werfen, um unsere zur Untätigkeit verdammten Firmen weiter zu untergraben."

Für den Fastenmonat Ramadan wurde der Beginn der Ausgangssperre in Ägypten von sieben Uhr abends auf neun Uhr abends verschoben, auch die Shoppingmalls und Geschäfte dürfen die ganze Woche öffnen, ärgert sich der ägyptische Schriftsteller Khaled al-Khamissi ebenfalls in der SZ: "Diejenigen, die die Regierungsbeschlüsse verteidigen, weisen darauf hin, dass Deutschland ebenfalls Lockerungen erlaubt. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler Wael Gamal gab allerdings zu bedenken, dass sich laut Weltbank die Gesundheitsausgaben in Deutschland 2017 auf rund 3900 Dollar pro Kopf beliefen, während sie pro Ägypter bei etwa 35 Dollar liegen."
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Geschichte

"Historisch betrachtet, waren Muslime schon immer schwerer als Christen davon zu überzeugen, Quarantäneregeln zu akzeptieren, insbesondere im Osmanischen Reich", schreibt der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk, der sich für seinen im Herbst erscheinenden Roman "Pestnächte" derzeit mit historischen Seuchen beschäftigt, unter anderem in der SZ: "Die wirtschaftlichen Gründe, aus denen Händler und Bauern aller Konfessionen sich gegen die Quarantäne wehrten, mischten sich in islamischer Umgebung mit Vorstellungen von weiblicher Sittsamkeit und häuslicher Privatsphäre. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich das Dampfschiff als Verkehrsmittel durchsetzte und man billiger reiste, wurden die Pilger, die nach Mekka oder Medina unterwegs waren oder von dort zurückkamen, zu den effektivsten Verbreitern ansteckender Krankheiten in der Welt."
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Überwachung

Amazon lässt seine Mitarbeiter jetzt nicht mehr nur zu Diebstahlprävention und zur Kontrolle der Arbeitsabläufe von Kameras überwachen, sondern auch um zu überprüfen, ob diese die Abstandsregeln einhalten, erfährt Gabriela Keller in der Berliner Zeitung von Amazon-Mitarbeitern: "Die Situation, die sie beschreiben, ist  zwiespältig: Zum einen kritisieren sie die Schutzvorkehrungen in den Logistikzentren als lückenhaft und inkonsequent. Zum anderen stellen die ständig wachsende Zahl der zum Teil rigorosen Maßnahmen gravierende Einschnitte in ihren Arbeitsalltag dar; viele fühlen sich ausgelaugt. (…) Gleichzeitig bleibt unklar, wie viele Mitarbeiter sich bereits  mit Covid-19 angesteckt haben, und welche Standorte betroffen sind. Das Manager Magazin berichtete vor wenigen Tagen über 68 bestätigte Fälle am Logistikzentrum Winsen - bei 1800 Mitarbeitern wäre dies eine enorm hohe Quote. Der Konzern schweigt dazu; die Frage der Berliner Zeitung nach den Infektionen bleibt unbeantwortet."
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Stichwörter: Amazon, Abstandsregeln, Covid-19

Ideen

In angloamerikanischen Ländern sterben nicht mehr Menschen an Covid 19, weil diese Länder einer utilitaristischen Ethik folgen, verteidigen die Philosophen David Lanius und Christoph Schmidt-Petri in der NZZ den Utilitarismus: Auch für diesen sei der Schutz menschlichen Lebens ein hohes Ziel. Sie fordern eine "utilitaristische Moraltheorie", die auch die langfristigen Folgen der Krise bedenke: "Kurzfristige Erfolge bei der Rettung von Menschenleben müssen daher - wie das in der öffentlichen Debatte auch geschieht - in Bezug gesetzt werden zu kurz-, mittel- und langfristiger Gefährdung von Menschenleben. Sei dies durch häusliche Gewalt, Bewegungsmangel, Vermeidung von Krankenhausbesuchen bei akuten Erkrankungen wie Herzinfarkten oder Schlaganfällen."

Tun wir überhaupt alles, um die Alten und Schwachen zu schützen, fragt ebenfalls in der NZZ der Moraltheologe Daniel Bogner: "Natürlich zieht das Kosten nach sich, die Wirtschaft leidet, und das Heil der einen bedeutet Belastungen für manch andere. Aber die entscheidende Frage lautet: Ist der Status quo ante das Maß aller Dinge?"

Außerdem: Der Journalist und Schriftsteller Robert Misik untersucht in der NZZ, wie sich linke und rechte Positionen während der Krise vermischen.
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Medien

Es scheint ja in der einen oder andern Form auf die Subventionierung von Printmedien hinauszulaufen. Sebastian Turner, Herausgeber des Tagesspiegel, plädiert in Spiegel online verständlicher Weise für eine Förderung des Lokaljournalismus, der in Deutschland Demokratie an der Basis garantieren helfe. Eine bloße Förderung der Zustellung von Papierzeitungen erscheint ihm aber als "merkwürdige Strukturkonservierung". Ihm wäre es lieber, wenn der Staat Arbeitnehmern einen Gutschein gibt: "Ein interessantes Instrument, das den Lokaljournalismus stärken könnte, ohne Staats- und Parteivertretern dem Verdacht auszusetzen, sie wollten und könnten Einfluss nehmen, ist der Arbeitnehmergutschein, im Finanzjuristendeutsch der 'steuerfreie Sachbezug für Arbeitnehmer'." Dieses Instrument gebe es bereits: "Bis zu 44 Euro kann ein Arbeitgeber jeden Monat als Gutschein steuer- und abgabenfrei drauflegen, damit seine Beschäftigten ins Fitnesstudio gehen oder Waren einkaufen."

Zur Krise der Lokalzeitungen informiert auch Erica Zingher in der taz. Wer sonst konfrontiert die Lokalpolitik mit knallharten Fragen wie: "In einer Krise wie dieser interessiert das Unmittelbare besonders: Wie viele Infizierte gibt es in meiner Stadt, in meinem Landkreis? Was ist erlaubt? Welche Anlaufstellen gibt es in meiner Umgebung?"
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