9punkt - Die Debattenrundschau

Kleine Vollstrecker

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.05.2020. Die taz erinnert an den 8. Mai 1945, unter anderem trocknet die Schriftstellerin Manja Präkels die Tränen der alten Kommunisten. In der FAZ füchtet Ranga Yogeshwar Phase Zwei der Pandemie, in der sich der Volkszorn seine Opfer sucht. Heise.de verfolgt die Wendungen im Urheberrechtsstreit zwischen Moses Pelham und Kraftwerk. Die Jüdische Allgemeine lauscht mit Entsetzen den Sottisen von Lisa Eckart. Weiterdiskutiert wird außerdem um Achille Mbembe und den Wert des Lebens.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.05.2020 finden Sie hier

Geschichte

Die taz widmet einem Schwerpunkt dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor fünfundsiebzig Jahren. In einem Gespräch mit Jan Pfaff unterhalten sich die Historikerin Silke Satjukow und der Historiker Ulrich Herbert über unterschiedliche Deutungen des 8. Mais 1945 in Ost und West als Tag der Befreiung, der Kapitulation oder des Sieges der Sowjetunion.

In einem sehr offenen Text erinnert sich die Schriftstellerin Manja Präkels in der taz an die kriegerischen Traditionen, mit denen sie in Brandenburg aufwuchs: "Die Tränen der alten Kommunisten in den Klubs der Volkssolidarität galten ihren Erinnerungen und Träumen aus anderen Zeiten, die wir singend beflügelten: 'O lasset uns im Leben bleiben, weil jeden Tag ein Tag beginnt. O wollt sie nicht zu früh vertreiben, alle, die lebendig sind.' Wenn sie von Lagern und Widerstand erzählten, konnten wir den Krieg fühlen. Den Stacheldraht. Die Angst. Manchmal spielten wir ihn auch nach. An den Gepettos. Einem alten Ehepaar, das aufgrund des fremd klingenden Namens, seiner ärmlichen Behausung und des zurückgezogenen Lebens die missbilligende Neugier der Provinzbewohner auf sich zog, sodass wir Kinder straffrei unsere makabren Späße mit ihnen treiben konnten. Kleine Vollstrecker. Wir warfen Steine auf die hölzernen Fensterläden. Wenn der Alte dann, vor Empörung und Angst zitternd, hinaustrat, lachten wir. Gemein und skrupellos."

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Auf NZZOnline liest Martin Flashar Thukydides' Beschreibung der Pest, die in Athen um 430 v.u.Z. wütete, als einen der großen Seuchentexte der Weltliteratur. Die Altphilologin Melanie Möller nagt in der NZZ daran, dass bereits die Römer ihre Bürgern mit Steuern und Gesetzen behelligten: "Trotz diesem eher kargen Apparat versuchte der römische Staat ziemlich rigoros, in das Privatleben seiner Bürger hineinzuregieren, mit Gesetzen und Ordnungsmaßnahmen, indem er sich als moralischer Wegweiser betätigte und bis in die Intima hinein Schranken setzte: Unter Strafe standen beispielsweise Bordellbesuche, und der Weinkonsum unterlag zeitweise strengen Beschränkungen, vor allem für Frauen (gemäß dem alten Cato galten diese als besonders maßlos). Eine allgemeine Schutzpolizei, die für die Durchsetzung sorgte, gab es hingegen nicht."
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Ideen

Sara Rukaj unternimmt in der FAZ einen Rehabilitationsversuch für die Soziologin Cornelia Koppetsch, deren Buch "Die Gesellschaft des Zorns" nach Plagiatsvorwürfen zuurückgezogen wurde. Inhaltlich, so Rukaj, wurde über das Buch dann gar nicht mehr diskutiert, außer dass der Jungle-World- und Konkret-Autor Tom Uhlig ihr Nähe zur AfD unterstellt habe. Aber Rukaj findet Diskutierenswertes bei Koppetsch: "Mit ihrem Konzept der theoriegeleiteten Empathie nimmt Cornelia Koppetsch den Rechtspopulismus als gesellschaftstheoretische Herausforderung ernst, was notwendig voraussetzt, AfD-Wähler nach den Gründen ihrer Entscheidung zu fragen, ohne schon ein Urteil über sie gefällt zu haben." Mit Empathie sei dabei keineswegs "emotionale Identifikation mit Ausländerhassern und Antisemiten" gemeint, "sondern die Suche nach gesellschaftlichen Ursachen, die solche Haltungen begünstigen". Der MDR-Medienkolumne "Altpapier" ist Rukajs Artikel sauer aufgestoßen.

In der taz antworten Amos Goldberg und Alon Confino in der Debatte um Achille Mbembe auf einen Text von Meron Mendel und Saba-Nur Cheema, die der postkolonialen Theorie eine Verabsolutierung der schwarzen Opferperspektive und Blindheit gegenüber über dem Antisemitismus vorwerfen (unser Resümee): "In ihrer Kritik fehlt die andere Seite der Gleichung - in der deutschen Debatte über Antisemitismus ist kein Platz für die kolonialen Aspekte Israels und des Zionismus ... Die Debatte, wie wichtig der Kolonialismus der Siedler für den Zionismus und Israel war, ist noch nicht abgeschlossen - das gilt besonders für die Zeit nach 1967. Wenn wir den Zionismus auch als eine koloniale Bewegung von Siedlern begreifen, leugnen wir damit nicht, dass er das legitime Ziel verfolgte, eine Heimat für das jüdische Volk zu schaffen. Und wir leugnen auch nicht das Existenzrecht Israels. Wer die USA, Kanada oder Australien als koloniale Siedlerstaaten beschreibt, stellte ja damit auch keineswegs deren Existenzrecht infrage."
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Gesellschaft

Auf einmal ist sie weg, die Konsonanz zwischen Politik und Gesellschaft, die in der ersten Phase von Corona herrschte, stellt der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in der FAZ fest und vermisst schon jetzt die Zeit, als die Wissenschaft Argumente lieferte und in Talkshows aufgeklärt statt gestritten wurde: "Die Zahlen gehen zurück, die Krankenhäuser stehen leer, und das Eingesperrtsein nervt. Ist das womöglich alles übertrieben? Diese Reaktion wird verstärkt durch ein bekanntes Paradoxon: Statt die Maßnahmen als Erfolg zu feiern und sich über den bislang glimpflichen Verlauf zu freuen, wächst die Kritik an den Experten. Ein Irrsinn: Würden wir die Feuerwehr abschaffen, nur weil es im vergangenen Jahr nicht gebrannt hat? Das zweite Kapitel der Pandemie hat begonnen, eine Phase gekennzeichnet von Widerstand, Wut und Anschuldigung. Zu Zeiten der Pest richtete sich der Volkszorn gegen Ketzer, Juden oder Frauen, heute erleben wir diese bemerkenswerte Wende der Politik im Verhältnis zur Wissenschaft."

Im FR-Interview mit Judith von Sternburg beobachtet die Frankfurter Ethnologin und Museumsdirektorin Eva Raabe, wie sich gerade Rituale und Gewohnheiten verändern, und etwa das Verhältnis von Nähe und Distanz neu austariert wird: "Diese Art von Ritualen verschiebt sich sonst auch, aber nicht so schnell. Das Händeschütteln der Nordeuropäer kann heute förmlich wirken, während Umarmungen und Küsschen in meiner Jugend noch als sehr übergriffig galten... Distanz wird man wieder eher als etwas Höfliches bewerten, als soziales Verhalten. Das kann man gut mit Asien vergleichen, wo Distanz schon jetzt zur Höflichkeit gehört. Man will das Gegenüber nicht überschütten, man verbeugt sich aus Entfernung, zeigt eine gewisse Demut."

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Michael Wuliger klopft in seiner Kolumne in der Jüdischen Allgemeinen einen Satz von Jakob Augstein - "Leben ist nie der höchste oder gar der einzige Wert einer Gesellschaft, und unserer schon gar nicht" - nach historischen Echos ab und findet, dass es in ihm ziemlich unheimlich rumort: "Die aktuelle Diskussion über den richtigen Weg zur Eindämmung von Covid-19 ist nicht nur ein pragmatischer Streit um die besten praktischen Maßnahmen. Im Hintergrund steht auch unausgesprochen die Frage nach dem Wert des Lebens jedes Einzelnen." In der taz erkennt Tobias Schulze vor allem mit Blick Wolfgang Schäuble und Boris Palmer auf Klugheit und Empathie ankommt, mit der jemand über den Wert des Lebens nachdenkt, und fürchtet einen "selektiven Moralismus".
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Politik

Hände waschen? Abstand halten? Arne Perras schickt der SZ einen bedrückenden Report aus Mumbais berühmtem Armenviertel Dharavi, das unter der Ausgangsperre ebenso wie unter den miserablen hygienischen Bedingungen leidet: "Noch ist nicht sicher, was mehr Opfer kosten wird: die Härte der Covid-19-Politik, die Millionen Tagelöhner an den Abgrund treibt - oder die Seuche, die sich trotz Beschränkungen ausbreitet, auch in Dharavi, einem der am dichtesten besiedelten Orte der Erde. Mit 270.000 Bewohnern pro Quadratkilometer liegt die Dichte 57-mal so hoch wie in München, und das ist noch vorsichtig geschätzt."
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Stichwörter: Covid-19, Seuchen, Mumbai

Medien

Ebenfalls in der Jüdischen Allgemeinen zeigt sich Tom Uhlig abgestoßen von den Sottisen der Unterhalterin Lisa Eckhart, die scheinheilig frage, ob #MeToo antisemitisch sei, weil die Vorwürfe vor allem Juden träfen - Polanski, Allen, Weinstein, Epstein. Anstatt die Frage ernsthaft zu Ende zu denken, flöte sie in ihrer Nummer launig: "Am meisten enttäuscht es von den Juden, da haben wir immer gegen den Vorwurf gewettert, denen ginge es nur ums Geld, und jetzt plötzlich kommt raus, denen geht's wirklich nicht ums Geld, denen geht's um die Weiber, und deshalb brauchen sie das Geld."

Wie alle anderen Medien auch leidet die NZZ unter den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise, Anfang April musste der Verlag Kurzarbeitergeld beantragen. Aber wie kann das Unternehmen dann Dividenden ausschütten, fragt Johannes Ritter in der FAZ: "Bei den Mitarbeitern in der Redaktion in Zürich kommt das gar nicht gut an. 'Für unsere Zeitung ist das ein Armutszeugnis. Wir hätten darauf bestehen sollen, uns ohne Hilfen durchzuboxen', sagt ein Redakteur, der namentlich nicht genannt werden will. Der Journalist sieht die Glaubwürdigkeit des Blattes beschädigt: 'Wir können doch nicht gegen Staatsbeteiligungen und Subventionen wettern und dann selbst die Hand aufhalten.'"

In der taz unterhält sich Georg Sturm mit Chefredakteurin Ines Schwerdtner über den neuen deutschen Ableger des linken Jacobin Magazins, über Helden und Utopien: "Im Kern geht es um eine menschliche Gesellschaft. Alles was dagegen steht, müssen wir anprangern."
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Kulturpolitik

Auch in Frankreich leidet die Kultur unter den Ausgangbeschränkungen. In der taz meldet Rudolf Balmer die allfälligen Proteste prominenter KünstlerInnen, darunter die Filmstars Isabelle Adjani, Catherine Deneuve und Isabelle Huppert: "Wie so vieles in der Covid-Regierungspolitik bleibt es flou, wie die Kulturschaffenden bis zur eventuellen rentrée im Herbst überleben sollen."
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Urheberrecht

Der Prozess zwischen der Kultband Kraftwerk und dem Produzenten Moses Pelham geht nun seit bald zwanzig Jahren von Instanz zu Instanz und wurde jetzt nochmals vom Bundesgerichtshof an das Oberlandesgercht Hamburg zurückverwiesen. Pelham hatte für den Hit "Nur mir" von Sabrina Setlur ein paar Rhythmuspartikel aus dem Stück "Metall auf Metall" übernommen. Der Kraftwerk-Gründer Ralf Hütter hatte im Jahr 2004 zum ersten Mal dagegen geklagt. Der BGH verlangt nun von Samples, dass sie nicht wiedererkennbar sein sollen. Um weitere Detailfragen soll sich dann das OLG kümmern, berichtet Volker Briegleb bei heise.de: "Klagevertreter und Musikindustrie begrüßten das Urteil. Sie betonen, dass Sampling nur dann ohne Zustimmung des Urhebers erlaubt ist, wenn die übernommene Sequenz nicht mehr wiedererkennbar ist." Auch der Verband der Musikindustrie ist glücklich.

Hier das Original von Kraftwerk.



Und hier "Nur mir":

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